"KRÜPPELTUM" UND "EISERNER WILLE" - INVALIDITÄT UND POLITIK IM GROßEN KRIEG, 1914 - 18

Aus dem Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Heidelberg (Direktor: Prof. Dr. W. U. Eckart)

W. U. Eckart

Zusammenfassung:

Die Folgen des Ersten Weltkrieges waren hinsichtlich der Verwundeten und Kriegsversehrten schrecklich. Mehr als 2 Millionen entließ der Krieg als dauerhaft versehrte Soldaten. Die sozialen Probleme, die sich daraus für die Zeit des Krieges und für die Weimarer Republik ergaben, waren katastrophal.

Zugleich vollzog sich während des Krieges bereits eine starke Politisierung und Polarisierung der Kriegsversehrten. Das politische Ringen versuchte, die Kriegsversehrten einerseits der nationalkonservativen Richtung zu verpflichten; andererseits bemühte sich die Sozialdemokratie sehr früh, die „Kriegskrüppel“ auf ihre Seite zu bringen, den Staat als Verursacher in die Verantwortung zu nehmen und das Heer der Versehrten politisch für den neuen demokratischen Nachkriegsstaat zu positionieren. Es kam zu Demonstrationen und gewalttätigen Auseinandersetzungen.
Schlagworte: Bewegung der Kriegsversehrten; Politisierung der Kriegsversehrten; nationale und patriotische Bewegung der Kriegsversehrten; Kriegsversehrte als politische Kraft für eine Nachkriegsordnung; Demonstrationen und Unruhen der Kriegsversehrten 

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Summary

Consequences of World War I in terms of wounded and war invalids were horrendous. The war left more than 2 Mio permanently disabled in Germany alone resulting in disastrous social problems during the war and, subsequently, for the Weimar Republic. Simultaneously, a strong tendency to politicize and polarize the war disabled took place. The competing political powers tried to exploit the situation of the disabled; on the one side, the national conservative movement tried to commit the disabled to their political course, while, on the other side, the Social Democrats very early made every effort to get the “war cripples” to join their side, to hold the state accountable for this dilemma and to politically position the mass of handicapped for the new democratic postwar German state. The disabled persons were torn between these lines, and rivalries exploded even on the streets in mass demonstrations and riots.
Keywords: masses of disabled; political potential of disabled; nationalistic and patriotic movement of disabled; disabled as a political potential for post war revolution; demonstrations and riots of disabled on the streets

Einleitung

Der erste moderne Weltkrieg der Weltgeschichte, ein Maschinenkrieg ungeahnter Zerstörungsgewalt, der Körper und Seelen der Soldaten zerstörte, hinterließ mannigfaltige Bilder des Grauens. Am augenfälligsten war bereits während der ersten Kriegsmonate das Heer der Versehrten, der Blinden, der Amputierten, der Zerschmetterten und Entstellten, wie sie die Straßenbilder aller Kriegsparteien nur allzu bald beherrschten. Manche blieben indessen auch der Öffentlichkeit zunächst verborgen [1]. Was der engagierte sozialdemokratische Redakteur Erich Kuttner (Abb. 1) nach Streifzügen durch Berliner Lazarette den sozialdemokratischen Genossen am Mittwoch des 8. September 1920 im Vorwärts an Lesestoff zumutete, war schon damals wenig erbaulich und lässt noch heute erschaudern:

„In das kleine Geschäftszimmer tritt ein Mann, der quer über die Mitte des Gesichts eine Binde trägt. Er nimmt sie ab und ich starre in ein kreisförmiges Loch von der Größe eines Handtellers, das von der Nasenwurzel bis zum Unterkiefer reicht. Das rechte Auge ist zerstört, das linke halb geschlossen. Während ich mit dem Mann rede, sehe ich das ganze Innere seiner Mundhöhle offen vor mir liegen (...) wie bei einem anatomischen Präparat. Einstweilen hat er seine achtzehnte Operation überstanden“ [2].

