„Pro-vention“ – ein Modell zur Gesundheitsfürsorge und -psycho-physischen Leistungsoptimierung für Eurofighter-Piloten der Luftwaffe

Aus dem Taktischen Luftwaffengeschwader 31 „Boelcke“, Nörvenich (Kommodore: Oberstleutnant F. Kleinheyer)

Roland Nüsse

WMM, 59. Jahrgang (Ausgabe 09-10/2015; S. 306-311)

Zusammenfassung

Hochkomplexe Waffensysteme wie der Eurofighter sind mit ebenso komplexen Anforderungen an den Bediener verbunden, was vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen eine besondere Betrachtung sowohl des Faktors als auch der Ressource Mensch erfordert. In einer Arbeitsumgebung, in der vor allem physische und psychische menschliche Leistungsgrenzen die Gesamtleistung dieses Mensch-Maschine-Systems limitieren, gewinnen Methoden und Verfahren zur -Erweiterung dieser Grenzen sowohl im Sinne des Arbeitsschutzes und der Betriebs- und Flugsicherheit einerseits, als auch zur Steigerung des individuellen wie kollektiven Einsatzwertes der Waffensysteme zunehmend an Bedeutung.

Beim Taktischen Luftwaffengeschwader 31 „Boelcke“ wurde durch den Fliegerarzt ein Konzept zur Gesundheitsfürsorge (Arbeitsbegriff „Pro-vention“) nach dem Salutogenese-Modell von Antonovsky entwickelt, das neben einem umfassenden Angebot individualisierter gesundheitsfördernder Maßnahmen auch ein Programm zur Leistungsoptimierung („Human Performance Enhancement“, Arbeitsbegriff „fit2fly“) beinhaltet, welches vorgestellt wird. Eine wissenschaftliche Evaluation ist geplant. 

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Abb. 1: Eurofi ghter

Schlüsselwörter: Faktor Mensch, menschliche Leistungsgrenzen, Optimierung menschlichen Leistungsvermögens, Salutogenese-Modell, A. Antonovsky

Keywords: human factor, human performance limitations, human performance enhancement, model of salutogenesis, A. Antonovsky

Einleitung

Das Taktische Luftwaffengeschwader 31 „Boelcke“ (TaktLwG 31 „B“) in Nörvenich, westlich von Köln, wurde 2009 als drittes von zukünftig vier Geschwadern mit dem Waffensystem EUROFIGHTER ausgestattet und ist der zurzeit größte Jet-Verband der Luftwaffe.

Rahmenbedingungen
Der 2010 in Nörvenich erfolgte Wechsel vom zweisitzigen Waffensystem TORNADO auf den einsitzigen EUROFIGHTER war nicht nur in technischer Hinsicht ein Sprung von der zweiten in die vierte Kampfflugzeug-Generation. Er war auch für die Flugmedizin und Flugpsychologie im Allgemeinen und damit für die fliegerärztliche und fliegerpsychologische Tätigkeit im Besonderen eine große Herausforderung.

Kein Bauteil eines Hochleistungs-Kampfflugzeugs ist annähernd so komplex und in Struktur, Funktion und Leistung so anfällig wie der Mensch, der dieses Waffensystem in taktisch-operationellen wie physikalisch-aerodynamischen Grenzbereichen unter teilweise extremen psychisch wie physisch beanspruchenden Bedingungen einsetzt.

Mit der Reduzierung des Luftfahrzeugumfangs und damit auch der Pilotenanzahl stieg die Bedeutung des Individuums für den kollektiven Einsatzwert dieses Waffensystems sprunghaft an. Die Effektivität der fliegerischen Auftragserfüllung hängt unter diesen neuen Bedingungen viel stärker als in der Vergangenheit von jedem einzelnen leistungsbereiten und leistungsfähigen Luftfahrzeugführer ab. Die Luftwaffe hat vor diesem Hintergrund eine „Zero-Loss“-Strategie eingeschlagen, die unter Ausschöpfung aller für den Flugbetrieb verfügbaren organisatorischen und personellen Ressourcen eine Vermeidung von Verlust oder Ausfall des fliegenden Personals oder eines Luftfahrzeugs zum Ziel hat.

