Der Sanitätsdienst in der Landes- und Bündnisverteidigung im 21. Jahrhundert – Herausforderung und Chance
Aus der Abteilung A (AbtLtr: Generalarzt Dr. J. Backus) des Kdo SanDstBw (Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr: Generaloberstabsarzt Dr. U. Baumgärtner)
J. Backus
Das Sicherheitsumfeld Deutschlands und der NATO unterliegt regelhaft Veränderungen und gewissen Schwankungen. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr (SanDstBw) bedarf daher, adaptiert an die jeweilige sicherheitspolitische Lage, regelmäßig Anpassungen.
Einleitung
Das Sicherheitsumfeld Deutschlands und der NATO unterliegt regelhaft Veränderungen und gewissen Schwankungen. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr (SanDstBw) bedarf daher, adaptiert an die jeweilige sicherheitspolitische Lage, regelmäßig Anpassungen. Nach der Phase des Kalten Krieges, bei der dem Sanitätsdienst noch als wesentliche Aufgabe zukam, eine große Anzahl an Verwundeten im Rahmen der Landesverteidigung sanitätsdienstlich zu versorgen und im Rahmen der allgemein akzeptierten gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge in gut abgestimmte Krankenhausverbünde zu übergeben, schloss sich ab 1990 eine Phase der „Friedensdividende“ an. Parallel zur allgemeinen Truppenreduktion in der Bundeswehr, die quantitativ auch den SanDstBw in erheblichem Ausmaß betraf, verzeichnete dieser jedoch ab diesem Zeitpunkt einen qualitativen Zugewinn an Fähigkeiten. Aufgrund der Notwendigkeit zum gezielten Ressourceneinsatz erfolgte eine konsequente konzeptionelle und materielle Spezialisierung auf eine hochwertige, weit ins Ausland verlegbare, möglichst flexible sanitätsdienstliche Versorgung von wenigen Einsatzgeschädigten in den nun zunehmenden Einsatzszenaren im Rahmen des Internationalen Krisenmanagements (IKM) sowie im Sinne der nationalen Risikovorsorge. Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) und die damit verbundene Massenversorgung von Verletzten bzw. Verwundeten war zwar unverändert ein grundsätzlicher Auftrag für den SanDstBw, er wurde aber in Erwartung einer entsprechenden Vorlaufzeit für eine derartige Sicherheitslage nur noch nachrangig priorisiert.
Mit dem Wales-Summit der NATO 2014 und über den darüber ausgelösten Neuausrichtungsprozess mit sich anschließendem Weißbuch 2016 und Konzeption der Bundeswehr (KdB) änderte sich die Anforderung an die Bundeswehr nochmals und es wurde erneut eine Modifikation des Sanitätsdienstes notwendig. Erklärtes Ziel war es nunmehr das bislang erreichte qualitative sanitätsdienstliche Versorgungsniveau fortzuschreiben und die notwendige Regeneration unter qualitativer und quantitativer Erweiterung zur Massenversorgung und damit eine Weiterentwicklung auf längst vergessene „alte Anforderungen“ bei laufenden Einsätzen, wieder voranzubringen. Insgesamt kommt diese quasi einer dritten Neuausrichtung des Sanitätsdienstes gleich.
