Schon seit Anbeginn der Zeit strebt der Mensch nach Erkenntnis und ist von dem Wunsch beseelt, den Goethes Faust in den Worten ausspricht: „Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“. Angelehnt an dieses Zitat soll es im vorliegenden Beitrag um wesentliche Aspekte des inneren Zusammenhalts (kurz: Kohäsion) der Bundeswehr und des Sanitätsdienstes wie Werte, Sinn, Vertrauen, Kameradschaft und Menschlichkeit gehen. Denn die weltweiten Krisen der Gegenwart lassen sich – trotz aller Herausforderungen – auch als Chance begreifen, diese Kohäsion nachhaltig zu stärken. Fragen, die heute für die Bundeswehr mit am meisten zählen, betreffen – neben Struktur, Personal, Fähigkeitsprofilen, Ausstattung, Ausrüstung, Einsatz- und Kaltstartfähigkeit sowie Finanzen – unsere soldatische Gemeinschaft, den Wertekanon und den gemeinsamen Fokus.
Unsere Welt ist derzeit gekennzeichnet durch sicherheitspolitische Umbrüche, Instabilität und Komplexität. Menschenrechte, Demokratie und Freiheit sind keine Selbstverständlichkeit mehr und sind bedroht. Und wir leben in einer Zeit schwindender Bindungen in der Gesellschaft. Gerade in den letzten Jahren ist die Distanz zwischen den Menschen – trotz Digitalisierung, Globalisierung und Vernetzung – größer und fühlbarer geworden. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie (Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln) haben diese Distanz zusätzlich vergrößert. Insgesamt wird die Gegenwart von vielen Menschen als bedrohlich erlebt, die durch Gefühle der Verunsicherung, Hilflosigkeit und Zukunftsangst spürbar ist.
Wir leben in einer Meta-Welt, in der viele – insbesondere auch jüngere – Menschen auf die neuesten Technologien fixiert sind. Das Leben spielt sich vielfach vor dem Computerbildschirm ab, persönliche Bindungen pflegt man zunehmend virtuell. Ein solches Verhalten fördert Abgrenzung und Rückzug und eine Mentalität, die die Erfahrung von Verbundenheit verhindert. Darüber hinaus ignoriert eben diese Haltung emotionale Bindungen und Vertrauen, die unsere Fähigkeit fördert, Ängste zu bewältigen und gleichzeitig Herausforderungen gemeinsam zu meistern und dabei unser Bestes zu geben.
Unsere SoldatInnen fühlen sich unserem Land, der Bundeswehr und dem Sanitätsdienst besonders zugehörig und verbunden. Wenn sie ein authentisches „Wir-Gefühl“ empfinden, steigert dies die Akzeptanz und Anerkennung auch in der Gesellschaft. Authentizität, Verlässlichkeit und Vertrauen bilden den Kern von Verbundenheit. Verbundenheit heißt, einen Weg gemeinsam zu gehen, miteinander zu handeln, an einem Strang ziehen, entschlossen und robust, solide und kraftvoll, ehrenhaft und stolz. Sie stärkt von innen und gibt Halt. Auch dann, wenn die Leichtigkeit einmal abhandengekommen ist. Belegt wird dies durch neueste neurobiologische Studien, die zeigen, dass unsere Motivationssysteme eben nicht von einer „Ich-Mentalität“, sondern von einem „Wir-Gefühl“ angetrieben werden.
In Zeiten wie diesen braucht es Kohäsion und das „Wir-Gefühl“ mehr denn je, denn gemeinsam erreichen wir mehr erreichen als allein. Das Motto des I. Deutsch-Niederländischen Corps „Communitate valemus“ (gemeinsam sind wir stark) kann dabei als Richtschnur dienen. Grundgedanke des Soldatenberufs ist nicht der Individualismus, sondern der Gemeinschaftsgedanke. Nebeneinander und miteinander sind wir stark. Eine starke Gemeinschaft zeigt sich dabei nicht dadurch, dass sie ausgerufen, angewiesen oder befohlen wird, sondern dadurch, dass man sie (vor-)lebt und atmet. Verbundenheit und innerer Zusammenhalt kann dabei leise, dezent und hintergründig spürbar werden. Manchmal verdient sie allerdings auch ein Ausrufezeichen der Nähe und Dankbarkeit.