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Abb. 2: Aufbau protektiver Ressourcen im individuellen Training
Bewährte Verfahren der Primär-, Sekundär- und Tertiär-Prävention im Sinne der Vorsorge haben den Erhalt eines nach Möglichkeit gesunden Zustandes oder die Verbesserung eines erkrankten Zustandes zur Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit zum Ziel. Sie bleiben auch weiterhin wertvoll im Sinne der Zero-Loss-Strategie und werden nach wie vor ihren Stellenwert sowohl in der flugmedizinischen Eignungsfeststellung und Begutachtung als auch in der fliegerärztlichen Tätigkeit haben.

Um menschliches Leistungspotenzial auszuschöpfen und im Sinne einer möglichst hohen Effektivität des Mensch-Maschine-Systems zu optimieren, reichten allerdings klassische präventivmedizinische Verfahren nicht mehr aus. Eine Weiterentwicklung des flugmedizinischen Leistungsangebots, das mit den gestiegenen operativen wie individuellen Anforderungen Schritt halten und die fortlaufende Aufwertung des in der technischen Arbeitswelt so bedeutsamen „Faktor Mensch“ (Human Factor) Rechnung tragen sollte, war erforderlich geworden [1].

Zielsetzung
Das Fliegerarztteam im TaktLwG 31 „B“ nahm diesen Paradigmenwechsel zum Anlass, Modelle, Methoden und Verfahren aus der Arbeits- und Sportmedizin auf ihre Anwendbarkeit in der Arbeitsumgebung eines fliegenden Verbandes zu prüfen und verfügbare Fähigkeiten und Ressourcen in ein gleichzeitig leistungsoptimierendes und gesundheitsförderliches Fürsorge-an-gebot umzusetzen.

Dabei sollte nicht die Verzögerung beziehungsweise Verhinderung der körperlichen und geistigen Abnutzung der Besatzungen das alleinige Ziel sein. Mit Blick auf die aus dem Flugbetrieb mit TORNADO bekannten und für den EUROFIGHTER zu erwartenden Beanspruchungsprofile wurden als notwendig betrachtet: 

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Abb. 3: Stellenwert der „Gesundheitsfürsorge“

a) die körperlichen Schutzfaktoren zu stärken,

b) den individuellen Belastungswiderstand zur Verbesserung der Durchhaltefähigkeit unter Belastungen nachhaltig anzuheben,

c) jederzeitige Ausschöpfbarkeit des individuellen – wenn möglich anzuhebenden – Leistungspotenzials sicherzustellen und

d) ein Maßnahmenbündel zu entwickeln, mit dem sich die Gesundheit der Piloten fortlaufend verbessern ließe.

Als Grobziele eines Fürsorgekonzepts wurden also die Steigerung des Schutzes, der Leistung und der Gesundheit der Piloten festgelegt.

Aus den Qualifikationen und dem Fähigkeitsspektrum der im Verband verfügbaren Fachdisziplinen Flug-/Sportmedizin, Psychologie, Sportwissenschaft und Physiotherapie wurden in der Folge Tätigkeitsfelder, Methoden und Verfahren identifiziert, die auch am gesunden Piloten „pro-aktiv“ zum Einsatz kommen sollten.

Im Verlauf wurde deutlich, dass sich Möglichkeiten eröffneten, die über ein reines Trainingsprogramm zur Leistungssteigerung weit hinausgingen und mit den vorhandenen Fähigkeiten trotzdem vollumfänglich abgedeckt werden konnten.

Gesundheitsfürsorge als „Pro-vention“

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Abb. 4: Human Performance Enhancement
Das körperliche, sensorische und kognitive Leistungsvermögen limitiert schon heute die Leistungsfähigkeit von Mensch-Maschine-Systemen („Human Performance Limitations – HPL“) [2] in vielen Bereichen der Arbeitswelt. Insbesondere Besatzungen von militärischen Luftfahrzeugen unterliegen extremen Anforderungen an Körper und Geist. Qualität und Quantität der medizinischen und psychologischen Betreuung (Behandlung, Begutachtung, Prävention und Gesundheitsförderung) müssen dem „Hochwert“ dieses Personenkreises Rechnung tragen.

