18.01.2009 •

    DIE PAPIERGESTÜTZTE DIGITALE NOTARZTEINSATZDOKUMENTATION

    Ein Konzept auch für die Bundeswehr

    Die Dokumentation von Einsatzabläufen im Bereich der präklinischen Notfallmedizin wird nach wie vor „sehr unterschiedlich“ und mitunter auch „insuffizient“ gehandhabt. Dies ist umso bedeutsamer, als die Dokumentation ein wesentlicher Bestandteil der notärztlichen Tätigkeit ist. In erster Linie dient sie der Informationsweitergabe an die weiterbehandelnden Kollegen in der Zielklinik, aber auch der Einsatzerfassung unter medikolegalen Gesichtspunkten. Darüber hinaus bildet die Dokumentation die wesentliche Grundlage für ein umfassendes Qualitätsmanagement und für die Durchführung wissenschaftlicher Studien. Von entscheidender Bedeutung ist dabei in diesem Zusammenhang, neben der Frage nach den „Dokumentationsinhalten“, auch die Frage nach der “Dokumentationsqualität“. Verschiedene Untersuchungen, sowohl im inner-, als auch im präklinischen Bereich zeigten diesbezüglich eine Überlegenheit einer primär EDV-unterstützten Dokumentation im Vergleich zu einer traditionell handschriftlichen, (papiergestützten) Dokumentation. Allerdings wurde bisher die routinemäßige Anwendung und die flächendeckende Anwendung solcher primär elektronischen Dokumentationssysteme insbesondere durch deren deutlich eingeschränkte „Alltagstauglichkeit“ limitiert. Vor dem Hintergrund dieser Problematik, war es deshalb das Ziel eines Projektes an der Rettungshubschrauberstation „Christoph 22“ am Bundeswehrkrankenhaus Ulm in Zusammenarbeit mit der ADAC Luftrettung GmbH, ein alltagstaugliches medizinisches (Einsatz-) Dokumentationssystem für den Luftrettungsdienst zu entwickeln, welches insbesondere hinsichtlich Dokumentationsinhalt und -qualität einen neuen Standard setzen soll: Die papiergestützte, digitale Einsatzdokumentation (DINO – Digitale Notarzteinsatzdokumentation).

    Das von uns entwickelte System der papiergestützten digitalen Notarzteinsatzdokumentation DINO erfolgte unter folgenden maßgeblichen Vorgaben:

    1. Das Dokumentationssystem muss uneingeschränkt „alltagstauglich“ sein und dabei die Erfordernisse von „Dokumentation“ und „Qualitätssicherung“ gleichermaßen be - rück sichtigen. Umgesetzt wurden diese Forderungen durch die Synthese einer konventionellen, papiergestützten Dokumentation mit einer EDV-gestützten Dokumentation, bei der die Vorteile beider Verfahren genutzt werden, ohne dabei aber deren jeweiligen Nachteile mit in Kauf nehmen zu müssen.

    2. Es muss die Möglichkeit eines externen Qualitätsmanagements auf nationaler, wie internationaler Ebene bestehen. Als national gültiger Standard ist deshalb bezüglich des Dokumentationsinhalts - im Sinne eines „Kerndatensatzes“ - der Minimale Notarztdatensatz 2 (MIND2) berücksichtigt. Darüber hinaus werden aber als Basis für ein wesentlich weitergehendes medizinisches Qualitätsmanagement aber nicht nur wie bisher üblich, Anfangs- und Endpunkte der präklinischen Versorgung erfasst, sondern vielmehr sämtliche Vitaldaten sowie die am Patienten durchgeführten Maßnahmen über den gesamten präklinischen Versorgungszeitraum. Damit wird erstmalig der Block „Maßnahmen und Verlauf“ routinemäßig einem medizinischen Qualitätsmanagement zugänglich.

    3. Erhöhung der Dokumentationsqualität bei gleichzeitiger Reduktion des Gesamtdokumentationsaufwandes. Umgesetzt wurde diese Forderung durch den Einsatz einer EDV-gestützten Datenerhebung im gesamten Dokumentationsprozess.

