18.06.2018 •

    Training in Manueller Medizin

    Chirotherapie an der Sanitätsakademie ist wieder aufgenommen

    Nach Evaluation und Neustrukturierung ist einer der über Jahre erfolgreichsten Lehrgänge im Sanitätsdienst der Bundeswehr im Januar 2018 wieder aufgenommen worden: Das Training „Manuelle Medizin / Chirotherapie“. Die Kommandeurin der Sanitätsakademie der Bundeswehr, Frau Generalstabsarzt Dr. Gesine Krüger, wies bei ihrem Dienstaufsichtsbesuch im Grundkursus am 17. Januar 2018 auf die besondere wehrmedizinische Bedeutung dieser Disziplin hin und zeigte sich hoch erfreut, dass die gemeinsamen Anstrengungen von Kommando Sanitätsdienst, Kommando Regionale Sanitätsunterstützung,

    Sanitätsakademie, Kon­siliargruppe Allgemeinmedizin und nicht zuletzt den über Jahre hochengagierten Mitgliedern der Wehrmedizinischen Gesellschaft für Chirotherapie und Osteopathie e.  V. (WGCO e. V.) um den Präsidenten, Oberfeldarzt Lutz-Michael Reichert (Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin Fürstenfeldbruck), den wissenschaftlichen Koordinator Oberstarzt Dr. Helge Radtke (Leiter Sanitätsversorgungszentrum Bonn), und den Ausbildungsleiter, Oberfeldarzt Dr. Helmut Stahlhofer (Leiter Facharztzentrum München), zur Neuimplementierung des Trainings geführt haben. 

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    Abb. 1: Kommandeurin SanAkBw besucht das Training Manuelle Medizin. (Foto Dr. Hartmann)
    Dem Sanitätsdienst der Bundeswehr ist es dabei wichtig, dass die Fortführung dieser Weiterbildung zur Zusatzbezeichnung Manuelle Medizin insbesondere unter Nutzung eigener, bundeswehrinterner Möglichkeiten stattfinden kann. Und diese Möglichkeiten bestehen an der Sanitätsakademie organisatorisch und infrastrukturell in idealer Weise.

    Die Manuelle Medizin

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    Abb. 2: Kommandeurin mit den Tutoren des Trainings, links Flottenarzt Dr. Hartmann, Abteilungsleiter A SanAkBw (Foto J. Langer SanAkBw)
    Nach der Definition der Bundesärztekammer ist die Manuelle Medizin die medizinische Disziplin, in der unter Nutzung der theoretischen Grundlagen, Kenntnisse und Verfahren aller medizinischer Gebiete die Befundaufnahme am Bewegungssystem – dazu gehören alle Strukturen, die in neuroreflektorisch-humoraler Wechselwirkung zum Bewegungsorgan stehen, sowie die Behandlung ihrer Funktionsstörungen mit der Hand unter präventiver, kurativer und rehabilitativer Zielsetzung erfolgt. Diagnostik und Therapie beruhen auf biomechanischen und neurophysiologischen Prinzipien. Die Manuelle Medizin hat dabei innerhalb der Allgemeinmedizin einen wissenschaftlich anerkannten Stellenwert. Ihre Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit ist indikationsbezogen, z. B. gemäß Leitlinienempfehlung beim akuten und chronischen unspezifischen Rückenschmerz anerkannt und entspricht den Ergebnissen alternativer medizinischer Verfahren.

    Nach Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), des obersten Beschlussgremiums der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland, der in Form von Richtlinien den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung bestimmt, ist die Methode etabliert und auch innerhalb der GKV abrechnungsfähig.

    Höchste wehrmedizinische Bedeutung

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    Abb. 3: Trainingsteilnehmer und Tutoren. (Foto Dr. Hartmann)
    Die wehrmedizinische Wertigkeit der Manuellen Medizin in Bezug auf Diagnostik und Behandlung muskuloskelettaler Erkrankungen wird dabei als sehr hoch eingestuft. Wie der wissenschaftliche Koordinator der WGCO e. V. , Oberstarzt Dr. Radtke, zur Häufigkeit indikationsrelevanter Erkrankungen erläuterte, erleiden in Deutschland ca. 70 % aller Erwachsenen 1 ­Rückenschmerzperiode innerhalb eines Jahres, hiervon 80 - 90 % nicht spezifisch. Zudem sind bis zu 30 % aller Arbeitsunfähigkeitstage durch Erkrankungen des muskuloskelettalen Systems bedingt und zwischen 68 - 86 % Patienten mit Rückenschmerz erreichen innerhalb eines Monats wieder die Arbeitsfähigkeit. In der Bundeswehr werden pro Jahr ca. 48.000 Behandlungen muskuloskelettaler Beschwerden verzeichnet. Somit bieten die innerhalb des allgemeinmedizinischen resp. truppenärztlichen Patientenguts typischerweise auftretenden Erkrankungen bzw. Gesundheitsstörungen ein klassisches und arbeitstäglich häufig anzutreffendes Indikationsspektrum für die Manuelle Medizin. Dr. Radtke selbst blickt bei seiner Patientenklientel des Sanitätsversorgungszentrums Köln im Zeitraum Januar 2004 bis Dezember 2012 auf folgenden prozentualen Anteil der verschiedenen Anwendungsgebiete bei immerhin 1350 Behandlungen(Patienten): HWS-Halswirbel 18 %, BWS-­Brustwirbel 36 %, LWS-Lendenwirbel 12 %, SIG-Kreuz-/Darmbein 34 % und andere Gelenke (z. B. Hüft-/Ellenbogengelenk) <1 %.

