03.09.2020 •

Casualty Move 2020 (CAMO 20):

Eine multinationale Planübung zum Trainieren sanitätsdienstlicher Unterstützungskonzepte für einen Großverband am Multinational Medical Coordination Centre / European Medical Command

R. Michel

Mit dem Wales Summit stimmten 2014 die Staatschefs der NATO der Entwicklung des Framework Nation Concept / Rahmennationen-Konzept (FNC) zu.

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Abb. 1: Übungsplanungsprozess
Mit dem Wales Summit stimmten 2014 die Staatschefs der NATO der Entwicklung des Framework Nation Concept / Rahmennationen-Konzept (FNC) zu. Für europäische Staaten besteht der Kern des Konzepts in einer gemeinsam strukturierten Entwicklung militärischer Fähigkeiten in multinationalen Clustern und dem Aufbau von Großverbänden. Diese Fähigkeiten sollen durch eine dauerhafte Zusammenarbeit erhalten und verbessert werden, womit das FNC letztlich die Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses stärkt und für eine verbesserte transatlantische Lastenteilung sorgt.

Der Zentrale Sanitätsdienst der deutschen Bundeswehr ist für die Koordination im sog. „Medical Cluster“ zuständig. 2017 haben 7 Nationen dieses Clusters im FNC entschieden, das Multinational Medical Coordination Centre (MMCC) zu entwickeln. 2019 wurde diese Initiative mit einem PESCO-Projekt der Europäischen Union, dem European Medical Command (EMC), zu einer Entität, dem MMCC/EMC, zusammengefasst. Ein Schwerpunkt des FNC Medical Clusters ist die Entwicklung von Konzepten der multinationalen sanitätsdienstlichen (sandstl) Versorgung von größeren multinationalen Truppenkörpern (ab Divisionsebene).

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Abb. 2: Übungsgrundstruktur
Das MMCC/EMC in Koblenz führte vom 27. Januar bis zum 7. Februar 2020 eine multinationale Planübung (Wargame) mit 60 Teilnehmern aus 10 Nationen zur Beübung der sandstl Unterstützung (Ustg) eines multinationalen Großverbandes (Larger Formation), hier der 1. Panzerdivision (1. PzDiv), im Rahmen einer NATO Artikel 5 (Art. 5) Major Joint Operation (MJO) durch. Basierend auf den taktischen Daten einer vorherigen Übung der 1. PzDiv, integriert in das „SKOLKAN 1” Szenario der NATO, wurde die sandstl Planübung „CAMO“ entwickelt.

Dabei lag der inhaltliche Schwerpunkt auf Konzepten, Prozessen und Verfahren der sandstl Führung, Kontrolle, Kommunikation, Computersysteme und Information (Command, Control, Communications, Computers and Information, C4I) und der Koordination und Steuerung des Patientenstroms (Patient Flow Management). Die Übung richtete sich jeweils an die sandstl Stabsanteile der 1. PzDiv sowie deren unterstellten Brigaden als Primärübungsteilnehmer (primary training audience, PTA) sowie dem übergeordneten 1. Deutsch/Niederländischen Korps und den eingesetzten Sanitätseinsatzverbänden (Medical Task Forces, MedTF) als Sekundärübungsteilnehmer (secondary training audience, STA).

Innerhalb des Übungsplanungsprozess (Abb. 1) wurde auf Ergebnisse bereits vergangener Unterstützungsleistungen des MMCC/EMC bei Großverbänden seit Ende 2018 zurückgegriffen. Eine gewisse Komplexität hierfür ergab sich aus dem Umstand, dass es sich um die erste Planübung mit diesem Schwerpunkt handelte. In enger Abstimmung mit dem PTA wurden dabei folgende Ziele festgelegt: 

  1. Beübung und Weiterentwicklung der sandstl Ustg für Larger Formations in einer Art. 5 MJO
  2. Generieren gemeinsamer Standards und Best Practices für das sandstl C4I und ein gemeinsames Patient Flow Management innerhalb der Joint Operations Area (JOA) für Larger Forma­tions mit dem Ziel, Entscheidungsprozesse und den Informationsaustausch auf allen Ebenen zu trainieren,
  3. Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Partnernationen und dem MMCC/EMC.