Kuttner, Begründer der deutschen Kriegshinterbliebenenfürsorge, ist auf einen der gesichtslosen Kriegsversehrten getroffen, von denen viele so entsetzlich verstümmelt sind, dass sie sich wie vom Aussatz gezeichnet nicht mehr nach Hause trauen und selbst Spiegel in den Lazaretten panisch meiden. Um diese Menschen, schreibt Kuttner, macht selbst der „patentierte Patriotismus einen weiten Bogen“. Er hat sie „vergessen, denn sie stören ihn“ [2]. Doch das Verdrängen misslang. Die heimischen Straßen der Kriegs- und Nachkriegszeit sprachen ihre eigene deutliche Sprache. Und es gab Pazifisten, die sich dem Vergessen entgegenstellten. Der Junganarchist Ernst Friedrich hat mit seinem erschütternden Bilderalbum über die Grausamkeit des 1. Weltkrieges „Krieg dem Kriege“ (1924) der Öffentlichkeit die verstümmelnde ›Fratze‹ des erlittenen Krieges mit der monströsen Gesichtslosigkeit der Fazialverletzten in brutaler Anschaulichkeit nahe gebracht und damit den Zynismus Hindenburgs („Der Krieg bekommt mir wie eine Badekur“) konterkariert [3]. Die Frontsoldaten badeten in Blut und verloren Gesichter und Gliedmaßen. Anfang 1915, noch vor den unvorstellbaren Materialschlachten im Westen, schätzte der Orthopäde Konrad Biesalski die Zahl der bereits verstümmelten deutschen Soldaten auf etwa 30 000. Am Ende des Krieges sollten es Hunderttausende sein.

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Die Reaktionen auf ihr Erscheinen in der Heimat waren so unterschiedlich wie die körperlichen Entstellungen durch den Krieg, die sich der Öffentlichkeit ungeschminkt präsentierten: Ein enormer Aufschwung in der orthopädischen Prothetik (Sauerbruchhand und Sauerbrucharm) und in der plastischen Chirurgie sowie das – halbherzige – Bemühen um die soziale Absicherung der „Kriegskrüppel“ und ihrer Familien stand auf der einen, die Sorge um die Beseitigung der hässlichen Erscheinungen aus den Weichbildern der Städte und Seelen, die „Entkrüppelung aller Gebrechlichen“ auf der anderen Seite. „Eiserner Wille“, so konnte man in den offiziellen Verlautbarungen lesen, müsse die „Kriegszermalmten“ dahin bringen, die Behinderungen ihrer Bewegungsfreiheiten zu bekämpfen und zu beseitigen, eiserner Glaube an die Macht des medizinisch-technischen Fortschritts ihre Seelen und die ihres Publikums zu läutern, den inhumanen Krieg aus der Vogelperspektive zu humanisieren; diesem Zweck war auch die größtmögliche Verharmlosung der Kriegsverkrüppelung in der Presse gewidmet, wie sie etwa durch Abbildung behinderter Sportler, mähender Landarbeiter oder präzis produzierender armamputierter Feinmechaniker vor Augen geführt werden sollte. Einer schnellen Reintegration in die Arbeitswelt schließlich, der „Verstreuung unter die Masse des schaffenden Volkes, als wenn nichts geschehen wäre“, dienten Versehrtenrenten in der Nähe oder unterhalb des Existenzminimums, die brutale Aufforderung zur Leistungssteigerung, die Mahnung vor der Verhätschelung der Zermalmten selbst durch die eigene Ehefrau, die hysterische Jagd auf vermeintliche Rentenbetrüger, die den sozialpolitischen Diskurs während der Weimarer Republik vergiften würde.