Weiterentwicklung der GesVers im Rahmen LV/BV – Neue Rahmenbedingungen
Wie einleitend bereits dargestellt, besteht die Notwendigkeit für den SanDstBw zu einer Weiterentwicklung auf breiter Front. Unverändert bestehen bleibt die Versorgungsverantwortung für Einsätze im Spektrum des IKM, die im Wesentlichen einer individuellen einsatzplanerischen Ableitung sowie den hierzu grundsätzlich fachlichen Weiterentwicklungen unterliegen. Neu ist die streitkräfteplanerische Notwendigkeit, den Sanitätsdienst für die unterschiedlichen Aufgaben der Bundeswehr entlang der neuen Rahmenbedingungen und den daraus resultierenden fachlichen Notwendigkeiten in sogenannten Systemverbünden (SysV) flexibel auszuplanen. Damit ist der Planungskomplexität allerdings noch nicht genüge getan. Die den Systemverbünden zugrundeliegenden Sollressourcenverbünde (S_RSV) bedeuten in ihren Teilbestandteilen nicht unbedingt ein korrespondierendes Organisationselement zu den herkömmlichen Truppenkonfigurationen (Gruppe/Zug/Kompanie), sondern werden durchaus individuell zusammengestellt – und diese Zusammenstellung kann sich im Laufe der zeitlichen Entwicklungsscheiben (2023/2027/2031) aufgrund der dann jeweils geltenden Zielvorgaben verändern. In extremis kann es aufgrund von limitierten Personalansätzen zwischenzeitlich sogar zum Ab- bzw. Wiederaufbau von Teilfähigkeiten kommen.Alle Kräfte finden dabei Berücksichtigung und werden präzise erfasst und ausgeplant. Anders als in den vergangenen Planungszyklen werden sogar wieder die organisatorischen Aufteilungen der Dienstposten in Rollen in der Friedens- und Verteidigungssituation (V/F) codiert, um letztlich ökonomisch eine möglichst ausgewogene Situation zu erreichen. Ergänzt werden die Ausplanungen um einen erheblichen Bedarf an Reservedienstleistenden (RDL), die im Falle von LV/BV u. a. die verantwortlichen Inlandsaufgaben, wie z. B. in der regionalen sanitätsdienstlichen Versorgung anstelle des dann „ausgerückten“ aktiven Personals sicherstellen.
Einsätze und Krisenvorsorge
Die Bundesrepublik Deutschland wird auch in Zukunft mit dem Ansatz des Comprehensive Approach (CA / vernetzte Sicherheit) politische Verantwortung in der Welt wahr- und übernehmen. In der mittel- und langfristigen Betrachtung wird dementsprechend der SanDstBw weiterhin weltweit in Maßnahmen des Konflikt- und Krisenmanagements im Rahmen von Projekten und Einsätzen der Bundeswehr eingebunden bleiben und gefordert werden.
Mit Blick auf die Zunahme von regionalen Konfliktherden in Europa und auf anderen Kontinenten, die Verschärfung hybrider Auseinandersetzungen und den lokalen Folgen gerade auf dem für Europa bedeutsamen afrikanischen Kontinent und dem Nahen Osten steht zu erwarten, dass insbesondere der Migrationsdruck der letzten Jahre nicht nur weiterhin zu beobachten ist, sondern eine steigende Tendenz aufweisen wird.
Bedrohungslagen mit zunehmend sich ausweitendem Charakter werden neue, bis dato ungeahnte Herausforderungen nach sich ziehen. Im Kontext zwar unterschiedlich, jedoch in der Ausbreitung vergleichbar, betrifft dies die Angreifbarkeit der digitalen Welt, wie auch der globalisierten Welt – beides verursacht durch Viren. Für beide Bedrohungsformen bedarf es der adäquaten Antwort, denn sie sind beide auf ihre Art existentiell lebensbedrohlich.
Die in der Bundeswehr definierten Begriffe des Internationalen Krisenmanagements (IKM) und der Nationalen Krisen- und Risikovorsorge (NatKRV) müssen für zukünftige Szenarien weiter als bislang gefasst werden. Die Erfahrungen im Umgang mit der COVID-19 Pandemie ziehen bereits erste Lehren nach sich, aus denen für zukünftige vergleichbare Lagen weitreichende Konsequenzen insbesondere in Bezug auf Vorsorge und Resilienz gezogen werden müssen.
Gleichzeitig werden die Aufgaben der Bundeswehr im Rahmen der schnellen Eingreifkräfte von NATO, EU und der Vereinten Nationen auch langfristig das Umfeld der Auslandseinsätze der Bundeswehr und damit des Sanitätsdienstes bestimmen. Daher ist der Einsatz im Krisen- und Konfliktmanagement auch zukünftig mit einem 360⁰-Blick über große Distanzen und in allen Klimazonen zu planen und einsatzbereite Kräfte vorzuhalten.
