Koordination und Organisation der Wehrmedizinischen Forschung und ­Entwicklung

Aus dem Direktorat Wehrmedizinische Forschung und Fähigkeitsentwicklung Sanitätsdienst (Direktor: Generalarzt Dr. H.-U. Holtherm) an der Sanitätsakademie der Bundewehr (Kommandeurin: Generalstabsarzt Dr. G. Krüger)

Medizin unter Einsatzbedingungen – das ist die Besonderheit und eine der Kernkompetenzen des Sanitätsdienstes der Bundeswehr. Der militärische Einsatz unterliegt oft extremsten Bedingungen und Einflüssen, die das ärztliche Handeln vor ganz besondere Herausforderungen stellen. Medizin unter derartigen Umständen wird im zivilen Bereich nicht in ausreichendem Maße erforscht. Deshalb ist der Sanitätsdienst der Bundeswehr auf die eigenständige wissenschaftliche Untersuchung der medizinischen Grundlagen unter diesen besonderen militärischen Rahmenbedingungen angewiesen. Dies ist das Thema der Wehrmedizinischen Forschung und Entwicklung. Demnach stellt sie einen unverzichtbaren Baustein für die Leitlinie der sanitätsdienstlichen Auftragserfüllung dar, nämlich Soldatinnen und Soldaten im Falle einer Erkrankung, eines Unfalls oder einer Verwundung im Einsatz eine medizinische Versorgung zukommen zu lassen, die im Ergebnis dem fachlichen Standard in Deutschland entspricht. Allgemeiner trägt die Wehrmedizinische Forschung zur Zukunftsfähigkeit des Sanitätsdienstes der Bundeswehr bei.

Wehrmedizinische Forschung: Begriffsbestimmung

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Abb. 1: Bakteriologisches Arbeiten unter der Workbench im L3 Labor (Abb.: InstMikroBioBw)
Was ist also Wehrmedizinische Forschung? Dieser Begriff umfasst Forschungsaktivitäten aller medizinischen Fachgebiete und Approbationen, orientiert sich dabei aber stets an militärischen Aspekten und Fragestellungen. Als Beispiel sei die Entwicklung bestimmter Diagnoseinstrumente und -technologien zum Nachweis von C-Kampfstoffen, B-relevanten Erregern oder individuellen Strahlenschäden genannt.

An diesen Beispielen zeigt sich schon die enorme Spannbreite der Wehrmedizinischen Forschung. Sie findet an den Ressortforschungseinrichtungen des Sanitätsdienstes der Bundeswehr (den Instituten des medizinischen A-, B- und C-Schutzes, dem Institut für Präventivmedizin der Bundeswehr, dem Schifffahrtmedizinischen Institut der Marine sowie dem Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe) ebenso statt wie an den Bundeswehrkrankenhäusern und an den Zentralen Instituten des Sanitätsdienstes. Forschungsverbünde und -kooperationen mit zivilen Universitäten und Einrichtungen sind ein wesentliche Elemente der nationalen und internationalen Netzwerkbildung.

Den thematischen Rahmen militärischer Gesundheitsforschung im Geschäftsbereich des BMVg bilden die Forschungskorridore (siehe Tab. 1). In den Forschungskorridoren werden jährlich fortgeschriebene Schwerpunkte (siehe Tab. 2) festgelegt. Über die Schwerpunktbildung werden zukünftige Forschungsaktivitäten gesteuert und gebündelt, so dass die sanitätsdienstliche Forschung flexibel an Einsatzrealitäten und -notwendigkeiten angepasst werden kann.

Forschungsplanung

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Dieser Prozess, der eine Neuausrichtung der Wehrmedizinischen Forschung bedeutete, begann mit der Anfang 2017 in Kraft getretenen zentralen Dienstvorschrift A-820/1, welche den ­Rahmen für Aufgaben und Organisation der Wehrmedizinischen Forschung bildet. Seitdem findet im ersten Quartal jeden Jahres die Klausur Strategie Wehrmedizinische Forschung statt. Hier wird zunächst der aktuelle Stand der Gesundheitsforschung Bundeswehr bewertet, bevor dann innerhalb der einzelnen Forschungskorridore die Schwerpunkte für die zukünftige Forschung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr festgelegt werden. Berücksichtigung findet hier auch die sog. Prioritized Research List (PRL), ein COMEDS[ 1 ]-Dokument, das abgestimmte sanitätsdienstliche Prioritäten auf dem Gebiet der Forschung innerhalb der NATO abbildet. 

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Konsequenterweise nehmen auch NATO-Vertreter an der Tagung teil. Die festgelegten Forschungsschwerpunkte bilden (nach Billigung durch den Inspekteur des Sanitätsdienstes) als Jahresprogramm die Grundlage für zukünftige Forschungsaktivitäten.

Nachdem das Jahresprogramm gebilligt ist, haben sanitätsdienst­liche Einrichtungen nun die Möglichkeit, auf dieser Grundlage Forschungsanträge im Direktorat Wehrmedizinische Forschung und Fähigkeitsentwicklung Sanitätsdienst einzureichen. Positiv begutachtete Anträge werden in die Forschungskonferenz des Sanitätsdienstes aufgenommen, die jeden November an der Sanitätsakademie der Bundeswehr stattfindet. Hier werden die Anträge vorgestellt, diskutiert und bewertet.

