Humanitäre Hilfe im Konfliktgebiet: Die heikle Balance zwischen Bundeswehr und Ärzte ohne Grenzen

N. Linnemann

Manchmal nur wenig Abstand: Ein MSF-Fahrzeug fährt in Bangui an einem gepanzerten Fahrzeug vorbei. Zentralafrikanische Republik, 2014
MSF/ Juan Carlos Tomasi

In Krisen- und Konfliktgebieten operieren humanitäre Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF) und militärische Einheiten wie die Bundeswehr oft nebeneinander, um Notleidenden zu helfen. Diese zivil-militärische Zusammenarbeit (ZMZ) bringt einerseits Vorteile – wie den Zugang zu schwer erreichbaren Gebieten und einen gewissen Schutz – aber auch erhebliche Herausforderungen. Besonders für Organisationen wie MSF, die sich Neutralität und Unabhängigkeit auf die Fahnen schreiben, kann die Nähe zu Militärs problematisch sein. Es gibt noch weitere Herausforderungen auf dem Gebiet der ZMZ, denen sich anhand konkreter Fallbeispiele zwischen der Bundeswehr und Ärzte ohne Grenzen im Folgenden genähert werden soll.

Die zivil-militärische Zusammenarbeit hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem zentralen Element in der internationalen Krisenbewältigung entwickelt. Militärische Akteure wie die Bundeswehr verfügen über logistische Kapazitäten und Sicherheitskompetenzen, die humanitären Organisationen oft fehlen. Gerade in schwachen Staaten und Konfliktzonen können militärische Kräfte den Zugang zu betroffenen Bevölkerungsgruppen erleichtern und humanitäre Operationen absichern. Doch diese Zusammenarbeit steht in einem besonderen Spannungsfeld, besonders wenn es um die Wahrung der humanitären Prinzipien Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit geht.

Ärzte ohne Grenzen verfolgt einen strikt humanitären Ansatz, der auf diesen Prinzipien beruht. Die 1971 in Genf gegründete Organisation ist in vielen Krisengebieten tätig, in denen sie wie beispielsweise das Internationale Rote Kreuz als eine der wenigen neutralen und unparteiischen Akteure agiert. Diese Position ermöglicht es MSF, Zugang zu allen Konfliktparteien zu erhalten und das Vertrauen der lokalen Bevölkerung zu gewinnen. 

Von regionalen Mächten in einem Konfliktgebiet werden NGOs nur dann als solche betrachtet, wenn sie keiner Konfliktpartei aktiv nutzen oder schaden. Eine zu enge Zusammenarbeit mit militärischen Akteuren kann das Vertrauen in zivile Organisationen gefährden und MSF zur Zielscheibe von Angriffen machen – genau hier liegt für die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen eine wesentliche Herausforderung. Aus diesem Grund ist die Zusammenarbeit zwischen MSF und der Bundeswehr häufig indirekter Natur. Aber auch aus der Perspektive der Bundeswehr stellt die zivil-militärische Zusammenarbeit eine Herausforderung dar, wenn beispielsweise militärische Ziele im Widerspruch zu humanitären Zielen stehen. Drei Beispiele machen diesen spannenden Balanceakt deutlich.

Afghanistan: ZMZ in Kundus – Balanceakt zwischen Schutz und Gefahr 

In Afghanistan war die Bundeswehr im Rahmen der NATO-geführten ISAF-Mission und später der Resolute Support Mission aktiv. Ärzte ohne Grenzen war bereits lange vor der internationalen Intervention in Afghanistan tätig und hatte sich durch ihre unabhängige humanitäre Arbeit das Vertrauen der lokalen Bevölkerung erarbeitet. Ein prägnantes Beispiel für die ZMZ bietet die nordafghanische Stadt Kundus, wo Ärzte ohne Grenzen ein Krankenhaus betrieb, das sowohl Zivilisten als auch Beteiligte des Konflikts behandelte.