Vor dem Hintergrund dieser nur grob angerissenen komplexen Handlungsfelder ist die sanitätsdienstliche Zukunftsplanung und Weiterentwicklung zu betrachten.
Das Gesamtkonzept zur Modernisierung der Bundeswehr und damit des Sanitätsdienstes basiert auf drei Säulen: Das Weißbuch der Bundesregierung 2016 beinhaltet dabei die strategisch-politischen Vorgaben und befasst sich mit der Frage des „Wohin?“. Die KdB differenziert das Aufgabenspektrum mit strategisch-konzeptionellen Vorgaben aus und beantwortet die Frage des „Wie?“. Als dritte Säule legt das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr (FPBw) Umfang und Ausstattung fest und ist bestimmender Faktor für das Handlungs- und Leistungsvermögen der Streitkräfte und damit bestimmend für das „Womit?“.
Transparent und vorausschauend soll diese Zukunftsplanung in den drei Zwischenschritten „2023, 2027 und 2031“ die haushaltsbedingten Herausforderungen bedienen und die drei Fragen „Wohin? Wie? Womit?“ beantworten können. WAS aber genau sind für den SanDstBw denn die Herausforderungen, die sich mit Blick auf längerfristige Überlegungen ableiten lassen mögen?
Die Erfahrungen aus den bisherigen und laufenden Auslandseinsätzen weisen eine eindeutige Tendenz zur „langfristigen Bindung“ auf. Hüllensysteme im derzeitigen Materialbestand und in der nachträglichen Beschaffungsplanung befindliche sanitätsdienstliche Behandlungseinrichtungen folgen zwar grundsätzlich dem Ansatz des mobilen und zukünftig hochmobilen Einsatzes, der Beanspruchung in extremer klimatischer Umgebung halten diese Systeme allerdings auf Dauer nur begrenzt stand. Robuste geschützte oder gar festbaugleiche Systemlösungen könnten zukünftig frühzeitig geplant und eingesetzt werden.
Die Beschaffungsplanung für die Materialanforderungen zum robusten Einsatz im Rahmen der LV/BV wiederum folgt der Forderung, hochmobil verlegbar zu sein und gleichzeitig einen geeigneten Schutz gegen feindliche Waffenwirkung zu bieten.
Die Anforderungen an sanitätsdienstliche Behandlungseinrichtungen der Zukunft werden neben der grundsätzlichen Mobilität und dem gebotenen Schutz noch weiter verstärkt an die Möglichkeit zur schnellen Verlegbarkeit geknüpft werden. Gleichzeitig wird die Modularität noch stärker in den Vordergrund gerückt werden müssen. Insbesondere mit Blick auf mögliche Szenare im Kontext LV/BV wird mittelfristig der Bedarf an kleineren Behandlungseinrichtungen, die diese Anforderungen erfüllen, weiter steigen.
Dabei ist der Bedarf an sanitätsdienstlich qualifizierten Transport- und Verbringungskapazitäten nicht zu vernachlässigen. Besonders im Bereich des Forward AirMedEvac ist der Forderungsbedarf unverändert aufrecht zu erhalten, hier besteht weiterhin Nachholbedarf hinsichtlich verfügbarer Systeme unter Einsatzbedingungen.
In der Gesamtschau wird deutlich, dass medizinisch-fachlich hoch spezialisierte und dennoch kleine mobile Elemente für die erste traumatologische bzw. notfallchirurgische Versorgung in großer Zahl vorgehalten werden müssen. Dennoch werden auch ausreichende Halte-Kapazitäten „holding capacity“ notwendig sein, ebenso eine insgesamt deutliche Erhöhung von landgebundenen Patienten-Transportkapazitäten.
Smarte Diagnostik, durch voranschreitende Digitalisierung in der Medizin, wird in der Zukunft unweigerlich zu einer Effizienzsteigerung in der sanitätsdienstlichen Versorgung führen. Der Einsatz automatisierter Systeme könnte sich positiv auswirken auf den erforderlichen Personalansatz. Derartige Systeme liegen aber noch in ferner Zukunft und müssen ihre Feldtauglichkeit erst noch erbringen.