Bilanz der Körperzerstörung 

Die Bilanz des Ersten Weltkrieges war bedrückend. So bezifferte der Sanitätsbericht über das Deutsche Heer 1934 die Anzahl der durch Verwundung, Unfall, Selbstmord und Krankheit zwischen dem 2. August 1914 und dem 31. Juli 1918 verstorbenen Soldaten auf 1 202 042; dieser Zahl stand für den gleichen Berichtszeitraum die der insgesamt 702 778 aus dem Heer als „dienstunbrauchbar“ Entlassenen (503.713 mit, 199 065 ohne Versorgung) gegenüber. Von der Gesamtzahl der „Dienstunbrauchbaren“ mit Versorgung wiederum waren 89 760 als „Verstümmelte“ mit Ansprüchen auf eine „Verstümmelungszulage“ anerkannt. Zu jener Gruppe gehörte der überwiegende Teil der schwer- und schwerstbeschädigten Kriegsinvaliden der Nachkriegszeit (Abb. 2). Es gibt gute Gründe, diese offiziellen Zahlen als geschönt anzuzweifeln. Andere Hochrechnungen gehen von etwa 2,7 Millionen dauernd kriegsbeschädigter Soldaten aus, was etwa 11 % der insgesamt 24,3 Millionen verletzter und schwerverletzter Soldaten entsprechen würde. Hinzu traten etwa 533 000 versorgungspflichtige Kriegswitwen und etwa 1,2 Millionen Kriegswaisen. Entstanden war so aus dem Krieg ein unermessliches Elend und Leid weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinaus, das die soziale Landschaft der Weimarer Republik hindurch bis in die NS-Diktatur prägen sollte. Bereits in den ersten Kriegsmonaten hatte sich abgezeichnet, mit welch hohen Invalidenzahlen bei einer Fortdauer des Krieges zu rechnen sein würde.
Der Krieg hatte auch hinsichtlich Verwundung und Überleben sein Gesicht gewandelt. Einerseits steigerten die höhere Durchschlagskraft und der vermehrte Einsatz von Explosivgeschossen die Zahl der Verwundeten ins bis dahin Unvorstellbare, andererseits überlebten aufgrund verbesserter und aseptischer Wundbehandlung weit mehr Verwundete. 1870/71 waren noch 80 - 90 % aller „Schußbrüche“ verstorben, nun überlebten viele der so verletzten Soldaten und wurden zu „Krüppeln“ bzw. „Kriegsinvaliden“ (seit Mai 1915 in Preußen offizieller Begriff) oder „Kriegsbeschädigten“. Die sozial-karitative Mobilmachung kam zunächst nur schleppend in Gang. Im November 1914 standen erst 2 357 zusätzliche Betten in „Krüppelheimen“ für die Nachbehandlung Schwerverwundeter zur Verfügung. Mit dem Ersatz des Begriffs „Krüppel“, der in der Nachkriegszeit ungebrochen wieder auflebte, glaubte man, einen verächtlichen Beigeschmack der Kriegsinvalidität zu beseitigen. Andererseits sollte, um „Rentenpsychosen“ zu vermeiden, das sogenannte Krüppeltum durch „eisernen Willen“ und eine unnachgiebige Disziplinierung des Kriegsbeschädigten unter Beibehaltung des Soldatenstandes bis unmittelbar vor Vermittlung an eine neue Arbeitsstelle überwunden werden [4]. 

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Krüppelfürsorge und Kriegsorthopädie

Einer schnellen Reintegration in die Arbeitswelt schließlich, dachte man, würden Versehrtenrenten in der Nähe oder unterhalb des Existenzminimums dienen (Abb 3). Zudem sollte die herzlose Aufforderung zur Leistungssteigerung sowie zur Geringschätzung oder Nichtbeachtung der Kriegsverletzung auch durch die eigene Ehefrau erfolgen. Medizinische Wissenschaft und medizinische Technik reagierten schnell auf die Bedürfnisse des Krieges und besonders auf die der zahllosen Schwerstbeschädigungen. Die orthopädische Prothetik vervollkommnete die Technik des künstlichen Gliederersatzes bis zur Perfektion, schuf „Schmuck“- und „Ersatzarme“ mit berufsbezogenen „Arbeitsansätzen“ (Zangen-, Haken-, Messer-, Bürsten-, Nähnadel- , Bügeleisenhalter etc.), wenig ästhetisch, aber außerordentlich praktisch. Ein abstruses Panoptikum der Ersatzgliedertechnik entfaltete sich. Herausragend war die Beinprothetik, deren Perfektion von den harten Erfordernissen des Krieges erheblich profitiert hatte. Ferdinand Sauerbruch, Oberstabsarzt und Beratender Chirurg des XV. Armeekorps, entwickelte seine „kinematischen Prothesen“ (Sauerbruch-Hand/-Arm). Gesichts- und Kieferchirurgen nahmen sich der Gesichtsdeformierten an, um die sich während des Krieges und noch lange danach geheimnisvolle Mythen rankten. Und die Neurologen entdeckten im Krieg die sprach- und wortverständnisaktiven Hirnareale der Kopfschussverletzten (Aphasieforschung). Dabei war die Ausgangssituation am Vorabend des Großen Krieges hinsichtlich der „Krüppelfrage“ alles in allem ermutigend gewesen. Bereits Jahre vor dem Kriegsausbruch war es dem Berliner Orthopäden Konrad Biesalski zusammen mit dem preußischen Medizinalbeamten Eduard Dietrich (1860 - 1947) gelungen, das Problem der Krüppelfürsorge ins öffentliche Interesse zu rücken und damit einen bedeutenden Beitrag zur Entstigmatisierung angeborener oder erworbener körperlicher Entfaltungsbeeinträchtigung zu leisten. Hier war ganz offensichtlich einem bedeutsamen Feld staatlicher Sozialpolitik und Fürsorgeintervention Rechnung zu tragen.