Die Entwicklung in der Arbeitsmedizin hat sich vom biomedizinischen über das risikofaktorielle und weiter über das biopsychosoziale Modell schließlich zum mitarbeiterzentrierten Gesundheitsressourcen-Modell entwickelt [3]. Nach dem in der Arbeitsmedizin weltweit weitgehend akzeptierten „Modell der Salutogenese“ (Antonoysky 1979) [4, 5] ist es das Ziel, gesund erhaltende „endogene“ (protektive und individuelle) und „exogene“ Ressourcen den krankmachenden „internen“ und „externen“ Stressoren entgegen zu setzen. Gleichzeitig soll ein Gefühl der „Kohärenz“ entwickelt werden, das den Menschen in die Lage versetzt, seine aktuelle Leistungsfähigkeit, die „Bedeutungshaltigkeit“ und die „Bewältigbarkeit“ von Belastungen durch die Bewertung der eigenen „Stressorenlage“ besser einschätzen und folglich hinreichend Widerstandskräfte („Resilienz“) freisetzen oder entwickeln zu können. In der Arbeitsmedizin ist eine Tendenz zum Wechsel der Perspektive vom pathogenetisch geprägten Blickwinkel zur salutogenetischen Sichtweise deutlich erkennbar.

Im Flugbetrieb der Bundeswehr stehen der „Faktor Mensch“, die „Human Performance Limitations“ [2], die Achtsamkeit im Umgang mit diesen Grenzen sowie die Bestrebungen hinsichtlich der Erweiterung dieser Grenzen im Rahmen des „Human Performance Enhancement“ [1] im Fokus. Diese Faktoren sind nahezu deckungsgleich mit dem salutogenetischen Ansatz, bei dem die Bedeutung der „Ressource Mensch“, die Entwicklung eines Kohärenzbewusstseins, die Notwendigkeit der Stärkung individueller (Leistungs-) sowie protektiver Ressourcen sowie die Schaffung einer gesundheitsförderlichen Arbeitsumgebung im Zentrum stehen.

Übertragen auf den Flugbetrieb mit Hochleistungs-kampf-flug-zeugen sind die Beanspruchbarkeit des Fliegenden Personals und somit auch – über den Zugewinn an Leistungsfähigkeit –die Steigerung des individuellen wie kollektiven Einsatzwertes folglich in hohem Maße von der Stärkung individueller Ressourcen, der Entwicklung des Kohärenzsinnes und vom Grad der individuellen Gesundheitsförderung abhängig. Vor dem Hintergrund der angestrebten Verlängerung der individuellen aktiven fliegerischen Verwendung bekommt dabei die Pflege der Gesundheit – letztlich der „Ressource Mensch“ insgesamt – noch zusätzliches Gewicht.

Die erkannte Bedeutung der „Ressource Mensch“ in der Arbeitswelt generell führte 2013 auch bei der Bundeswehr zur Einführung des „Betrieblichen Gesundheitsmanagements“ (BGM) [6], welches das salutogenetische Prinzip schon als Prämisse beinhaltet. Durch Investitionen in die Gesundheit sowie in die Schaffung gesundheitsförderlicher Dienst- und Arbeitsbedingungen sollen krankheitsbedingte Kosten gesenkt und die Einsatz- und Durchhaltefähigkeit des gesamten Personalkörpers sichergestellt werden. Es reicht vom Arbeitsschutz über die Prävention von Unfallursachen und krankheitsbedingten Aus-fallzeiten bis hin zur Förderung der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft des Einzelnen. 

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Abb. 5: Aquatraining

Ganz im Sinne des Salutogenese-Modells wird im BGM die Gesundheit dabei nicht nur als zu schützender Zustand verstanden, sondern als positiv entwicklungsfähiger Prozess interpretiert, in dem der Mensch ganzheitlich in seiner Entwicklung und mit all seinen Potenzialen wahrgenommen und gefördert, sowie die Bildung einer gesundheitlichen Reserve ermöglicht werden kann.

Qualität und Quantität der Gesundheitsförderung im BGM als Weiterentwicklung der Gesundheitsvorsorge sind trotz der angebotenen Bandbreite für die spezifischen Anforderungen an EUROFIGHTER-Piloten nicht ausreichend, da sie durch unzureichende bis fehlende Individualisierung sowie zu geringe didaktische Tiefe für diesen Personenkreis zu kurz greift.