Mit einer weiteren Ausprägung der bereits heute schon möglichen Modularisierung von Materialkomponenten als Teil der sanitätsdienstlichen Versorgungeinrichtungen und unter besonderem Fokus auf das Ausbringen von Teilfähigkeiten, ist es denkbar, dass zukünftig zur Ausrichtung auf ein Einsatzszenar und die zu erwartende Bedrohungslage sanitätsdienstliche „Standard-Leistungspakete“ noch besser zielgerichtet zusammengesetzt werden könnten. Je nach Anforderungsprofil und Einsatzszenar könnte z. B. das „Trauma-Paket“, das „Epidemie-Paket“, das „Truppenarzt-Paket“, sowie das „Force-Health-Protection-Paket“, oder das „Berater-Ausbilder-Paket“ ausgewählt und zur Wirkung gebracht werden.
Auf den ersten Blick mögen diese Bezeichnungen vielleicht ungewöhnlich erscheinen. Mit den technischen Möglichkeiten der Zukunft werden die bereits heutzutage hochmodernen und weit entwickelten medizinischen Geräte einen weiteren Entwicklungs- und Verkleinerungszyklus zurückgelegt haben, sodass dieser Ansatz durchaus bereits heute schon realistisch klingt.
Nicht zuletzt die vielbeschriebene Konkurrenzsituation auf den Arbeitsmärkten der Zukunft wird sich weiter verschärfen. Die oben gegangenen Gedankenschritte zielen so vor allem auf die Schonung des Personalkörpers, unter Beibehaltung des hohen Anspruchs der adäquaten sanitätsdienstlichen Unterstützung ab. Die gewaltige Wirkung auf die Moral und das Sicherheitsgefühl der Truppe in jedwedem Einsatz, in unterschiedlichsten Bedrohungslagen und schwierigsten Szenarien wird oftmals immer noch verkannt oder möchte nicht angesprochen werden. Gleichzeitig bewirkt das Wissen um die Professionalität in der sanitätsdienstlichen Unterstützung für unsere Soldatinnen und Soldaten ein hohes Maß an Vertrauen in die militärische Führung.
Sanitätsdienstliche Versorgungsqualität = Fachliche Leitlinie
Der in den 1990er Jahren erstmals formulierte und seit dem am Stand von Wissenschaft und Technik weiterentwickelte Grundanspruch an die medizinische Versorgungsqualität, die der SanDstBw für die ihm anvertrauten Soldatinnen und Soldaten erbringt, konnte auch in die Neufassung der KdB vom 20.07.2018 eingebracht werden:
„Leitlinie für die Qualität der sanitätsdienstlichen Versorgung in Auslandseinsätzen und Missionen der Bundeswehr ist die Gewährleistung eines Ergebnisses, das qualitativ dem fachlichen Standard in Deutschland entspricht, insbesondere ist dabei das Einhalten der fachlich abgeleiteten und durch die NATO vorgegebenen Zeitlinien zu beachten.“
Allerdings ist unverändert immer wieder festzustellen, dass zwar im fachlichen Kontext allgemein deutlich wird, wie diese Formulierung auszulegen und zu verstehen war und ist. Im planerischen Kontext und oftmals auch allgemein-militärischen Kontext wurde die vormalige Benennung dieses medizinischen Versorgungsgedankens als „Maxime“ (Leitsatz; Grundprinzip bzw. Grundsatz; Leitlinie; Richtschnur) allerdings immer wieder als Streben nach einer Goldrandlösung ausgelegt (Maximal = die Größtmögliche). Dies war jedoch niemals intendiert, denn der Vergleich mit einem zivilen Behandlungsergebnis beinhaltet natürlich selbst die im zivilen Sektor vorkommende Überlastung der Versorgungssysteme beim Massenanfall Verletzter (MANV), die genauso im militärischen Kontext in Kauf zu nehmen wären. Die im FPBw ausgebrachten Rationale sanitätsdienstlicher Ausplanung von Versorgungsleistungen und -ketten erfolgt ausschließlich zur Abdeckung des durchschnittlich im Laufe eines Tages oder einer Periode anfallenden Patienten-/Verwundetenaufkommens unter Inkaufnahme von Spitzenbelastungen, die dann auch nicht mehr mit dem Prinzip der Individualmedizin zu versorgen sind.