Gemeinsamer Wertekompass
Unsere SoldatInnen sind StaatsbürgerInnen in Uniform. Damit sind individuelle Rechte und Pflichten sowie Erwartungen des Staates und der Gesellschaft für und an sie verbunden. Sie haben der Bundesrepublik treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des Deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Das verlangt einen gemeinsamen Wertekompass, eine klare Haltung und starke Überzeugungen auf dem Fundament unseres Grundgesetzes.
Die Werte, die uns verbindet und für die wir als SoldatInnen in letzter Konsequenz mit der Waffe einstehen, sind beispielsweise Menschenwürde, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Glaubens-, Presse-, Meinungs- und Bildungsfreiheit sowie Demokratie.
Werte sind wie Wegweiser die aufzeigen, wofür unsere SoldatInnen ihre Energie und Zeit investieren. Indem sie der Bundesrepublik Deutschland und den durch sie verkörperten Werten dienen, diese bejahen und verinnerlichen, vermitteln und vorleben, verteidigen und für sie kämpfen, erfüllen sie sie mit Leben. Sie realisieren sich in Pflicht- und Auftragserfüllung, und beantworten die Frage „Was soll ich tun?“ und die Kernfrage des „Dienens wofür?“. Mit welchem Engagement setze ich mich ein, wie schütze und verteidige ich die oben genannten Werte. Denn schon Platon lehrte: „Wenn die Guten nicht kämpfen, siegen die Schlechten“. Und wie schaffe ich Gemeinschaft und stifte Vertrauen, wie vermittle und lebe ich Hilfsbereitschaft und Solidarität, letztlich, wie bestehe ich im Gefecht?
Gleichzeitig hilft das Handeln nach Wertvorstellungen sich in die soldatische Gemeinschaft national wie international zu integrieren. Sie tragen auch entscheidend zur Steigerung von Resilienz gegen negative Einflüsse in einer von sich rasch verändernden Lebenswirklichkeiten geprägten pluralistischen Gesellschaft und zur Erhöhung der persönlichen Einsatzfähigkeit und -bereitschaft unserer SoldatInnen bei.
Das Konzept der Inneren Führung ist das Leitbild für unsere Streitkräfte in der Demokratie. Sie verortet die SoldatInnen und Soldaten der Bundeswehr in der Mitte unserer Gesellschaft. Als StaatsbürgerInnen in Uniform sind sie den Werten und Normen des Grundgesetzes, dem Recht und ihrem Gewissen besonders verpflichtet. Die Innere Führung vermittelt das berufliche Selbstverständnis unserer SoldatInnen und gibt ihnen den moralischen Halt, um den besonderen Anforderungen, die der Beruf an sie stellt, gerecht zu werden. Das berufliche Selbstverständnis bringt den hohen Anspruch in drei Worten auf den Punkt: „Wir. Dienen. Deutschland.“
Sinn
Sinn ist nicht etwas Verborgenes, dass im Dienst zu finden oder zu entdecken ist, sondern etwas, das SoldatInnen selbst dem Dienst geben können. Sie können durch ihr Engagement und Wirken sowie ihre Einstellung zum Dienst, zum Leben, zu anderen Menschen und zur Welt, ihrem militärischen Dienst Sinn verleihen. Dabei geht es um die Fähigkeit und die Bereitschaft, selbst zum Gelingen von Gemeinschaft und einem guten Miteinander beizutragen. Schließlich trägt eine intakte soldatische Gemeinschaft nicht nur zu einem positiven Lebensgefühl und zu einem erfüllten Dasein bei, sie sorgt letztendlich auch dafür, dass SoldatInnen sich auch in ihrer Persönlichkeit weiter entwickeln können.
Verantwortung
Das emotionale und moralische Fundament für eine ganzheitliche, nicht nur nach- sondern auch vorsorgende Sicherheitspolitik ist von elementarer Bedeutung. Wesentlich ist dabei die Bereitschaft, die volle Verantwortung nicht für sich selbst, sondern für andere zu übernehmen. Diese Übernahme von Verantwortung ist jedoch nicht überall gegeben, und manche haben sich in Bequemlichkeit eingerichtet, in sicheren Gepflogenheiten, in erstickenden Gewohnheiten, in Alltag und Routine. Dabei bereichern und verwandeln gerade die Herausforderungen und Notwendigkeiten des Soldatenberufes die Welt. Wie oft konnte man beobachten, dass Menschen wenn man ihnen mehr Verantwortung überträgt daran wachsen. Letztlich drückt die Übertragung von Verantwortung Vertrauen aus. Eine verantwortungsvolle Aufgabe zu erledigen, erfüllt SoldatInnen auch mit Sinn. Seien wir mutiger in der Zuweisung von Verantwortung!