In Nörvenich ging man daher einen Schritt weiter. Auf der Suche nach geeigneten Modellen war das Team um den Fliegerarzt in Nörvenich auf Programme zur Gesundheitsförderung bei der Volkswagen AG und vor allem im finanzkräftigen Hochleistungssport aufmerksam geworden. Leistungsdruck sowie die Möglichkeit der Wertschöpfung führten besonders im Bundesligafußball zu einer deutlichen Aufwertung gesundheitsfürsorglicher Betreuungsqualität. Besuche bei Fußballbundesligisten in der Region sowie im Sportmedizinischen Institut der Bundeswehr erbrachten wertvolle Anregungen für die Ausgestaltung des Programms hinsichtlich der Erhebung und Interpretation sportmedizinischer, -wissenschaftlicher und -physiotherapeutischer Befunde (Assessment), des Trainingsaufbaus und schließlich des Schnittstellenmanagements im Zusammenwirken einzelner Fachdisziplinen.

In den Jahren 2007 bis 2009 wurde in Nörvenich ein ganzheitliches, aber streng individuell ausgerichtetes Programm zur „Gesundheitsfürsorge für EUROFIGHTER-Piloten“ entwickelt und zunächst mit TORNADO-Besatzungen erprobt. Seitdem wurde es fortlaufend optimiert und seit 2011 für jeden EUROFIGHTER-Piloten verfügbar gemacht [7]. Die Anlehnung in der Ausgestaltung des „Nörvenicher Gesundheitsfürsorgekonzepts“ an die Betreuungsqualität im Hochleistungssport ist dabei absolut beabsichtigt und tatsächlich bis heute ein bestimmendes Merkmal des Programms.

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Abb. 6: Trainingsaufbau
Unter dem in Nörvenich dafür gewählten Begriff „Pro-ven-tion“ werden seit diesem Jahr alle Maßnahmen zur Gesundheitsförderung proaktiv, also fortlaufend, am gesunden Piloten und daher fürsorglich im Sinne des salutogenetischen Modells angeboten. Die Wortschöpfung „Pro-vention“ vereinbart die Begriffe „pro“ (lat. „für“) mit „vention“ (lateinisch von „venire“: „kommen“) und soll die fürsorgliche, aktiv gestaltete und individualisierte Ausrichtung des Programms, dabei aber sowohl die logische Nähe zu und zugleich auch die Trennung von der klassischen Prävention verdeutlichen. So wird die bewährte flugmedizinische Gesundheits-vor-sorge mit ihren Bereichen Arbeitsschutz, Verhaltens- und Verhältnisprävention um die durch das Fliegerarztteam neu entwickelte Gesundheits-für-sorge mit den Bereichen Leistungsoptimierung (im Folgenden als „Human Performance Enhancement“ näher erläutert) und Gesundheitsförderung erweitert. Die Gesundheitsfürsorge ist neben den klassischen Kernleistungsprozessen Behandlung, Begutachtung und Prävention der Bedeutung angemessen als eigenständiger Kernleistungsprozess im fliegerärztlichen Tätigkeitsspektrum in Nörvenich etabliert worden.

Eingesetzte Ressourcen
Das Fliegerarztteam in Nörvenich besteht aus zwei Fliegerärzten, einer Fliegerpsychologin, einem Sportwissenschaftler, einer Sportphysiotherapeutin, drei Flugmedizinischen Assistentinnen und einer Medizinischen Fachangestellten. Sie alle -werden, je nach Qualifikation, in der Umsetzung des „Pro--vention“-Programms eingesetzt. In einem erweiterten Kreis werden Reservedienstleistende, das Team der Staffelküche sowie im Einzelfall externe zivile Fachkräfte (wie Yoga- oder Gymnastiklehrer) hinzugezogen.

Die Prozesse
Hauptprozesse im Kernleistungsprozess Gesundheitsfürsorge sind „Individuelles Training“, „Flugdienstoptimierte Ernährung“, „Gesundheitsförderliche Lebensführung“, „Fliegerpsychologischer Support“. Die Einteilung in Prozesse dient einer strukturierten Umsetzung des Konzepts im Rahmen des Qualitätsmanagements.