Um dieses Missverständnis zukünftig zu vermeiden, wurde beschlossen, ab sofort auf die „Leitlinie“ und nicht mehr auf die „Maxime“ zu referenzieren.
Trotzdem bleibt dieser Aspekt ein zentrales Thema sanitätsdienstlicher Anstrengungen für die Streitkräfte, die wir alle konstant im Blick behalten müssen und als Errungenschaft moderner Einsatzgrundsätze verteidigen sollten. Im Rahmen der Analysen zum Fähigkeitsprofil der Bundeswehr 2020 wurde der „sanitätsdienstliche Level of Ambition (LoA)“ kontinuierlich hinterfragt, insbesondere unter dem Vorwand, ob nicht bereits im Falle der BV aufgrund der „Ausnahmesituation“ eine deutlich reduziertere sanitätsdienstliche Versorgung hingenommen werde müsse. Selbst die Inkraftsetzung der Fachstrategie GesVersBw 2031verzögerte sich unter dieser aus h.E. hinkenden Argumentation. Letztlich führte die Diskussion um die Versorgungsqualität der Streitkräfte dazu, dass mit einer Fußnote nachfolgender Satz in die Fachstrategie aufgenommen wurde:
„Der als Referenz für die Ergebnisqualität dienende fachliche Standard in Deutschland ist kontextabhängig. Er beinhaltet dabei auch die katastrophenmedizinische Gesundheitsversorgung bei einem Massenanfall von Patienten, wie sie in der gesamtstaatlich verantworteten Gesamtverteidigung als auch in der Bündnisverpflichtung vorgesehen ist.“
Planungsergebnisse Fähigkeitsprofil der Bundeswehr (FPBw) und Handlungsoptionen
Mit dem FPBw wurde ein grundsätzlich neuer Weg eingeschlagen, Streitkräfteplanung durchzuführen. Ausgehend von den NATO-Planungszielen wurden erstmals mit dem vorläufigen FPBw und dem FPBw 2018, fokussiert auf das Planungsjahr 2023 die notwendigen Bedarfe zur Erfüllung dieser – zumindest formell – extern vorgegebenen Planungsziele inhaltlich definiert und abgeleitet. Im Ergebnis stand ein Ressourcenbedarf, der für die Politik u. a. das „Preisschild“ für das dort zu erbringende LoA umriss. Die Planung für die zwei darauffolgenden wesentlichen Jahresscheiben 2027 und 2031 waren zwar nicht für alle Planungskategorien angelegt, aber trotzdem so weitreichend, dass ein halbwegs realistischer rüstungsbezogener Umsetzungshorizont ersichtlich wurde. Für den SanDstBw und die SKB nicht überraschend, aber deutlich herausgearbeitet wurde dabei ein massiver Bedarf für die Einsatzunterstützungskräfte.Für den Zwischenschritt 2031 ergab sich ein planerischer Aufwuchs, der jeweils etwa das Doppelte des Personalumfangs umfasste, sowie die Schlussfolgerung, dass eine Unausgewogenheit in den einzelnen S_RSV zu entsprechenden Handlungsunfähigkeiten in den SysV führen würde.
Die Einbeziehung eines als „realistisch“ bezeichneten Ressourcenrahmens als Vorgabe für das Fähigkeitsprofil 2020 wurde durch eine deutliche Vorgabe eines Ressourcenrahmens sichergestellt, der mit den ersten Vorgaben für das Fähigkeitsprofil 2021 und dem Fokus auf den Zeithorizont 2027 erkennbar fortgesetzt wird.