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    Realisierbar wurde das Projekt durch den Einsatz einer neuartigen Dokumentationstechnologie, dem sogenannten dotformsâ (DiagrammHalbach, Schwerte, Deutschland), welches sich im wesentlichen aus drei Komponenten zusammensetzt, nämlich dem „digitalen Papier“, dem „digitalen Stift“ sowie dem dotforms-Anwendungs-Software Paket (Abb. 1):

    Das „digitale Papier“ gleicht in zwei grund - sätzlichen Eigenschaften einem herkömmlichen Formular: Es ist auf normalen Papier mit einem gewöhnlichen Layout bedruckt – zusätzlich verfügt dieses „digitale Papier“ jedoch über ein feines Punkteraster, welches man mit dem bloßen Auge lediglich als Grauschatten im Hintergrund wahrgenommen wird. Dieses Punkteraster kodiert die komplette Formularfläche als Koordinaten mit einer Genauigkeit von 0,3mm. Tatsächlich basiert das Pattern aus 6x6 Matrizen mit 36 Punkten. Jeder dieser 36 Punkte kann an 4 unterschiedlichen Positionen stehen, so dass sich eine Gesamtmenge von 436 absolut unterschiedlichen Matrizen mit einer Größe von 1,8mm x 1,8mm durch Permutation bilden lassen. Mithilfe dieser präziser Kodierung der Formularfläche kann jeder Punkt auf jedem Formular eindeutig repräsentiert und identifiziert werden.
    Der digitale Stift funktioniert auf den ersten Blick wie ein konventioneller Kugelschreiber – allerdings ist die Mine des „digitalen Stiftes“ drucksensitiv. Sobald man den Stift auf Papier aufsetzt und so ein Druck auf die (konventionelle Kugelschreiber-) Mine ausgeübt wird, entsendet der Stift einen feinen Infrarot- Strahl, der von den karbonhaltigen Punkten auf dem „digitalen Papier“ reflektiert wird. Diese Reflexionen werden von der CCDKamera des Stiftes gelesen und vom Stiftprozessor direkt in Koordinaten und weitere Werte umgewandelt. Die gesamten Informationen - bestehend aus Datum, Uhrzeit und Koordinaten – werden solange im Stift gespeichert, bis sie ausgelesen werden. Die interne Speicherkapazität des Stiftes beträgt dabei etwa 1 MB, was etwa 50 vollgeschriebenen DIN A4-Seiten entspricht. Durch Einstellen des Stiftes in eine USB-Docking-Station erfolgt die Datenübertragung auf den angeschlossenen lokalen PC oder über das Internet bzw. Intranet auf einen Server an eine dotforms Applikation. Mithilfe der dotforms-Applikation wird zunächst eine digitale Kopie des beschriebenen Formulars erzeugt. Damit steht ohne zusätzlichen Scanaufwand zunächst eine elektronische Kopie dieses Formulars - in einer wesentlich besseren Qualität als jeder Scan - für die elektronische Archivierung zur Verfügung. Darüber hinaus können eine Vielzahl von kundenspezifischen Applikationen entwickelt werden. Beispielhaft sei die Möglichkeit der Auslesung von Checkboxen (Konfidenzniveau 99,5%) und Zahlen (Konfidenzniveau 95%) genannt, welche als ASCII-Export zur Verfügung gestellt werden. Da der digitale Stift über eine Systemzeit verfügt, können beliebig viele Stifteinträge, sogenannte „penstrokes“, auf die Millisekunde genau datiert werden und in unterschiedlichen Formaten für eine weitere Verarbeitung zur Verfügung gestellt werden. Zudem erlaubt das dynamische („zeitabhängige“) Format der vom Stift generierten Daten in Verbindung mit der auf die Stifttechnologie speziell abgestimmten Handschrifterkennungs-Software („Character Recognition Software“) im Vergleich zu herkömmlichen Erkennungsmethoden, die auf statischen („zeitunabhängigen“) Dateiformaten beruhen, eine wesentlich verbesserte Erkennung. Sämtliche Daten werden mit einem ergonomischen Tool, dem sogenannten dotforms verifier, verifiziert und gegebenenfalls korrigiert, so dass eine 100%- ige Identität zwischen handschriftlicher Dokumentation und ASCII erzielt wird.

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    Der Einsatz dieser Technologie als Grundlage eines Systems zur Dokumentation präklinischer Einsatzabläufe stellt somit eine Synthese aus einer primär rein „konventionellen“, d.h. handschriftlichen Dokumentation auf Papier und einer primär rein „computergestützten“ Dokumentation (beispielsweise mit Hilfe von Notepads) dar. Dabei werden weitestgehend die Vorteile des jeweiligen Verfahrens genutzt, ohne aber gleichzeitig deren wesentliche Nachteile mit in Kauf nehmen zu müssen. Im Hinblick auf den Gesamtdokumentationsprozess als Basis eines umfassenden medizinischen Qualitätsmanagements, kommen hierbei insbesondere die Vorteile einer primär computergestützten präklinischen Einsatzdokumentation zum tragen. Die einzelnen Phasen des Dokumentationsprozesses gestalten sich demnach folgendermaßen (Abb. 2):