Nachfolgend wird der Prozess „Individuelles Training“ betrachtet, der vornehmlich auf physische Leistungsoptimierung ausgerichtet und für die Veranschaulichung des angestrebten Human Performance Enhancement am besten geeignet ist.

Human Performance Enhancement – „fit2fly“

Human Performance Enhancement (HPE) drückt das Bestreben aus, menschliche Leistungsgrenzen, die die Performance des Mensch-Maschine-Systems begrenzen, [2] anzuheben. Dieses soll einerseits die Systemperformance verbessern und andererseits die Arbeits- und – im übertragenen Sinne – die Flugsicherheit erhöhen [1]. 

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Abb. 7: Funktionelles Training

Fitnesskategorien
Unter HPE werden alle Maßnahmen zur physischen und psychischen Leistungsoptimierung beziehungsweise Ausschöpfung von Leistungspotenzialen gebündelt. In Nörvenich werden diese Maßnahmen unter dem Arbeitsbegriff „fit2fly“ geführt und vier Fitnesskategorien zugeordnet.

1. Kernfitness – Schwerpunkt im HPE

Zur Erfüllung seines Kernauftrages -Beherrschung des EUROFIGHTER als Waffensystem auch im Grenzbereich seiner Leistungsparameter – benötigt der Pilot besondere psychische und physische Fähigkeiten. Es gilt, die trainierbaren Anteile dieser Fähigkeiten zu identifizieren, positiv zu entwickeln und den erreichten Leistungsstand mindestens zu halten. Besondere Bedeutung erfährt dabei das Training des muskulo-skelettalen Systems und hier vor allem der wirbelsäulen-stabilisierenden Muskulatur.

Steigerung und Erhalt der Kernfitness bilden die Schwerpunkte des individuellen – also für jeden Piloten auf seinen Bedarf zugeschnittenen – Trainings.

2. Grundfitness – Basis für optimale körperliche Konstitution

Durch das Training der fünf Grundkonditionen des Sports –Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit, Beweglichkeit und Koordination – wird die Grundfitness verbessert und zu einem Idealzustand aus individuellen Anlagen und Trainingsgewinn entwickelt. Ziel ist eine optimale körperliche Konstitution. Grundfitness drückt das Vermögen aus, auch außerhalb des Flugdienstes leistungsfähig zu sein und Belastungen eher standhalten zu können.

Die Verbesserung der Grundfitness fließt in die gesundheitliche Reserve des Piloten ein.

3. Allgemeinfitness – Grundlage für Wohlbefinden und Motivation

Die Verbesserung der allgemeinen Fitness hat eine Steigerung des Wohlbefindens und der Motivation zum Ziel. Krankheitsbedingte Flugausfallzeiten sollen durch die Steigerung der Widerstandskraft und der Leistungsfähigkeit des Immunsystems vermieden, dagegen Motivation, Selbstbewusstsein und Freude an der Bewegung geschaffen werden. Dazu wird ein alternatives Sport- und Aktivitätsprogramm, vorzugsweise im Gruppenrahmen, durchgeführt.

4. Gesundheitsförderliche Lebensführung – Appell an die Eigenverantwortung

Der Vermittlung von Wissen zur eigenverantwortlichen, gesundheitsbewussten und -förderlichen Lebensführung wird eine besondere Bedeutung beigemessen. Das Fliegerarztteam bietet daher ein umfangreiches Vortrags- und Fortbildungsangebot sowohl im Kollektiv, als auch individuell – „patientenorientiert“ – an. Dahinter steht die Überzeugung, durch Stärkung der „Work-Life-Balance“ sowie Einbeziehung und Stützung des privaten sozialen Umfelds zudem auch einen Beitrag zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie leisten zu können. Im Rahmen der Familienmedizin werden so häufig auch die Partnerinnen der Piloten mit einbezogen.

Dem wichtigen Bereich der Ernährung wird unter anderem durch die Erstellung eines Konzepts einer für den Flugdienst optimierten Ernährung (Arbeitsbegriff:„food4flight“) Rechnung getragen. Auch hier dient der Hochleistungssport mit seinen wettkampfoptimierten Ernährungsmodellen als Vorbild.