Als strikte Vorgabe der Leitung BMVg bei allen Überlegungen bleibt festzuhalten, dass die Personalgrenze von 203.000 Soldaten nicht zu überschreiten ist. Diese Grenze ist dabei nicht willkürlich gewählt, sondern einerseits abgeleitet aus einer Analyse des Personalwesens, wie viele Soldatinnen und Soldaten für den Dienst in den Streitkräften realistisch zukünftig nachhaltig gewonnen werden können. Leider ist dies für den Sanitätsdienst nicht völlig schlüssig, da unsere Bewerberquoten unverändert hoch und sehr zufriedenstellend sind und bei Mehreinstellung weiterhin eine Bestenauslese gesichert wäre. Eine Anhebung der Vorgaben für den Sanitätsdienst trotz Deckelung in übrigen Bereichen wäre also durchaus eine Handlungsoption und liesse eine planerische Überschreitung der Planzahlen für den SanDstBw zu.
Mittlerweile sind aber auch die anteiligen Personalkosten aus den absolut verfügbaren Haushaltsmitteln des EPl 14 in der Diskussion in den Fokus gerückt. Bei der nun gegebenen knappen Ressource Personal und den entsprechend abgeleiteten materiellen Forderungen erweist sich das Fähigkeitsprofil nun auch als Werkzeug, den militärischen Ratschlag an die Politik zu formulieren, um nun in einer Umkehrung des Ansatzes bei gegebenen Ressourcen einen Abgleich nationaler Ambitionen gegenüber der möglichen Ressourcenbereitstellung sicherzustellen.
Bei den gegebenen Vorgaben werden sich für den SanDstBw jetzt die üblichen Überlegungen eines ökonomischen Konfliktes ergeben:
- Bleibt die Ausplanung der Sanitätskräfte auf dem bestehenden niedrigen Niveau, in Bezug auf die anwachsenden Aufgaben einer Massenversorgung, oder anders ausgedrückt: „population at risk“, so sind aufgrund einer relativen Mangelversorgung höhere Verlustquoten und ungünstigere Langzeitfolgen für die Verletzten (z. B. höhere Anzahl an Amputierten; höhere Anzahl an PTBS-Erkrankten; geringere Anzahl an Erwerbstätigen nach kriegsbedingter Erkrankung) hinzunehmen. Diese Argumentation bzw. Fakten der Öffentlichkeit, insbesondere vor dem Hintergrund einer sinkenden Geburtenrate und einem zunehmend ansteigenden Gesundheitsempfinden, zu vermitteln ist nicht Aufgabe des Sanitätsdienstes, sondern muss im Rahmen einer Kommunikationsstrategie durch die Politik zu erbringen sein. Negative Einflüsse auf die Bewerberaufkommen bereits vor dieser Situation sind zu vermuten.
- Eine weitere Handlungsmöglichkeit besteht in der Absenkung des LoA. Die weiterhin breit aufgestellten Truppen würden nur in der jeweiligen Konfiguration angezeigt und zum Einsatz gebracht werden, in denen eine sanitätsdienstliche Unterstützung auch sichergestellt werden kann. Dieses wäre bei gleichbleibenden Ausplanungsrationalen eine erhebliche Einschränkung verfügbarer Kräfte und den NATO-Partnern zu vermitteln.
- Die dritte Option wäre ein harmonisches Absenken der kämpfenden Kräfte auf das Niveau einer realistischen Versorgbarkeit zugunsten eines Aufwuchses der Sanitätskräfte. Dies führt auf der einen Seite zu einer optimalen sanitätsdienstlichen Unterstützung, hat aber unmittelbare Auswirkungen auf die Erfüllung des gesamtmilitärischen Potentials, das in Folge ebenfalls gesenkt werden müsste. Zugunsten einer geringeren Breite und Verfügbarkeit der Kampf- und Kampfunterstützungstruppe wäre trotzdem insgesamt ein größerer Nutzen für das Gesamtsystem Bundeswehr entstanden.
Allen Möglichkeiten gemeinsam ist eine elementare (militär-)politische Entscheidung als Ausgangslage. Alle drei Optionen führen ebenfalls zum Nichterreichen von Teilzielen. Für den Sanitätsdienst ist allerdings die erste der Optionen die am wenigsten verantwortbare, da sie uns zwangsläufig in die Situation bringen wird, unserem Ethos entsprechende eine medizinische Versorgung erbringen zu müssen, dieses aber systematisch nicht leisten zu können und damit weder unserem eigenen Personal, noch den uns Anvertrauten genügen zu können.