Der Ausbruch des Krieges unterbrach diese Entwicklung nicht wirklich, aber er zwang doch, zunächst militärische Prioritäten zu setzen. Initiativ im Sinne der Kriegskrüppelfürsorge wurde wieder Biesalski, dem es geschickt gelang, die Kaiserin hier zu engagieren. Ziel der orthopädischen Einrichtungen im Krieg war von vornherein nicht nur die medizinische Weiterversorgung der Kriegsverletzten, sondern deren baldige Wiedereingliederung in den Erwerbsprozess. Drohte doch ein unzufriedenes oder gar hoffnungsloses und verbittertes Heer politisch durchaus agitationsfähiger Kriegsversehrter zum potentiellen Unruheherd zu werden, falls hier nicht schnell interveniert würde. Männer, die dem Staat nicht nur gedient, sondern ihm Gliedmaße und Körperfunktionen, einen Teil ihrer physischen Existenz also, geopfert hatten, erwarteten im Gegenzug auch die besondere Fürsorge des Staates. Biesalski indes wollte noch mehr. Für ihn ging es um die Abschaffung des Krüppeltums schlechthin und ganz unabhängig davon, ob nun Krieg oder Frieden herrsche. Seine neue sozialintegrative Botschaft lautete 1915: „Es gibt kein Krüppeltum, wenn der eiserne Wille vorhanden ist, es zu überwinden!“ [5]

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Zur Erreichung dieses Zieles, das für Biesalski vor allem ein aufklärerisches war, wurden alle Register der emotionalen Werberhetorik gezogen. Dem nach der schweren Kriegsverwundung zu erwartenden „schweren Herzeleid“ in einem „harten Schicksal“ setzte der Orthopäde die Aufforderung an den Versehrten entgegen, statt über den Verlust der Gliedmaßen und der daraus erwachsenden Beeinträchtigung der körperlichen Funktionen zu trauern, solchem Schicksal mit Mut, Selbstvertrauen und auch „Härte“ gegen die eigene Wehmut zu begegnen und nicht nur Hilfe von außen zu erwarten, sondern die Kraft zur Selbsthilfe aufzubringen und die aus dem Schicksal der Verwundung erwachsenden Probleme eher in Askese als jammernd zu ertragen. Bemerkenswert ist dabei, wie es Biesalski zu diesem Zwecke auch gelang, zwar die Melodie zeitläufiger lyrischer Patriotik des „heiligen Krieges“ aufzugreifen, zugleich aber nicht in all zu platte Patriotismen zu verfallen.
Biesalskis „Kriegskrüppel“-Propaganda war außerordentlich erfolgreich, wenngleich sich die von ihm propagierte Bezeichnung „Kriegskrüppel“ nicht durchsetzte und in der Presse zunehmend durch das mildere Wort „Kriegsbeschädigter“ oder „Kriegsversehrter“ abgelöst wurde. Andererseits gelang Biesalski eine doch beachtliche sozialkaritative Mobilmachung, die neben staatlichen Fürsorgemitteln – 10 Millionen bis September 1918 – auch erhebliche private Spenden aufzubringen helfen sollte (Abb. 4). Man muss sich allerdings auch fragen, ob nicht die Notwendigkeit des hochtechnisierten, körperzerfleischenden Stellungskrieges im Westen selbst vergleichbare kriegschirurgische, orthopädische und sozialfürsorgerische Anstrengungen zumindest in Gang gebracht hätten [6].