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    Abb. 4: Dr. Stahlhofer demonstriert einen speziellen Griffes. (Foto J. Langer SanAkBw)
    In Anbetracht dieser Zahlen ermöglichen nicht zuletzt die im Training vermittelten Kenntnisse in manualmedizinischen Untersuchungs- und Behandlungstechniken, alternativen Verfahren und ergänzenden Methoden wie insbesondere Physikalischer Therapie oder Krankengymnastik eine Qualität auf hohem Niveau in der Indikationsstellung und Verordnung der genannten Therapieverfahren. Damit verbessern sich auch die Möglichkeiten zur Steigerung von Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit innerhalb der Verordnungspraxis hinsichtlich muskuloskelettaler Erkrankungen. In diesem Zusammenhang kommt es zu einer deutlichen Steigerung von Effektivität und Effizienz allgemeinmedizinischer Versorgung von Gesundheitsstörungen durch verbesserte Verordnungspraxis, reduziertem Arzneimitteleinsatz sowie relevanter Reduzierung von Krankheitstagen. Diese sind bedingt durch unmittelbare Schmerzunterbrechung oder auch Vermeidung unerwünschter Arzneimittelwirkungen, Faktoren, die nicht selten nach Mobilisation und Manipulationsbehandlungen nicht mehr erforderlich sind. Reduzierte Überweisungshäufigkeit sowie die hieraus entstehenden Folgekosten sind ebenfalls aufzuführen. Neben dem Erlernen indikationsgerechter Anwendung darf die Manuelle Medizin auch für die wehrmedizinische Begutachtung nicht außer Acht gelassen werden: Denn die vermittelten Kenntnisse innerhalb der Ausbildung steigern die Fähigkeit zur Begutachtung durch das Erlernen der manualmedizinisch-orthopädischen Untersuchungstechniken sowie die Einschätzung von muskuloskelettalen Erkrankungen und Veränderungen unter funktionellen Gesichtspunkten.

    Das neukonzipierte Kurssystem

    Seit 1998 wurden an der Sanitätsakademie der Bundeswehr in München in seitens der Bayrischen Landesärztekammer anerkannten über zwei Jahre laufenden Weiterbildungskursen mehr als 350 Sanitätsoffiziere höchst erfolgreich ausgebildet. Auf verschiedenen Ebenen mussten in 2016, auch bedingt durch die Notwendigkeit der Umsetzung der neuen Soldatenarbeitszeitverordnung, Neuüberlegungen zum Training in Manueller Medizin geführt werden. Wie o. a. hat der Inspekteur des Sanitätsdienstes nach einer Unterbrechung von 1 Jahr angewiesen, das Training in neu strukturierter und gestraffter Form wieder aufzunehmen. Ausbildungsdichte, Ausbildungsqualität, der vergleichsweise kurze Weiterbildungszeitraum bei gleichzeitig geringen Ausbildungskosten im Vergleich zur Nutzung ziviler Weiterbildungsmöglichkeiten bedingen letztendlich eine Ausbildungsqualität, die ein im Vergleich zur gleichen Qualifizierung im zivilen Bereich nicht erreichbares Niveau sicherstellt. Ein entscheidendes Moment stellen auch die in höchster Weise qualifizierten verfügbaren Tutoren dar, für deren weitere Generierung auf der Zeitachse nun Vorkehrungen getroffen sind.

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    Abb. 5: OFA Dr. Stahlhofer mit OStA Dr. Scheel beim Unterricht. (Foto Dr. Hartmann)
    Das Training umfasst in 2018 einen dreiwöchigen Grundkursus, zwei zweiwöchige Aufbaukurse, und einen einwöchigen Abschlusskursus, die von mittels eines „Vorab-Castings“ ausgewählten 22 Sanitätsoffizieren belegt werden. Die wichtige Akkreditierung durch die Bayerische Landesärztekammer ließ sich noch Ende 2017 erwirken. Die Kursabsolventen werden somit in die Lage versetzt, nach Absolvierung der Kurse im gesamten Bundesgebiet entsprechend der Weiterbildungsordnungen ihrer zuständigen Landesärztekammern die Zusatzbezeichnung Manuelle Medizin / Chirotherapie zu erwerben.