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Abb. 3: Übungsorganisation
Ausgehend von diesen Zielen wurde im nächsten Schritt eine geeignete realitätsnahe Übungsgrundstruktur (Abb. 2) entwickelt. Schwerpunkt für die Teilnehmer war die Bewältigung von sandstl Herausforderungen durch Führungsentscheidungen innerhalb einer Operation auf Divisions-/Brigadeebene. Weiterhin erfolgte das Aufstellen von taktischen und operativen Vorgaben des Übungsablaufs und die Vermittlung von Grundinformationen für die Übungsdurchführung wie beispielsweise Geschwindigkeiten von Fahrzeugen und Kapazitäten von Sanitätseinrichtungen (Medical Treatment Facility, MTF). Diese Phase war planerisch am umfangreichsten, da es eine Vielzahl an Details zu berücksichtigen galt.

Die erste der beiden Übungswochen stand unter dem Stichwort Erprobung des Ablaufes der Planübung sowie der Einweisung der Übungsleitung (Exercise Control, EXCON) und Einteilung der Teilnehmer in die Übungsorganisation; beispielsweise die Vermittlung der taktischen sowie operativen Vorgaben und die Grundzüge des Übungsablaufes der durch sogenannte Facilitators (FAC) beeinflusst und gesteuert wurde (Abb. 3). 20 Teilnehmer aus fünf Ländern wurden auf die Führungsebenen Brigade, Division und Korps verteilt, wobei wichtig war, dass die Übungsteilnehmer, sowie alle an der Übungsleitung Beteiligten dazu befähigt wurden, einen synchronisierten Übungsablauf zu gewährleisten. Dazu wurden die Inhalte für die zu beübenden Zellen führungsebenengerecht angepasst, damit die sandstl Herausforderungen mit dem Operationsverlauf der 1. PzDiv abgestimmt waren. Überprüft wurde schließlich alles mit einer Art Generalprobe, dem Dry-Run, um letzte Unstimmigkeiten abzustellen.

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Abb. 4: „Response Cell“ bei der Übungsdurchführung.
In der zweiten Übungswoche wurde zu Beginn eine Harmonisierung der Führungszellen und -ebenen (Abb. 4) zum Zwecke einer zusammenhängenden Übungsorganisation durchgeführt. Zur Ausbildung von Multiplikatoren nahmen auch Angehörige der FüAkBw, des ZSanDstBw, Sanitätsangehörige aus den Niederlanden, Belgien und den baltischen Staaten sowie Soldaten aus Dienststellen der NATO-Kommando- sowie Streitkräftestruktur und dem NATO MILMEDCOE als Beobachter an der Übung teil. Die Evaluation dieser erzeugte weitreichende Synergieeffekte für alle Übungsbeteiligten.

Ab Tag zwei der Übung wurde mit der defensiven taktischen Aktivität „Verzögerung“ begonnen. Jeder Tag startete mit einem morgendlichen Lagevortrag (inkl. des Medical Mission Briefings), welcher die Übungsteilnehmer mit Informationen zum Operationsverlauf und zur sandstl Lage versorgte. Bedingt durch die bereits laufende Operation mussten die Teilnehmer von Beginn an Lageinformationen auswerten, die Forderungen und Absichten des Kommandeurs umsetzen und eigene sandstl Entscheidungen treffen und deren Ausführung gewährleisten. Die taktische Aktivität wechselte im Laufe der Woche zur „Verteidigung“ und mündete schließlich in einem Gegenangriff, welcher neuartige ­Herausforderungen mit sich brachte und angepasste Handlungsweisen erforderte. Insgesamt kam es schnell zu Situationen, die durch klare Entscheidungen, Übertragung von Verantwortung, effizienter Kommunikation, Festlegung des Informationsbedarfes durch ein sandstl Meldewesen und Etablierung einer robusten und resilienten sandstl Führungsorganisation gemeistert werden konnten. Die Übungstage wurden mit einer After Action Review (AAR) abgeschlossen, um Erkenntnisse unmittelbar festzuhalten und diese der abschließenden Übungsevaluation zuzuführen. Dabei zeigte sich schon im AAR das enorme Innovations- und Entwicklungspotential der Übungsinhalte sowie die hohe Relevanz für das sandstl Führungspersonal.