Aus sanitätsdienstlicher Sicht muss es gelingen, wenngleich unter hohem Aufwand eine ausreichende personelle und materielle Ausstattung des Sanitätsdienstes im Verhältnis der zu unterstützenden Truppe umzusetzen. Dies birgt zwar ebenfalls erhebliche Umsetzungsrisiken, da der LoA insgesamt und langfristig reduziert werden muss, ist aber in den ersten Ableitungen planerisch fundiert und sollte zum Erfolg führen.
Kräfteplanung und Ressourcenanpassung
Ein deutlicher Erfolg in diesem Zusammenhang war, dass die entsprechenden Erfordernisse zum Aufwuchs sowie die Planungsrationale grundsätzlich anerkannt wurden. Dies führte dazu, dass im Entwurf des FPBw 2020 die Mehrbedarfe von zunächst zusätzlichen 3.000 Sanitätskräften über mehrere Jahre planerisch berücksichtigt wurden. In der Umsetzung gestaltet sich dieses jedoch wie erwartet schwierig, da die bestehenden ökonomischen Zwänge durch COVID-19 nicht geringer geworden sind.Innerhalb dieser Unsicherheiten gelang es allerdings in verschiedenen Iterationsschritten immer eindrücklicher die Kräfteplanungen anzugehen. Ausgehend von den generischen Kräftezuordnungen traten zunehmend präzisierte Überlegungen zu den logistischen Konsequenzen und voneinander abhängigen Systemen in der Rettungskette hinzu. Neue Anforderungen, die bisher konzeptionell noch nicht ausformuliert waren, kamen hinzu, wie z. B. die Holding Capacity in Casualty Staging Units, flexibel ergänzt z. B. an intensiv genutzten Role 3 Einrichtungen oder im Bereich der AIRMEDEVAC-Startzonen. Der Umfang an STRATMEDEVAC wurde präzisiert und jenseits der aktuellen Einzelfalltransporte im IKM mit den bereits etablierten Lufttransportmitteln angedacht. Die Überlegungen zum strategischen Seetransport führen zu Bemühungen einer Anpassung für eine Grundbefähigung im aktuellen Rüstungsprojekt MUSE und die Planungen zur Wieder-Etablierung von Eisenbahn-gestützten Transportoptionen, welche in der Bundeswehr bis in die 2000er noch vorgehalten, dann aber abgewickelt wurde, bekamen ebenfalls im Rahmen der COVID-19-Krise von völlig unverhoffter Seite Bestätigung und Rückenwind.
Eine weitere Präzisierung der Überlegungen wird erfolgen können, wenn die Vorarbeiten zur simulationsbasierten Analyse der Rettungskette (simbARk) abgeschlossen sein werden. Mittels eines Simulationsprogramms wird es damit möglich sein, Engpässe, Leerläufe und normale Versorgungswege in der Sanitätsunterstützung von TrT aufzuzeigen und ggf. zu optimieren oder streitkräfteplanerische Anpassungen vorzunehmen.
Der Aufwuchs des SanDstBw wird es mit sich bringen, dass es in den aktuellen Einheitsaufstellungen der Kommandos Anpassungen geben wird. Anders als in anderen TSK bzw. milOrgBer, die ihre jeweils bestehende Grobstruktur unwesentlich anpassen oder umstellen müssen, führt der Aufwuchs im Sanitätsdienst zur Aufstellung neuer Einheiten (bereits erfolgt: SanRgt 4 in Rheine), zur Aufspaltung bestehender Bereiche und damit sogar zur Übernahme weiterer, zuvor bereits aufgegebener Standorte.