    Besonders hingewiesen werden muss auf die Internetpräsenz und die übersichtlich gestaltete Homepage der Wehrmedizinischen Gesellschaft für Chirotherpie und Osteopathie e. V. (https://wgco-ev.de), auf der in eindrucksvollen Videos die notwendigen Griffe und Techniken dargestellt werden. Zusätzlich wecken Hintergrundberichte und Literaturverweise Interesse für das Fachgebiet und ermöglichen eine Wiederauffrischung des Erlernten.

    Im Training

    Während des Besuchs der Kommandeurin erläutert der „Nestor“ der wehrmedizinischen Manualmedizin, Oberfeldarzt Dr. Stahlhofer, die verblüffenden Wirkungen dieses therapeutischen Vorgehens gerade in den Einsätzen. Dort leiden viele Soldatinnen und Soldaten an Verspannungszuständen, Stress und Schlafmangel. Gerade hier kann der weitergebildete Truppenarzt mit solchen einfachen und nicht-medikamentösen Mitteln ohne Gefahr unerwünschter Arzneimittelwirkungen eine unverzügliche Besserung bzw. Reversibilität hervorrufen. Zudem lassen sich damit Krankheits- und Fehlzeiten reduzieren, komplette Ausfälle vermeiden und nicht zuletzt erscheint auch die unmittelbare Wiederherstellung der vollen Verwendungsfähigkeit realistisch. Beispielsweise gilt es, Piloten während anspruchsvoller Luftwaffeneinsätze mit der Belastung hoher G-Kräfte auf den HWS-­Bereich durch entsprechende Griffe am cervicothorakalen Übergang Hilfe zu leisten. Ähnliche funktionale Störungen beobachten die Orthopäden der Bundeswehr auch bei den Bedienern der immer häufigeren PC-Arbeitsplätze, im Bereich Cyber-IT und nicht zuletzt sogar bei Personen, die ihrem Smartphone verfallen sind. Die Bedeutung dieser Therapiemethoden für die Zukunft liegt somit tatsächlich „auf der Hand“.

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    Abb. 6: Kommandeurin begleitet den Unterricht (Foto J. Langer SanAkBw)
    Die Lehrgangsteilnehmerinnen und –teilnehmer erlernen u. a. Griffe zur Lösung cervicothorakaler Blockierungen, wie den „Intercostal Slinger“, oder den berühmten „Suboccipital Release“, eine Therapietechnik zur Entspannung von Faszien und Muskeln der Kopf-Nackenregion. Mit dem „Temporal Release“ Griff lassen sich cervicale temporale Kopfschmerzen gut behandeln und zusätzlich Hirnareale aktivieren, die für Konzentration und Aufmerksamkeit eine wichtige Rolle spielen. Bei funktionellen Cervicothorakalsyndromen mit cervicobrachialgiformer Schmerzausstrahlung, lokalen oberen Thorakalsyndromen kann zudem die obere BWS mit dem „modifizierten Doppelnelson“ Griff erfolgreich therapiert werden.

    Dr. Stahlhofer ist zudem ein engagierter Vertreter der „achtsamen“ Schmerztherapie und verweist gerne darauf, dass moderne manualmedizinische Behandlungsverfahren durchaus nicht mehr in Gänze dem früheren „knackenden“ Einrenken vergleichbar sind. Vielmehr kommen immer mehr „weiche“ myofasziale Techniken zur Anwendung, die auch entspannend wirken. In diesem Zusammenhang verweist er gerne auf einen der Begründer der Manuellen Medizin, den heute fast vergessenen Schweizer Landarzt Dr. Otto Nägeli (1843 - 1922). Dieser wendete mit 10 speziell beschriebenen Griffen althergebrachte Methoden der Heilkunst an und zeigte in seinen theoretischen Annahmen eine enge Verbundenheit zu Konzepten der klassischen Naturheilkunde. Als Weiterentwicklung dieser frühen Therapiemodelle demonstrierte Dr. Stahlhofer eindrucksvoll einen Griff am liegenden Patienten mit einer craniofazialen Release Technik der unteren Gesichts- bzw. Mundwinkelpartie, mit dem durch eine positive Aktivierung propriozeptiver Afferenzen eine ungemein entspannende Wirkung nachgesagt wird.

    Die Kommandeurin der Sanitätsakademie, die sich während ihres Besuches im Lehrgang selbst als „Patientin“ zur Verfügung stellte, zeigte sich abschließend beeindruckt von den Möglichkeiten der Manuellen Medizin, der Qualität des hier gebotenen Unterrichts und unterstrich die Absicht der Sanitätsakademie, das neue Trainingsdesign in jeder Hinsicht zu unterstützen. 

    Flottenarzt Dr. Volker Hartmann
    Sanitätsakademie der Bundeswehr
    Volker.Hartmann@bundeswehr.org

    Datum: 18.06.2018

    Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 1/2018

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