Selbstorganisation der Kriegsbeschädigten

Bereits während des Krieges wurde der politische Einfluss des anwachsenden Heeres Kriegsbeschädigter zu einem bedrohlichen Phänomen. Ihnen galt keineswegs nur der vielbeschworene „Dank des Vaterlandes“, vielmehr richtete sich die Aufmerksamkeit der Herrschenden angesichts anschwellender Proteste und Streiks der Zivilgesellschaft gegen die dramatisch drückende Last des Krieges spätestens seit 1917 zunehmend auf vermeintlich „subversive Elemente“ unter den Kriegsbeschädigten. Während die Gefallenen schwiegen, schien sich hier ein lautstarkes Potential politischer Bedrohlichkeit zu entwickeln, das zu Sorgen veranlasste. Und solche Sorgen waren durchaus berechtigt, denn mit Ausnahme der Hirnverletzten und seelisch Schwersttraumatisierten, behinderten Amputation, Blind- oder Taubheit keineswegs die politische Agitationskraft der Kriegsbeschädigten. Hinzu kam, dass die überwiegende Zahl der Kriegsbeschädigten im Zivilleben Arbeiter gewesen waren, die – meist sozialdemokratisch orientiert – den Gewerkschaftskampf für ihre Interessen und gegen ihre Arbeitgeber kannten. Sie hatten nicht nur Kriegsdienst geleistet, sondern mit ihren beschädigten Körpern dem zunehmend suspekten bis verhassten staatlichen Arbeitgeber im Krieg auch physische Opfer gebracht. Ihre Beschädigungen aber symbolisierten nicht nur ein ideales Opfer durch den Dienst, sondern sie offenbarten manifeste Opfer in körperlicher, in seelischer und in materieller Hinsicht. Wirtschaftliche Not, körperliche Beschädigung, seelische Traumatisierung und der Vertrauensverlust in einen Staat, der seinen Versorgungspflichten nicht in dem zu erwartenden Maße nachkommen konnte, bildeten ein explosives Gemisch, das bald als ernstzunehmende Gefahr gedeutet wurde.

Essener Verband

Immerhin war aber ganz offensichtlich: Die wirtschaftliche Kraft und die mit ihr verbundene soziale Sicherung des Kriegsversehrten wiederherzustellen konnte nicht nur eine ärztliche Aufgabe sein; sie war daneben hochpolitisch. Tatsächlich war in aller Stille die Gründung des Verbandes wirtschaftlicher Vereinigungen Kriegsbeschädigter für das Deutsche Reich (Essener Verband) von langer Hand vorbereitet worden, und so überraschte die Einladung zur ersten Verbandssitzung vom 7. bis 9. April 1917 in den Städtischen Saalbau nach Essen nicht sonderlich. Doch galt das vorgegebene Fürsorgeinteresse des fraglos nationalkonservativ ausgerichteten Verbandes, auf dessen Emblem ein Frontsoldat mit Stahlhelm abgebildet war, tatsächlich uneingeschränkt allen Kriegsbeschädigten? Die kämpferische Rede zur Gründung des Verbandes, gehalten von dessen erstem Vorsitzenden, dem Krupp-Angestellten Hans Adorf (Abb. 5), ließ dies vermuten. In ihr wurde hochpathetisch und mit dem Charisma des selbsternannten Führers die Interessengemeinschaft aller Kriegsbeschädigten im Sinne des Frontkämpfergeistes beschworen:

„Schließt Euch alle in treuer Kameradschaft zusammen, wie wir es in der Front getan, es gilt das große Werk. Reicht mir alle im Geiste die Bruderhand und laßt uns gemeinsam einige Augenblicke bei unseren gefallenen Kameraden verweilen und dabei geloben: Vertrauen um Vertrauen, Treue um Treue, Getreu bis in den Tod. Das walte Gott! Deutsche Männer!“[7] 

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Aber so einheitlich, wie der Verbandsvorsitzende Hans Adorf die „Front der Kriegsbeschädigten“ vor den im Essener Saalbau bei Bier und Zigarrenqualm versammelten Gründungsmitgliedern imaginierte, war diese Front ohne wirklichen Gegner tatsächlich nicht. So konnte das ehrgeizige Ziel, in kurzer Zeit eine nationalistische Massenorganisation aller deutschen Kriegsbeschädigten zu schaffen, das Adorf nicht zuletzt durch diktatorisch- straffe Führung seiner Organisation anstrebte, jedoch nicht erreicht werden. Innerhalb von nur zwei Jahren lautstarker aber im Grunde wirkungsloser Existenz war der Essener Verband aus dem politischen Leben der Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft verschwunden.