Im Oktober 2015 kam es zu einem einstündigen Luftangriff der US-Streitkräfte auf das MSF-Krankenhaus in Kundus. Bei diesem Angriff, bei dem eigentlich angreifende Taliban-Kämpfer das Ziel hätten sein sollen, starben 42 Menschen, darunter 14 Mitarbeiter von MSF und 24 Patienten des Krankenhauses. Obwohl die Bundeswehr nicht an diesem Angriff beteiligt war – sie hatte ihre dauerhafte Präsenz in der Region Kundus bereits zwei Jahre zuvor beendet –, verdeutlicht der Vorfall das extreme Gefahrenpotenzial, dem humanitäre Organisationen ausgesetzt sind, wenn sie in der Nähe militärischer Operationen agieren. MSF zog sich infolge des tragischen Angriffs vorübergehend aus Kundus zurück.

Bis zur Tragödie von 2015 ließe sich in Afghanistan ein positives Bild für die ZMZ zeichnen. Die Bundeswehr führte regelmäßig Sicherungsoperationen im Norden des Landes durch, wodurch die Sicherheitslage stabilisiert wurde, ohne dass MSF ihre Unabhängigkeit aufgeben musste. Diese indirekte Zusammenarbeit trug dazu bei, dass Zivilisten und Verwundete in der Region weiterhin Zugang zu dringend benötigter medizinischer Versorgung hatten, indem beispielsweise Hilfskonvois von Ärzte ohne Grenzen der Zugang zu schwer erreichbaren Gebieten ermöglicht wurde.

Mali: Bundeswehr und Ärzte ohne Grenzen im Einsatz gegen die humanitäre Krise

Mali, ein Land, das seit Jahren von politischer Instabilität und terroristischen Aktivitäten zerrissen ist, bietet ein weiteres Beispiel für zivil-militärische Zusammenarbeit. Die Bundeswehr war bis Ende 2023 dort im Rahmen der UN-Mission MINUSMA aktiv, die zur Stabilisierung der Region beitragen sollte – bis das malische Militär sich an die Macht putschte und die zuvor gerufenen westlichen Streitkräfte vor die Tür setzte. NGOs wie Ärzte ohne Grenzen leisteten medizinische Hilfe in verschiedenen Teilen des Landes, um die von Konflikten und Krankheiten betroffene Zivilbevölkerung zu unterstützen.

In diesem Kontext hat die Bundeswehr durch die Sicherung von Straßen und Versorgungswegen indirekt die Arbeit von MSF unterstützt, ohne die Unabhängigkeit der Organisation zu gefährden. Ein Beispiel dafür war die Sicherung humanitärer Konvois, die von MSF organisiert wurden, um medizinische Ausrüstung und Personal in entlegene und gefährliche Regionen wie Gao und Kidal zu bringen. Diese Gebiete sind stark von terroristischen Gruppen kontrolliert, und ohne militärische Präsenz wäre es für Ärzte ohne Grenzen unmöglich gewesen, dort Hilfe zu leisten.

Die Bundeswehr spielte eine entscheidende Rolle bei der Bereitstellung sicherer Korridore, verzichtete jedoch darauf, die MSF-Teams direkt zu begleiten. Diese indirekte Form der Zusammenarbeit war auch im Fall der weltweit verheerenden COVID-19-Pandemie entscheidend. Während sich Ärzte ohne Grenzen auf die direkte medizinische Unterstützung und die Verbesserung des Gesundheitssystems konzentrierte, trug die Bundeswehr durch ihre militärische Präsenz und logistische Unterstützung zur Bekämpfung der Pandemie bei.