Die Stärkung der Gesundheitsressourcen, der Resilienz, des Kohärenzgefühls und der Eigenverantwortlichkeit ist von wesentlicher Bedeutung für die Entwicklung und den Erhalt auch der psychischen Gesundheit und der mentalen Fitness. Die Fliegerpsychologin bietet regelmäßig Vorträge, Seminare, aber auch Einzel- und Paargespräche zu Themen wie Achtsamkeit, Stressmanagement, Crew Ressource Management, Kommunikation, Konfliktmanagement, individuelle Einsatzvor- und -nachbereitung, Psychohygiene sowie, bei Bedarf, Maßnahmen zur Krisenintervention an.

Grunduntersuchung und Trainingsplanerstellung
Jeder neu in den Verband wechselnde Pilot durchläuft nach einer gründlichen Anamnese eine gut eintägige sportmedizinische, sportphysiotherapeutische sowie sportwissenschaftliche Eingangsuntersuchung, einschließlich einer Funktions- und Leistungsdiagnostik [7].

Die erhobenen Befunde werden interdisziplinär diskutiert, den vier oben genannten Fitnesskategorien zugeordnet und entsprechend der Eisenhower-Matrix hinsichtlich Wertigkeit und Dringlichkeit priorisiert. Nach Erörterung mit dem Piloten erfolgt mit ihm gemeinsam die Erstellung eines individuellen Trainingsplans nach trainingswissenschaftlichen Methoden, unter Berücksichtigung der besonderen Belange des Flugdienstes sowie verbandsinterner Vorhaben. Das individuelle Training hat hierbei Vorrang vor Nebenaufgaben. Ergeben sich bei der Untersuchung Handlungsfelder außerhalb des individuellen Trainings, erfolgt die Einsteuerung auch in andere Prozesse, zum Beispiel Ernährungsberatung, Grundfitness, flugpsychologische oder familienmedizinische Beratung und so weiter. Maßnahmen zur Steigerung der Kernfitness werden fliegerärztlich „verordnet“, andere Maßnahmen werden empfohlen.

Individuelles Training
Der Prozess des „Individuellen Trainings“ beinhaltet Trainings- und Anwendungseinheiten vornehmlich zur Steigerung der Kernfitness. Der Trainingsaufbau erfolgt – wie in der Sportmedizin üblich – in drei Phasen [7] (Abbildung 6).

Die Physiotherapeutin im Team bereitet durch die Anwendung von Methoden der Sportphysiotherapie, der Manuellen Therapie und der Medizinischen Trainingstherapie die Piloten im Rahmen eines „Reset“-Programms mit anschließender Konsolidierung auf die Phase des leistungsorientierten Trainings vor.

Grundsätzlich beherrscht die flugmedizinisch ausgerichtete Physiotherapie alle Methoden, die zur besseren Funktion aller belasteten und zur Wiederherstellung aller geschädigten Strukturen und Funktionen geeignet sind. Zu diesem Zweck kommen zusätzlich Krankengymnastik, neurophysiologische Techniken (wie Propriozeptive Neuromuskuläre Faszilitation – PNF, Funktionelle Bewegungslehre – FBL), gerätegestützte Krankengymnastik, Elektrotherapie/ Ultraschall, manuelle Lymphdrainage, therapeutisches Klettern sowie balneo-therapeutische Maßnahmen in allen Fitnesskategorien zum Einsatz.

Der Sportwissenschaftler im Team ist hauptverantwortlich für den Aufbau, die Periodisierung und Zyklisierung sowie schließlich die Durchführung des Trainings in den Phasen II und III. Die Maßnahmen finden weitestgehend in direkter Nähe zum Arbeitsplatz in den verbandseigenen sportmedizinischen Einrichtungen sowie im Schwimmbad und ausschließlich in einer 1:1-Betreuung statt, die die intensivste und effektivste Form klientelzentrierten Trainings darstellt.

Die für die Stabilisierung und somit den Schutz der Wirbelsäule besonders wichtige tiefliegende Rückenmuskulatur wird unter anderem mit einem Trainings- und Therapiegerätesystem trainiert. Ein speziell für diese Form des Gerätetrainings entwickeltes funktionsgymnastisches Anbahnungsprogramm wird jeder Trainingseinheit zur Vermeidung von Verletzungen und zur Verbesserung des Trainingseffektes vorgeschaltet. Ein funktionelles Ausgleichstraining in zeitlichem Zusammenhang zum Gerätetraining gleicht dessen systembedingte Nachteile aus und verbessert das intra- und intermuskuläre Zusammenwirken der trainierten Muskulatur.