Bund der Kriegsteilnehmer und Kriegsbeschädigten 

Wesentlich erfolgreicher und politisch nachhaltiger entfaltete sich die Arbeit der im Mai 1917 zunächst als Bund der Kriegsteilnehmer und Kriegsbeschädigten in Berlin gegründeten und 1919 in Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Hinterbliebenen umbenannten Kriegsbeschädigten-Organisation, die zwar offiziell parteipolitisch neutral und auch religiös nicht gebunden sein sollte, de facto aber von Anfang an in enger Verbindung zur Sozialdemokratie stand. Gründungsvater war der am 2. April 1916 vor Verdun schwer verwundete Jurist und Journalist Erich Kuttner (ermordet 1942 im KZ Mauthausen), der seit 1916 als Redakteur des sozialdemokratischen Vorwärts wirkte. Kuttners seit Sommer 1916 verfolgtes politisches Ziel war es, die Masse der Kriegsbeschädigten dem monarchistisch- nationalistischen Einfluss des Essener Verbandes zu entziehen und ihnen mit dem Reichsbund eine Alternative zu bieten, die auf Erfahrungen aus der Arbeiterbewegung fußte. Hinsichtlich der besonderen Stellung der Kriegsbeschädigten ging es ihm vor allem um deren Neuberechtung im Staat. Wenn sie schon für diesen Staat ihre Körper im Krieg geopfert hatten, dann sollten sie nicht länger Almosenempfänger und politisch Benachteiligte bleiben. Partizipation sollte an die Stelle von Subordination treten. Die Resonanz auf die Gründung war erheblich. Ende 1917 konnte der Bund schon auf mehr als 8000 Mitglieder verweisen. Bereits im Frühjahr 1918 verfügte man reichsweit über 200 Lokalvereine und an die 25 000 Mitglieder. Ihre Zahl sollte bis 1922 bereits 830 000 übersteigen [8].
Den Militärbehörden war die zunehmende Politisierung des Versehrtenbundes mehr als ein Dorn im Auge, zumal der linke Versehrtenbund die rechtskonservative Ordnung störte. Hinzu kam, dass auf einer Berliner Versammlung des Bundes Stimmen laut geworden waren, die einen Verständigungsfrieden forderten. So kam es am 7. Januar 1918 nach Protesten von Bundesmitgliedern gegen militaristische Parolen auf einer Versammlung der „Vaterlandspartei“ am Berliner Alexanderplatz zu gewalttätigen Handgreiflichkeiten gegen die Invaliden, die zudem als „Drückeberger“ und „Deserteure“ provoziert wurden, die der kämpfenden Truppe in den Rücken fielen. Das Handgemenge mit Fausthieben eskalierte schließlich zur Straßenschlacht und rief die Polizei auf den Plan, die mit ihren Gummiknüppeln wohl offensichtlich überwiegend Versehrtenrücken traf, während sich die Vaterlandsparteigänger schneller aus dem Staub machen konnten. Als Kuttner, nachdem eine Protestkundgebung des Bundes am 13. Januar verboten worden war, an die 300 Versehrte dazu bewegen konnte, aus Abscheu gegen die ungestrafte und rohe Misshandlung von Kriegsbeschädigten ihre Eisernen Kreuze an Großadmiral von Tirpitz zurückzuschicken, war das Maß voll. Kuttner wurde im Januar 1918 vom Oberbefehlshaber der Marken, Generaloberst Gustav von Kessel, auf der Grundlage des „Gesetzes über den Belagerungszustand“ (vom 4. Juni 1851, sic!) die Leitung des Bundes untersagt, worauf Kuttner nichts anderes übrig blieb, als den Vorsitz des Bundes niederzulegen. Den Reichsbund konnten solche konservativen Nadelstiche allerdings nicht mehr gefährden. Zu Ostern 1918 fand in Weimar ein erster Bundestag statt, auf dem das sozialpolitische Programm des Reichsbundes für eine umfassende Reform der Kriegsbeschädigtenvorsorge und -fürsorge verabschiedet wurde [9].
Im Einzelnen erstreckten sich die Forderungen insbesondere auf die wirtschaftliche Sicherstellung der Kriegsbeschädigten und deren reichsgesetzliche Regelung. Hierzu gehörte für „die aus dem Heeresverband entlassenen Soldaten“ auch der „Anspruch auf freie ärztliche Versorgung durch die allgemeine Orts- und Landeskrankenkasse ihres Wohnortes“ und für die ohne Versorgungsansprüche „wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen Entlassenen“ eine Versorgung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über deren Rentenansprüche. Verbunden waren die Forderungen Rudolf Wissels mit der unmissverständlichen Drohung an die politische Rechte, die meinungsbildende Macht der Betroffenen nicht zu unterschätzen:

„Noch sind es die Forderungen derer, die im Sturm und Feuer gestanden haben, unbeschadet ihrer sonstigen politischen Parteistellung. Und die Zahl dieser geht in die Millionen. Sie bilden schon ihrer Zahl wegen eine Macht und wenn diese sich geltend macht, hat sie auch die öffentliche Meinung für sich. Die wird eine unbefriedigende Lösung der hier in Betracht kommenden Fragen nicht ruhig hinnehmen“. [10] 

Das im März 1918 ausformulierte Programm des Reichsbundes entsprach damit auch weitestgehend den politischen Zielsetzungen, wie sie Erich Kuttner bereits Anfang 1918 in seiner politischen Analyse des Problems „Die Kriegsbeschädigten und der Staat“ formuliert hatte. Aus der Kriegsbeschädigung erwachse dem Staate eine besondere Verpflichtung gegenüber dem Verwundeten und insbesondere dem dauerhaft unter Verwundung leidenden Kriegsbeschädigten. „Der bettelnde und drehorgelspielende Kriegsbeschädigte“, nach 1870/71 durchaus keine Seltenheit im Straßenbild, so Kuttners Schlussappell, sei „ein Schandfleck auf dem Ehrenschild der Nation“. Eine ebensolche Schande sei aber auch der arme in seiner Erwerbstätigkeit eingeschränkte „Kriegsbeschädigte, der bei der Wahl in der letzten Wählerklasse weit hinter dem Kriegsgewinnler und Kriegswucherer“ antrete. „Wem die Ehre des deutschen Volkes am Herzen“ liege, der „sorge mit dafür, daß den Kriegsbeschädigten ihr volles Recht im Staate zuteil“ werde [11].
Zu machtvollen Großdemonstrationen des Reichsbundes, wie sie sich in das Bild der demonstrierenden Reichshauptstadt besonders im letzten Kriegsjahr gut gefügt hätten, kam es indessen vor der Revolution nicht mehr. Eine solche Demonstration fand erst am 22. Dezember 1918 in Berlin statt, als sich nach einer Kundgebung des Reichsbundes im Zirkus Busch ein eher bizarr als machtvoll wirkender Demonstrationszug zehntausender Kriegsbeschädigter auf den Straßen Berlins in Richtung Kriegsministerium formierte. Erich Maria Remarque hat diesen einen oder einen ähnlichen Demonstrationszug in seinem Roman „Der Weg zurück“ 1931 festgehalten wie einen gespenstischen Totentanz, gegliedert allerdings nicht nach Standeszugehörigkeit, sondern nach der Art der Kriegsbeschädigung:

„Langsam kommt ein Zug Menschen heran in den verblichenen Uniformen der Front. Er ist gruppenweise formiert, immer zu vieren nebeneinander. Große weiße Schilder werden vorangetragen: „Wo bleibt der Dank des Vaterlandes?“ – „Die Kriegskrüppel hungern.“ Es sind Einarmige, die diese Schilder tragen. Sie schauen oft um, ob der Zug auch richtig hinter ihnen her kommt. Denn sie sind die schnellsten. Ihnen folgen Leute mit Schäferhunden an kurzen Lederriemen. Die Tiere tragen das rote Blindenkreuz auf dem Geschirr. [… ]. Hinter den Blinden kommen die Einäugigen, die zerfetzten Gesichter der Kopfverletzten […]. Ihnen folgen die langen Reihen der Beinamputierten […]. Dann kommen die Schüttler. Ihre Hände, ihre Köpfe, ihre Anzüge, ihre Körper beben, als zitterten sie immer noch vor Grauen. […] Zwischen ihnen ziehen einige einen flachen Handwagen […]. Darauf sitzt ein Rumpf. Die Beine fehlen vollständig. Es ist der Oberkörper eines kräftigen Mannes, sonst nichts. […] Der Zug zieht langsam durch die Straßen. Wo er vorbeikommt, wird es still“ [12]. 

Tatsächlich sollte dem sozialdemokratisch geprägten Reichsbund die größte politische Nachhaltigkeit beschieden sein, während den kleineren, aber radikaleren Gründungen aus dem rechten wie aus dem linken politischen Spektrum weder größere Bedeutung noch politische Langlebigkeit zukam.