Der letzte Übungstag galt ausschließlich der Zusammenführung aller in den Vortagen gesammelter Erkenntnisse und einer nochmaligen Rekapitulation der Übungswoche in einem Feedback-Verfahren, um die gemeinsam gewonnenen Erkenntnisse zu verifizieren.

FAZIT

CAMO 20 erwies sich als geeignet, um die o.g. Übungs- und Ausbildungsziele zu erreichen. Lessons identified werden in einem abschließenden Übungsbericht zusammengefasst. Diese gilt es nun thematisch in die Bereiche Konzeption, Personal, Führung, Ausbildung/Übung, Material/Logistik und Interoperabilität zu übertragen. Wesentliche Feststellung sind unter anderem, dass im Rahmen der sandstl Ustg einer MJO und erwarteten Ausfallraten ein dezentralisiertes System zur Steuerung des Patientenflusses eine enorme Robustheit und Resilienz, auch gegenüber Störfaktoren wie z. B. eingeschränkter Verbindung, aufweist. Ein solches System stützt sich im Wesentlichen auf die Fähigkeiten der MedTFs, welche jedoch noch nicht in den NATO Capability Codes / Capability Standards abgebildet sind. Weiterhin gilt es Meldeformate aller Ebenen auf ihre Effizienz und die zwingend notwendigen Meldeinhalte zu prüfen und unter Berücksichtigung bereits existierender Vorschriften und Best Practices anzupassen. Der Planung der sandstl Ustg als integraler Bestandteil der Operationsplanung kommt dabei besondere Bedeutung zu; die Faktoren Kräfte, Raum und Zeit in Verbindung mit der Schätzung der Ausfallrate, die durch G3 in Zusammenarbeit mit G2/G1 und G5 festgelegt werden, bestimmen die sandstl Schwerpunktbildung. Dabei gewährleisten die Mobilität, der schnelle und flexible Einsatz aller MTF sowie eine der Operationsführung angepasste Steuerung des Patientenstroms (z. B. Überspringen von Behandlungsebenen) eine sandstl Versorgung innerhalb der klinischen Zeitvorgaben. Unter den Bedingungen einer Art. 5 MJO mit erhöhtem Verwundetenaufkommen hat die Ebene 1 MTF eine wichtige Rolle bei der Verwundetensteuerung. Nicht alle Verwundeten/Erkrankten müssen zuerst in der Ebene 2 MTF einer Brigade für den Weitertransport aus der JOA stabilisiert werden. Hierzu müssen im Divisions / Korpsbereich HUBs eingerichtet werden, die die Patienten erneut untersuchen und für den Weitertransport aus der JOA für den strategischen MEDEVAC vorbereiten und stabilisieren. Es gilt zu prüfen, ob diese Fähigkeit durch Fähigkeiten der vorhandenen Capability Codes / Capability Standards der NATO sichergestellt werden können.

Ein Workshop zur Vertiefung der Erkenntnisse aus CAMO 20 ist geplant; folgende Handlungsfelder werden dabei weiter betrachtet:

  1. Etablierung einer durchhaltefähigen adaptiven sandstl Unterstützung der Operationen von Großverbänden mit hohem operationellem Tempo in einem unsicheren Umfeld. 
  2. Begegnung von Herausforderungen der multinationalen Führung, Kontrolle, Kommunikation und Information in einer dynamischen Operation.
  3. Gewährleistung eines robusten, resilienten und reaktionsfähigen PFM-Systems. z

 

Abbildungen bei Verfasser

Aus dem Multinational Medical Coordination Centre / European Medical Command: Direktor: Generalarzt Dr. Stefan Kowitz.

Verfasser:
Oberfeldapotheker Ronnie Michel
Exercise Branch
MMCC/EMC
Andernacher Straße 100, 56070 Koblenz
E-Mail: ronniemichel@bundeswehr.org 

Datum: 03.09.2020

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