Fazit und Zukunft

Seit 2012 dient das Programm [7] den anderen fliegenden Verbänden der Bundeswehr als Modell für die Etablierung gesundheitsfürsorglicher und leistungsoptimierender Maßnahmen. Mit der Umsetzung von HPE beauftragtes Personal wird in Nörvenich in die Verfahren eingewiesen. Zudem haben Vertreter einer Reihe von zivilen Unternehmen und Institutionen die Einrichtungen des Geschwaders besucht; sie sehen in dem „Nörvenicher“ Gesundheitsfürsorgekonzept eine wertvolle Weiterentwicklung bestehender mitarbeiterzentrierter Vor- und Fürsorgeleistungen. Insbesondere die Ausrichtung auf hochspezialisiertes und letztlich mit gleichem Ausbildungs- und Leistungsstand nicht regenerierbares Personal, welches eine herausragend wichtige „Schlüssel-Leistung“ für das „Unternehmen“ erbringt – wie die EUROFIGHTER-Piloten für die Bundeswehr – fand dabei großes Interesse.

In vielen fliegenden Verbänden der Bundeswehr werden weisungsgemäß HPE-Programme entwickelt und etabliert. Ein Verfahren zur Evaluation der Wirksamkeit getroffener „HPE-Maßnahmen“ wurde für die Bereiche Grund- und Allgemeinfitness im Taktischen Luftwaffengeschwader 73 „Steinhoff“ etabliert; hierüber berichten Jäschner und Bartz in ihrem Beitrag. Eine wissenschaftsbasierte generelle Evaluation für HPE-Programme ist konzipiert; das Konzept wird im Beitrag von Grove et al. ebenfalls in diesem Heft vorgestellt.

Die spezifische Gesundheitsfürsorge für Piloten von Hochleistungsluftfahrzeugen, wie sie in Nörvenich entwickelt wurde, findet uneingeschränkte Akzeptanz bei den Piloten und nachdrückliche Unterstützung durch die Luftwaffenführung. Der Verband sieht die kommende Evaluation als Motivation und Hilfe zur kontinuierlichen Verbesserung des Programms.

Kernsätze

  • In physischen und psychischen Grenzbereichen belastete Piloten von Hochleistungskampflugzeugen, wie dem EUROFIGHTER, bedürfen einer Hochwertbetreuung.
  • Das Fliegerarztteam in einem Eurofighter-Verband der Luftwaffe entwickelt ein weitreichendes Fürsorgeangebot zur Förderung der Gesundheit unter dem Leitgedanken der Salutogenese.
  • Spezifische individualisierte Gesundheitsfürsorge („Pro-vention“) verbessert Leistung und schafft zusätzliche „Gesundheitsressourcen“.
  • Physische und psychische Leistungsoptimierung (Human Performance Enhancement) ist Bestandteil dieser Gesundheitsfürsorge.

Literatur

  1. Bundesministerium der Verteidigung / Fü L I 3: Human Performance Enhancement im fliegerischen Dienst der Bundeswehr (2012, Berlin).
  2. Bundesministerium der Verteidigung / Fü L I 3: Konzept für Human Performance and Limitations und Crew Resource Management für den Flugbetrieb der Bundeswehr (2006, Berlin).
  3. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Was hält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert (2001, Köln).
  4. A. Antonowsky: Health, Stress and Coping: New perspectives on mental and physical well-being (1979, Jossey Bass, San Francisco).
  5. A. Antonowsky: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit (1997, A. Franke, Thübingen).
  6. Bundesministerium der Verteidigung: Betriebliches Gesundheitsmanagement im Geschäftsbereich des Bundesministerium der Verteidigung (2014, Berlin).
  7. R. Nüsse: Grundlagen der Gesundheitsfürsorge im Jagdbombergeschwader 31 „Boelcke“ (2011, Nörvenich).

Interessenkonflikt:

Der Verfasser erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editior bestehen.

Bildquellen:

Alle Abbildungen: Roland Nüsse

 

 


Datum: 29.10.2015

Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2015/9-10

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