Fazit 

Angesichts der gewaltigen Problematik, mit der die Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenversorgung durch die unerwartet große Zahl der Invaliden, Witwen und Waisen bereits 1915/16 konfrontiert wurde, erwies sich die Gesetzeslage der Vorkriegszeit bald als ungenügend. Eine geordnete staatliche Fürsorge für den Kriegsfall mit dem Ziel einer beruflichen Wiedereingliederung der Kriegsinvaliden existierte im Grunde nicht. Stattdessen verwirrte die Vielfalt privater und kommunaler Hilfsangebote mit geringer Effektivität und oft umstrittener Seriosität. Eine differenziertere gesetzliche Regelung der Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge entwickelte sich erst in den Jahren der Weimarer Republik. So differenziert allerdings, wie sie sich darstellte, so problematisch waren ihre Regelungen im Einzelnen. Die Jagd nach „Rentenneurotikern“ und „Rentenbetrügern“ vor allem aus den Reihen der „Kriegszitterer“ und anderer Kriegsneurotiker, die das sozialpolitische Klima der Zwischenkriegszeit verbitterte, war allgegenwärtig.

Literatur

  1. Vgl. hierzu Eckart WU: Medizin und Krieg: Deutschland, 1914- 1924. Paderborn: Schöning, 2014; bes. 301-318. Osten P: Die Modellanstalt – Über den Aufbau einer »modernen Krüppelfürsorge« 1905-1933. Frankfurt/Main: Mabuse-Verlag 2012; 320-321. Whalen RW: Bitter Wounds. German Victims of the Great War, 1914- 1939. Ithaca/London: Cornell University Press 1984.
  2. Kuttner E: Vergessen! Die Kriegszermalmten in Berliner Lazaretten. In: Vorwärts, 8.9.1920; hier zit. aus Ulrich B: ›... als wenn nichts geschehen wäre‹. Anmerkungen zur Behandlung der Kriegsopfer während des Ersten Weltkriegs. In: Hirschfeld G und Krumeich G (Hrsg.): Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch ... Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs. Essen: Klartext-Verlag 1993 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, NF 1); 115-129, hier 117.
  3. Vgl. zu Hindenburg Pyta W: Hindenburg – Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler. München: Siedler 2007; zum berüchtigten Zitat Hindenburgs: vgl. Böttcher K, Berger KH, Krolop K und Zimmermann C (Hrsg.): Geflügelte Worte. Leipzig: Bibliographisches Institut 1981; 601.
  4. Vgl. Eckart WU: Invalidität. In: Hirschfeld G, Krumeich G, Renz I (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. 2. Aufl. Paderborn: Schöningh 2004; 584-586.
  5. Biesalski K (Hg.): Kriegskrüppelfürsorge – Ein Aufklärungswort zum Troste und zur Mahnung im Auftrage der Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge und der Deutschen orthopädischen Gesellschaft. Leipzig – Hamburg: Verlag Leopold Voss 1915; 4; hier zit. Thomann K-D: Die medizinische und soziale Fürsorge für die Kriegsversehrten in der ersten Phase des Krieges 1914/15. In: Eckart WU, Gradmann C (Hrsg.): Die Medizin und der Erste Weltkrieg. 2. Aufl. Herbolzheim: Centaurus-Verlag 2003; 183-196, hier 190.
  6. Eckart: Medizin und Krieg (2014); 306.
  7. Adorf H: An meine kriegsbeschädigten Kameraden! In: Der Kriegsbeschädigte 1917; 3 (1), 5. Mai 1917; 2-5, 4.
  8. Eckart: Medizin und Krieg (2014); 312.
  9. Ebenda; 312-314.
  10. Wissel R: Die Forderungen der Kriegsteilnehmer und der Kriegsbeschädigten. Berlin 1918 (= Schriften des Reichsbundes der Kriegsbeschädigten und ehemaligen Kriegsteilnehmer, Nr. 9); 5.
  11. Kuttner E: Die Kriegsbeschädigten und der Staat. Berlin: Verl. f. Sozialwiss. 1918; 16.
  12. Remarque EM: Der Weg zurück [1931]. Frankfurt/Berlin/Wien 1984; 147-149; vgl. auch Whalen: Bitter Wounds (1984); 125.

Bildquellen: Abb. 1 - 5: Bildarchiv Eckart

 

Abb. 1: Erich Kuttner (1887 - 1942)

Abb. 2: Rotkreuzschwester füttert Kriegsversehrten auf Transportpause

Abb. 3: Kriegsversehrte bei der Gartenarbeit, ca. 1917 oder 1918

Abb. 4: Ludendorff-Spende für Kriegsbeschädigte, Postkarte 1918

Abb. 5: Hans Adorf, ca. 1917

Datum: 04.09.2014

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