Neue Führungsstruktur und Ausblick
Neben der Neuordnung von Truppenkörpern ergeben sich auch Auswirkungen auf die Führungsstrukturen der Bundeswehr. Demzufolge waren aufgrund der denkbaren unterschiedlichen Szenare auch die obersten Führungsstrukturen des Sanitätsdienstes flexibler und durchhaltefähiger zu gestalten. Erfahrungen mit der Bewältigung der Corona-Krise aus dem Einsatz-Führungs-Zentrum (EFüZ) des KdoSanDstBw waren die Grundlage, um ein skalierbares Führungselement für das Kdo aufzustellen und bereits im Grundbetrieb als Kernelement vorzuhalten. Absicht ist es jederzeit auf Anfragen und Aufträge aus dem BMVg reagieren, und kurzfristig aufwachsend, individuell auf Lagen reagieren zu können. Grundstrukturiert in J-Elementen, dauerhaft unterstützt um die Kernelemente PECC und MedIntel sollen Routinen entwickelt werden, um in stärkster Konfiguration den Sanitätsdienst im Falle der Landesverteidigung von dort fachlich führen zu können. Weitere Anpassungen werden im Abgleich mit den LI/LL aus COVID-19 in den nächsten Monaten intensiv untersucht.
Die Corona-Krise hat verdeutlicht, dass der SanDstBw seine unbedingte Stärke aus der Fachlichkeit zieht. Alle Fähigkeiten, fachliche Weisungen innerhalb und für die Bundeswehr zu gestalten, sowie Hilfsanforderungen, die von außerhalb über die koordinierenden Stellen an den SanDstBw herangetragen wurden, zügig und hochwertig abzuarbeiten, beruhten primär darauf, dass unser Kommando und die nachgeordneten Bereiche stets in einer engen Kooperation von fachlichem Spezialwissen und militärisch effektiv geführtem Umsetzungselement im Kdo gewirkt haben. Unsere einheitlich aufgebauten Elemente zur öffentlich-rechtlichen Aufsicht einerseits, der handlungsfähigen Führungselemente zur Umsetzung von nötigen Konsequenzen andererseits, ganz im Sinne eines „one-health-Ansatzes“, wurden während der Krise in breiten fachlichen Kreisen als vorbildlich bezeichnet.
Diese Verknüpfung von Fachwissen und direkter Anwendung in einem effektiven und durchhaltefähigen Kommando weiter auszubauen wird Ansatz der aktuellen Weiterentwicklungsbemühungen sein.
Die neuen Anforderungen sind für den Sanitätsdienst eine echte Herausforderung in der Umsetzung und ein klarer Meilenstein auf dem Weg in die Zukunft. In der letzten Strukturreform wurde der SanDstBw aufgrund eines hohen Spardruckes idealtypisch an die Anforderungen des IKM angepasst, im Führungsbereich nur rudimentär und nicht durchhaltefähig ausgebracht.
Fachlich hingegen ist der Sanitätsdienst exzellent aufgestellt und beweist seine hohe Funktionalität in der täglichen Truppenarztsprechstunde, in der klinischen Akut- und Regelversorgung sowie in den Einsätzen und hochanspruchsvollsten Lagen jederzeit eindrucksvoll zum Wohle der Soldatinnen und Soldaten. Der SanDstBw ist in der medizinischen Versorgungsqualität dem zivilen Standard vollständig entsprechend und überzeugt umfänglich in der individuellen Ausbildungsqualifikation des Personals, welches einsatzbedingt in Teilbereichen sogar breiter aufgestellt ist.
Die notwendige Skalierung für eine strukturierte Massenversorgung gelingt allerdings aufgrund der zuvor randgestrickten Ausplanung nur unter größten Anstrengungen und, wie zuvor beschrieben, auch nur für einen kleinen Teil der Streitkräfte. Wenngleich konzeptionell und planerisch sauber begründet, ist der nötige Anpassungsumfang für den SanDstBw dennoch so erheblich, dass die angemeldeten Ansprüche wiederholt infrage gestellt werden.
Hier werden für die Zukunft eines leistungsfähigen Sanitätsdienstes unverändert trotz bester Argumente dicke Bretter zu bohren sein.
Anschrift des Verfassers:
Generalarzt Dr. Johannes Backus
Kdo SanDstBw, Abt. A
Von-Kuhl-Straße 50
56070 Koblenz
E-Mail: JohannesBackus@bundeswehr.org
Datum: 05.10.2020
Wehrmedizin und Wehrpharmazie 3/2020