    1. Während der präklinischen Phase erfolgt die Einsatzdokumentation in gewohnter Weise mit Stift und Papier - aber eben primär computerunterstützt, indem die dotforms-Technologie mit „digitalem“ Stift (wird wie ein Kugelschreiber gehandhabt) und „digitalem“ Papierformular zum Einsatz kommt.
    2. Nach Abschluss der präklinischen Versorgung erfolgt an der Zielklinik die schriftliche In formationsweitergabe ebenso in gewohnter Weise, durch Übergabe des Originals des präklinisch erstellten Notarzteinsatzprotokolls an die weiterbehandelnden Kollegen.
    3. Nach Beendigung des Einsatzes erfolgt nun am RTH-Standort die eigentliche Datennachbereitung. Hierzu werden zu nächst die auf dem digitalen Stift gespeicherten Informationen einfach durch Einstellen des Stiftes in eine USB-Docking- Station auf einen stationären PC übertragen und ein elektronisches Faksimile des Formulars mitsamt Eintragungen als Graphikdatei archiviert. Mithilfe der dotforms Applikation erfolgt nun die Verifikation und ggf. Korrektur der präklinisch generierten Daten.
    4. Anschließend werden über eine Schnittstelle zur LIKS-Datenbank die medizinischen Einsatzdaten, zusammen mit abrechnungs- und flugbetrieblich relevanten Daten via Intranet direkt an die Zentrale der ADAC Luftrettung GmbH weitergeleitet und so u.a. einem externen medizinischen Qualitätsmanagement zugeführt.

    Layout des Notarzteinsatz - protokolls

    Das eigentliche Notarzteinsatzprotokoll und seine layoutmäßige Gestaltung mit dem darin enthaltenen Datensatz stellt die zweite wesentliche Säule des neuen Dokumentationssystems dar. Die Rahmenbedingungen für die Gestaltung des Notarzteinsatzprotokolls ergaben sich im wesentlichen aus den Anforderungen an den „Dokumentationsinhalt“, „Dokumentationsqualität“, aus den „technigespeischen Vorgaben“ durch die eingesetzte Dokumentationstechnologie und der Forderung nach einer uneingeschränkten „Alltagstauglichkeit“ sowie einem möglichst hohen Maß an „Bedienungsergonomie“ (siehe Abb. 3).

    Als Papierformat wurde DIN A3 quer gewählt, welches durch eine präformierte Falzung mittig in zwei DIN A4 Seiten (einer Vorder- und einer Rückseite) aufgeteilt wird. Das Protokoll ist „zweiblätterig“ angelegt, d. h. es besteht aus einem „Original“ sowie einem „Durchschlag“, sodass – unabhängig vom elektronischen Protokoll – immer zwei Papier-Hardcopies (nämlich 1x Original für die Zielklinik und 1x Durchschlag für den eigenen RTH-Standort) zur Verfügung stehen. Dies gewährleistet auch, dass selbst ein Totalausfall des digitalen Stiftes, ohne Auswirkungen auf den präklinischen Dokumentationsprozess im engeren Sinne bleibt. Um einerseits eine einfache, sichere und schnelle Dokumentation unter den präklinischen Bedingungen zu gewährleisten und andererseits, unter der Berücksichtigung der eingesetzten Technologie, eine möglichst hohe Dokumentationsqualität zu erreichen, wurden die Datenfelder der ersten Protokollseite ausschließlich als „Checkboxen“ (z. B. GCS) sowie als „numerische Felder“ (z. B. Blutdruckwerte) angelegt. Texteinträge sind nur in geringen Umfang notwendig (z. B. im Feld „Notfallgeschehen“) und können vom Notarzt/-ärztin individuell - ohne Beachtung besonderer Vorgaben beispielsweise hinsichtlich Schriftweise, etc. - vorgenommen werden. Auch für die Gestaltung der zweiten Protokollseite standen Praktikabilität, Alltagstauglichkeit sowie ein hohes Maß an Dokumentationsqualität im Vordergrund. So ist die Dokumentation der Vitalwerte (Blutdruck und Herzfrequenz) sowie der getroffenen Maßnahmen identisch mit der bei herkömmlichen Notarzteinsatz- bzw. Anästhesieprotokollen (hoher Wiedererkennungseffekt). Auch bei der Dokumentation von Medikamenten bzw. Infusionen und Perfusoren wurden bewährte Dokumentationsmuster übernommen. Für die Medikamentenliste ist ein Thesaurus hinterlegt, sodass eventuell notwendige Korrekturen im Rahmen der Einsatznachbereitung (dotforms verifier) schnell und effektiv vorgenommen werden können.