Vertrauen
Vertrauen ist die Ressource, die gerade in Krisenzeiten am meisten gebraucht wird. Sie ist die Basis von guter Führung, Kooperation und Weiterentwicklung. Sie ist ein geliehenes Gut, oft die beste Schutzwehr, eine Stille im Chaos. Vertrauen ist der größte Ansporn, unterstützt die Bedeutung an der Sache, die von innen kommende, die intrinsische Motivation. Vertrauen erweckt Vertrauen, man darf der sein „der man ist“. Nichts kann einen Menschen mehr stärken als das Vertrauen das man ihm entgegenbringt. Vertrauen in jemanden bringt das Beste in ihm ans Licht. Ohne Vertrauen gibt es keine Motivation, die dauerhaft und belastbar ist, und keine durch Toleranz geprägte Fehlerkultur.
Daher gilt es, Kräfte des Misstrauens zu besiegen und eine neue Urteilskraft des Vertrauens zu entwickeln. Vertrauen fordert also Zuwendung und Aufmerksamkeit sowie Glaubwürdigkeit, Wahrhaftigkeit, Berechenbarkeit und Gradlinigkeit. Und schließlich müssen wir umstellen von einer Normierungsmoral zu einer Moral des Gelingens.
Schließlich hat die Bundeswehr im Kontext mit der Inneren Führung Anspruch auf nationales und politisches Vertrauen. Sie dient bescheiden und unter Einsatz von Leben und Gesundheit ihrer SoldatInnen.
Menschlichkeit
In dem wir den Menschen nicht vergessen und immer in den Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns stellen, schaffen wir Menschlichkeit. Menschlichkeit heißt, sein gegenüber, die KameradInnen, so zu akzeptieren wie sie sind und die Entwicklung von Stärken zu fördern. Menschlichkeit heißt auch Fehlertoleranz und das Gespür für Höhen und Tiefen zu haben, Vorgesetzte und Untergebene sollten nur dort in hierarchischen Verhältnissen kommunizieren, wo dies zwingend erforderlich ist oder wo Unwillen dies notwendig macht. Sein Gegenüber als Mensch zu sehen und zu behandeln, fördert Vertrauen und Bindung. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr ist in besonderem Maße dem Auftrag „der Menschlichkeit verpflichtet“.
Kameradschaft
Gerade in unserer gegenwärtigen Welt, die Unsicherheiten und Ängste schafft, sehnen wir uns nach Beziehungen, nach Freundschaft und Kameradschaft. Denn nichts wiegt den Schatz so vieler gemeinsamer Erinnerungen auf, nichts das gemeinsame Erlebnis schöner oder schwerer Stunden und die Augenblicke, in denen das Herz warm wurde. So machen wir unter unseren Erinnerungen und Freundschaften oft nur diejenigen namhaft, die in unserem Leben zählen, die uns kein Vermögen der Welt je verschafft hätte und die sich auch nicht ersetzen lassen. Kameradschaft fordert nicht, sie schenkt. Kameradschaft heißt vergessen was man gab und in Erinnerung behalten was man empfing. Und wenn die Jahre wachsen erkennt man den Wert der Kameradschaft immer tiefer.
Kameradschaft ist eine soldatische Pflicht, aber auch das Notwendigste sowie das schönste Geschenk des Soldatenberufs. Kameradschaft ist das Verbindende in der soldatischen Gemeinschaft und es liegt großer Reichtum in ihr, sie ist wie Heimat, ist Glück. Sie vollzieht sich nicht nur horizontal sondern auch vertikal. Ihr eigentlicher Kern ist das gemeinsame Denken, Handeln und Hoffen. Kameradschaft schenkt Kraft, Inspiration und Zuversicht für jeden Tag. Sie gibt Halt und Energie und macht unser Leben rund. Sie kennzeichnet Aufgeschlossenheit und Offenheit untereinander, das Teilen von Freude und Leid, gibt Trost, bietet Rat und Hilfe. Sie macht das Trübe klar und das Gewöhnliche wundervoll. Das Schönste was Kameradschaft bietet, ist ehrlicher Dialog aber auch schweigende Gemeinsamkeit.