Irak: Wiederaufbau nach dem IS

Im Irak, einem Land, das vom jahrelangen Krieg gegen den Islamischen Staat (IS) gezeichnet ist, ist die ZMZ zwischen der Bundeswehr und MSF besonders komplex. Die Bundeswehr ist Teil der internationalen Koalition gegen den IS und unterstützt die irakischen Streitkräfte bei der Stabilisierung des Landes. Gleichzeitig leistet Ärzte ohne Grenzen humanitäre Hilfe in Städten wie Mossul, die schwer vom Krieg gezeichnet sind.

ZMZ betrifft staatliche und nicht-staatliche Organisationen im In- und Ausland...
ZMZ betrifft staatliche und nicht-staatliche Organisationen im In- und Ausland oft mit demselben Ziel, aber unterschiedlichen Herangehensweisen.
Quelle: Bundeswehr/ Anne Weinrich

Nach der Befreiung Mossuls im Jahr 2017 war die humanitäre Lage katastrophal. MSF war eine der wenigen Organisationen, die in der Lage war, überhaupt medizinische Hilfe zu leisten. Es wurden Notfallkliniken eingerichtet, um die vielen verletzten Zivilisten zu versorgen, die durch die Kämpfe und Bombardierungen schwer verletzt worden waren. Auch heute noch ist die Organisation in Mossul vor Ort, etwa in einer Klinik, in der rekonstruktive Chirurgie und postoperative Versorgung angeboten werden. Die Bundeswehr unterstützte auch hier durch logistische und sicherheitstechnische Maßnahmen, die es MSF ermöglichten, sicher in Städten wie Bagdad, Mossul, Kirkuk und Sinuni zu operieren.

Trotz der Nähe zu militärischen Operationen achtete MSF darauf, die eigene Arbeit strikt unabhängig zu gestalten, um das Vertrauen der Zivilbevölkerung nicht zu verlieren. Diese Unabhängigkeit war entscheidend, da humanitäre Organisationen in der Region oft als Teil der militärischen Infrastruktur wahrgenommen wurden. Die Bundeswehr hingegen unterstützte indirekt durch die Schaffung sicherer Rahmenbedingungen, ohne jedoch in die humanitären Operationen von MSF einzugreifen.

Ärzte ohne Grenzen – Neutralität und Unabhängigkeit als höchste Priorität

MSF verfolgt seit seiner Gründung ein striktes Prinzip der Neutralität und Unabhängigkeit. Gerade diese Grundsätze sind es, die es der Organisation erst ermöglichen, in hochriskanten und konfliktbeladenen Gebieten zu arbeiten. Aus Sicht von Ärzte ohne Grenzen ist es daher entscheidend, dass die Organisation weder mit einer Regierung noch mit militärischen Akteuren in Verbindung gebracht wird, um das Vertrauen aller Konfliktparteien zu wahren.

Dadurch sieht die Organisation eine Nähe zu militärischen Operationen als potenzielles Risiko für ihre Mission. Es wird argumentiert, dass eine enge Zusammenarbeit mit militärischen Akteuren die Neutralität gefährdet und Ärzte ohne Grenzen in den Augen der Konfliktparteien als Teil einer militärischen Seite erscheinen lässt. Dies könnte nicht nur den Zugang zu bestimmten Regionen einschränken, sondern auch die Sicherheit ihrer Mitarbeiter erheblich gefährden.

Für Ärzte ohne Grenzen muss also der Balanceakt gelingen, sich durch die Bundeswehr (und andere Streitkräfte) schützen zu lassen, ohne diesen Schutz zu nah an sich heranzulassen. Das schließt gemeinsame Konvois aus, lässt aber Kommunikation über Sicherheitslagen zu.

Beim Beispiel Afghanistan habe sich allerdings noch ein ganz anderes Problem der ZMZ gezeigt. Kritisiert wurde, dass die Bundeswehr zahlreiche – eigentlich zivile – Aufgaben nicht richtig ausführen konnte. Eine politische Verantwortung, welche der Bundeswehr möglicherweise zu viel Handlungsspielraum überlassen hat. Anstatt sich auf die Sicherheit im Land zu konzentrieren, hätten Bundeswehrangehörige auch Aufgaben des THW, der Polizei oder des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen übernommen und eher schlecht als recht erfüllt. Unter zivil-militärischer Zusammenarbeit sollte nicht verstanden werden, dass die Bundeswehr Brunnen bohrt.