    Praktische Erfahrungen

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    Das Dokumentationssystem befindet sich seit Dezember 2006 an der Rettungshubschrauberstation „Christoph 22“ am Bundeswehrkrankenhaus Ulm in der praktischen Anwendungsphase – während dieses Zeitraumes wurde das Dokumentationssystem ständig weiterentwickelt und dabei mehr als 3200 RTH-Einsätze dokumentiert. Dabei hat sich das System insgesamt als sehr stabil erwiesen – zu keiner Zeit waren Störungen sowie Ausfälle von einzelnen Systemkomponenten oder gar des Gesamtsystems zu beobachten. Insbesondere der digitale Stift erwies sich als ausreichend robust und „alltagstauglich“ für das präklinische „Setting“ – sowohl hinsichtlich seiner mechanischen Stabilität und Akku-Kapazität, als auch hinsichtlich seines Handlings, welches absolut mit dem eines konventionellen Kugelschreibers vergleichbar ist. Die Protokollierung während des Einsatzes gestaltete sich problemlos, wobei wir von der Selbstverständlichkeit und Sicherheit, mit der das Personal selbst nach kürzester Zeit mit diesem Dokumentationssystem agierte, sehr überrascht wurden. Von den Mitarbeitern positiv hervorgehoben, wurde immer wieder die „intuitive Ausfüllbarkeit“ des Protokolls. Die Datenübertragung vom digitalen Stift auf den PC nach Einsatzende funktionierte ebenso reibungslos, wie die „Verifikation“ der präklinisch handschriftlich dokumentierten Daten. Dabei erwies sich die dotforms verifier Applikation als sehr anwenderfreundlich und komfortabel. Das System erwies sich aber nicht nur als uneingeschränkt „alltagstauglich“, sondern es entsprach auch hinsichtlich der „Dokumentationsqualität“ voll und ganz den Erfordernissen einer schnellen und sicheren Dokumentation: So betrug die primäre Dokumentationsqualität bezüglich der MIND2-relevanten Daten 96,7%.

    In einem weiteren Schritt wurde das System an 16 ADAC-Luftrettungsstationen über einen Zeitraum von 6 Monaten im Routinebetrieb getestet. Dabei wurden durch 217 Notärzte 7.022 RTH-Einsätze mithilfe von DINO dokumentiert. Auch bei dieser multizentrischen Testung konnte DINO seine „Alltagstauglichkeit“ unter Beweis stellen und zudem wertvolle Erfahrungen und Anregungen zur Weiterentwicklung des Systems geben. Deshalb werden noch in diesem Jahr sämtliche 33 ADAC-Luftrettungsstandorte mit dem neuen Dokumentationssystem ausgestattet.

    Digitale papiergestützte Dokumentation – auch ein Konzept für den Sanitätsdienst der Bundeswehr !

    Der Sanitätsdienst der Bundeswehr benötigt dringend ein ebenso „praktikables“, wie qualitativ hochwertiges medizinisches Konzept zur Auslands-Einsatzdokumentation, das insbesondere auch qualitätssichernden Ansprüchen genügt. Mit der digitalen papiergestützten Dokumentation scheint nun hierzu eine vielversprechende Technologie als Basis für eine derartige Einsatzdokumentation zur Verfügung zu stehen, denn die Technologie eignet sich nicht nur zur Dokumentation präklinischer Einsatzabläufe (BAT etc.) sondern auch zur Dokumentation innerklinischer Abläufe (Schockraumdokumentation etc.) sowie während der Repatriierung. Ein entsprechendes Konzept zur medizinischen „Einsatzdokumentation“, welches den Zeitraum von Verwundung bzw. Erkrankung im Einsatzland bis Abschluss der Behandlung im Heimatland umfasst, wird aktuell in einer fachlichen Arbeitsgruppe, der u.a. führende Mitglieder der Konsiliargruppe Anästhesie und Chirurgie angehören, erarbeitet. Die Arbeitsgruppe hat sich dafür ausgesprochen als „Dokumentations- Werkzeug“ eine Lösung auf Basis der digitalen Papiertechnologie zu favorisieren. Durch eine derartige Dokumentation wird ohne zusätzlichen Dokumentationsaufwand der Aufbau eines bundeswehrspezifischen Traumaregisters ermöglicht, das lückenlos jeden behandelten Patienten nach denselben Qualitätskriterien erfasst, die von der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie für das bundesweite Traumaregister vorgegeben sind. Aus einem solchen bundeswehrspezifischen Traumaregister lassen sich weitreichende Erkenntnisse zum Qualitätsmanagement ziehen und Empfehlungen für die Weiterentwicklung der Versorgung unserer verwundeten Soldaten ableiten, wie dies bisher nur den Kollegen des Sanitätsdienstes in den US-amerikanischen Streitkräfte mit der Joint Theater Trauma Registry möglich ist.

    Datum: 18.01.2009

    Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2009/1

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