Kameradschaft basiert auf Vertrauen, Ehrlichkeit und Respekt. Sie schließt Achtung der Würde, der Ehre und der Rechte des Anderen ein. Einen treuen Kameraden an seiner Seite zu haben, das wiegt oft mehr als alles Unheil. Den wahren Kameraden erkennt man in der Not, denn in Not gilt der Kamerad oft als die einzige Zuflucht. In der Kameradschaft steht der Stärkere dem Schwächeren bei. Der wirkliche Kamerad ist der, der einen in schweren Stunden nicht im Stich lässt. So schreibt der preußische Generalfeldmarschall Helmut von Moltke: „Kameradschaft war es, wenn in unseren Feldzügen da, wo eine Abteilung in das Geschäft verwickelt wurde, von allen Seiten die übrigen Abteilungen zu Hilfe und Beistand herbeieilten. Solchen kameradschaftlichen Sinn verdanken wir wesentlich mit die guten Erfolge, die erzielt sind.“
Unsere SoldatInnen sind ein Team, sind Schicksalsgefährten. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Begriff „Gefährten“, wobei ein außerhalb unseres Ichs liegendes gemeinsames Ziel verbindet. Unsere SoldatInnen stehen gemeinsam ein „für eine gute Sache“. So lehrt die Erfahrung, dass Kameradschaft nicht darin besteht, dass man einander ansieht, sondern dass man gemeinsam in die gleiche Richtung blickt. Kameradschaft kennzeichnet daher Menschen, die in der gleichen Gruppe angeseilt denselben Gipfel entgegenstürmen um ihn gemeinsam zu erreichen.
Resümee und Ausblick
In der Diskussion über den Zustand der Bundeswehr scheint der Begriff der Kohäsion, der bis vor wenigen Jahren kaum Beachtung fand, mittlerweile unverzichtbar. Der Terminus bezieht sich auf (1) individuelle und kollektive Haltungen oder Einstellungen zu sich selbst und anderen, (2) individuellen und kollektiven Handlungen, (3) die Intensität und Reichweite von Beziehungen, (4) die institutionellen Zusammenhänge der Kooperation und Integration und schließlich (5) die Diskurse innerhalb der Bundeswehr über ihren Zusammenhalt.
Der innere Zusammenhalt in der Bundeswehr wird ex positivo definiert, also mit wünschbaren Eigenschaften verbunden. Insgesamt verbinden Werte der Kohäsion Anspruch und Prinzipien zu einem Emotionskonstrukt aus Werteverständnis, Verantwortung, Vertrauen, Menschlichkeit und Kameradschaft.
Die Herausforderungen für die Bundeswehr insgesamt, auch hinsichtlich ihrer Kohäsion, wurzeln in zäsurhaften Ereignissen, Krisenphasen oder gesellschaftlichen Transformationsprozessen, für die der Staat, die Politik und die Gesellschaft zwingend Antworten und Lösungen entwickeln müssen. So hat die Geschichte mehrfach bewiesen, dass vereinte Entschlossenheit in einer Krise das höchste Ziel ist. Das Herstellen tragfähiger Rahmenbedingungen für den militärischen Dienst erfordert dabei eine kontinuierliche konzertierte Aktion und Interaktion von Politik, Gesellschaft und Bundeswehr. Voraussetzung dafür ist eine auf ehrlichen Dialog ausgerichtete Gesprächskultur, die Vertrauen und engagiertes Interesse fördert und Taten folgen lässt. So gilt es, die Bundeswehr-Realität – unter Berücksichtigung aller individuellen und kollektiven Möglichkeiten – nicht nur zu verwalten, sondern gemeinsam klug zu gestalten. Dabei ist es wichtig, an der Vision einer in sich geschlossenen und verknüpften sowie einer insgesamt starken und durchhaltefähigen modernen Truppe mitzuwirken.
Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2/2022
Oberstarzt Dr. N. A. von Rosenstiel
I. Deutsch-Niederländisches Corps
Schlossplatz 15
48143 Münster
E-Mail: NielsVonRosenstiel@bundeswehr.org