Die Bundeswehr verfügt selbst über medizinische Kompetenz, sorgt im Ausland...
Die Bundeswehr verfügt selbst über medizinische Kompetenz, sorgt im Ausland im Bereich ZMZ jedoch vielmehr für Schutz und logistische Unterstützung.
Quelle: Bundeswehr/ Minh Vu

Bundeswehr – Sicherheit und Stabilität als Grundvoraussetzungen

Die Bundeswehr hingegen zieht gerade für das Beispiel Afghanistan ein positives Resümee. Man habe dort nach dem Motto „vernetzte Sicherheit“ mit vielen zivilen Akteuren gut zusammengearbeitet. Sie sieht ihre Rolle darin, in Krisenregionen erst die Sicherheit und Stabilität zu schaffen, die als Voraussetzung für humanitäre Hilfe gilt. Aus ihrer Perspektive ist die zivil-militärische Zusammenarbeit ein notwendiges Mittel, um in unsicheren Regionen den Zugang für humanitäre Organisationen zu ermöglichen und deren Arbeit zu unterstützen. 

Die Bundeswehr argumentiert, dass ohne ihre Präsenz und Unterstützung in vielen Fällen humanitäre Organisationen gar nicht erst in der Lage wären, in gefährlichen Regionen zu arbeiten. Und wenn es die Gefahrenlage nicht zulässt, man als Bundeswehr jedoch geeignetes Gerät dabeihabe, dann würde man dieses auch nutzen, um eben Brunnen zu bohren und andere zivile Aufgaben zu übernehmen.

Gelingt der Spagat zwischen ziviler Hilfe und militärischer Sicherheit?

Die ZMZ zwischen der Bundeswehr und MSF bleibt eine hochsensible und komplexe Angelegenheit. Beide Akteure haben legitime Interessen und wichtige Rollen in Krisengebieten, doch ihre Zusammenarbeit erfordert ein hohes Maß an Sensibilität und gegenseitigem Verständnis. Während die Bundeswehr oft unverzichtbare Unterstützung für die Sicherheit und Logistik humanitärer Einsätze bietet, muss sie die strikte Neutralität und Unabhängigkeit von Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen respektieren.

Die Erfahrungen aus Afghanistan, Mali und anderen Krisengebieten zeigen, dass eine Balance möglich ist, wenn beide Seiten klare Abgrenzungen respektieren und die humanitären Prinzipien unangetastet bleiben. Für die Zukunft bleibt es entscheidend, dass solche Kooperationen auf den Lehren vergangener Einsätze aufbauen, um sowohl die Sicherheit humanitärer Helfer als auch die Effektivität militärischer Missionen zu gewährleisten, ohne die Grundprinzipien der humanitären Hilfe zu gefährden.

Durch die Betrachtung konkreter Fallbeispiele und die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Perspektiven wird deutlich, dass die ZMZ sowohl Chancen als auch Herausforderungen birgt, die sorgfältig abgewogen werden müssen, um den bestmöglichen humanitären Nutzen zu erzielen. 

Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang ein engerer Austausch hierzulande, wie beispielsweise anlässlich des 20-jährigen Jubiläums von Ärzte ohne Grenzen Deutschland bei einer Konferenz zum Thema „Deutsche Außenpolitik aus humanitärer Sicht“. So kann gegenseitiges Verständnis auf ziviler und militärischer Seite aufgebaut werden und vielleicht auch an Strategien gearbeitet werden, zukünftig effektiver „zusammenzuarbeiten“, ohne öffentlich zusammenzuarbeiten zu müssen. Das nur mal als Idee.


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