Realisierung von Projekten

Als Ergebnis der Forschungskonferenz entsteht eine Liste von Projekten mit hoher wehrmedizinischer Relevanz und Dringlichkeit. Die Abteilung E der Sanitätsakademie – unter Federführung des Beauftragten des Inspekteurs des Sanitätsdienstes der Bundeswehr für die Forschung in der Gesundheitsversorgung der Bundeswehr – führt anschließend diese Projekte einer Realisierung zu.

Zunächst müssen noch inhaltliche Lücken in den Anträgen geschlossen werden, auf die zuvor von den vorzugsweise externen Gutachtern (meist international renommierte Wissenschaftler) hingewiesen worden ist. Zudem müssen notwendige Genehmigungen (z. B. Ethikkommission) eingeholt werden. Bei Vorhaben, die Bundeswehrangehörige als Probanden betreffen, müssen die jeweils zuständigen Beteiligungsgremien gehört werden. Projekte, die als politisch sensibel eingestuft werden (zum Beispiel bei Themen um Suizid oder Homizid von Soldaten), bedürfen einer separaten Genehmigung durch das Bundesministerium der Verteidigung.

Erst wenn alle diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann ein Projekt realisiert werden. Bei interner Forschungsbeauftragung (sog. Sonderforschung, Durchführung ausschließlich innerhalb des Sanitätsdienstes) bedeutet dies, die jeweilige Dienststelle mit der Durchführung zu beauftragen und ihr die notwendigen Finanzmittel zuzuweisen. Bei externer Forschung (Forschungsprojekte, die der Sanitätsdienst im eigenen Bereich nicht durchführen kann und die er deshalb an externe Forschungsnehmer vergibt) werden die Projekte derzeit über das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr realisiert.

Diese Vorbereitungen können selbst nach der Forschungskonferenz noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Deshalb wird der Start eines Projektes erst für den Beginn des übernächsten Jahres nach der jeweiligen Forschungskonferenz angesetzt. Demnach vergehen im Regelfall fast zwei Jahre von den ersten Planungen für ein Projekt (die nach der Veröffentlichung des Jahresprogramms beginnen können), bis es endgültig am Start steht.

Natürlich kann sich auch dringender Forschungsbedarf ergeben, der kurzfristig gedeckt werden muss. Dann kann ein Projekt „außerplanmäßig“, also ohne Vorstellung bei der Forschungskonferenz, in Gang gesetzt werden. Zum Beispiel initiiert das Psychotraumazentrum am Bundeswehrkrankenhaus Berlin aufgrund von Vorgaben des Bundesministeriums der Verteidigung derzeit ein außerplanmäßiges Sonderforschungsprojekt zur Therapieunterstützung mit Pferden für Soldatinnen und Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen.

Daten, Zahlen, Fakten

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Für die Wehrmedizinische Forschung und Entwicklung stehen jedes Jahr durchschnittlich etwa 5 Millionen Euro zur Verfügung. Um dieses Geld konkurrieren in den Forschungskonferenzen jedes Jahr durchschnittlich etwa 45 Forschungsprojekte. Tatsächlich starten können jedes Jahr durchschnittlich etwa 32 Projekte (siehe Abb. 2) – dies schließt aber noch einige Projekte ohne Haushaltsmittelbedarf sowie außerplanmäßige Projekte mit ein, die jeweils nicht in der Forschungskonferenz behandelt werden. ­Dennoch beträgt die durchschnittliche Erfolgsrate in der Forschungskonferenz über 50 % (für kostenintensive Projekte ist sie geringer).

Die durchschnittliche Laufzeit eines Projektes beträgt etwa drei Jahre (mit einer Spannweite von einigen Monaten bis über 10 Jahre), sodass innerhalb eines jeden Jahres knapp 100 Projekte aktiv sind.

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Tatsächlich fließen jedes Jahr nicht sämtliche für Forschungsprojekte vorgesehenen Haushaltsmittel ab, sondern jährlich durchschnittlich nur etwa 4 Millionen Euro (siehe Abb. 3). Hauptgründe für den Minderabfluss sind zum einen Forschungsprojekte, deren Beginn sich nach Festlegung der Haushaltsmittel noch verzögert, und zum anderen Forschungsprojekte, die weniger Geld verbrauchen als zuvor veranschlagt.

Das durchschnittliche Forschungsprojekt läuft demnach etwa drei Jahre lang und verbraucht pro Jahr etwa 40.000 Euro. ­Darunter sind allerdings sehr viele Projekte, die nur wenig Geld benötigen (fast ein Drittel liegt unter 1000 Euro im Jahr, meistens für Ethikkommissionen o. ä.), während nicht einmal 15 % aller Projekte mehr als 100.000 Euro im Jahr kosten. Externe Projekte sind meist deutlich teurer als Projekte der Sonderforschung, weil extern im Gegensatz zu intern auch Personal finanziert werden kann.

Wehrmedizinische Forschung in breiterem Rahmen

Diese Zahlen betreffen nur diejenigen Projekte der Wehrmedizinischen Forschung, die über die Forschungskonferenz bzw. über die Abteilung E der Sanitätsakademie eingebracht werden. Wehrmedizinische Forschung findet aber in einem viel breiteren Rahmen statt.

So gehört die Durchführung von Forschung im jeweiligen Fachgebiet schon zum Auftrag der Ressortforschungsinstitute des Zentralen Sanitätsdienstes, die deshalb im eigenen Bereich Forschungsprojekte planen, durchführen und aus eigenen Mitteln finanzieren können. Diese sogenannten „SollOrg-Projekte“ ordnen sich klar in die Forschungskorridore ein, unterliegen der Kontrolle und Prüfung durch Fachvorgesetzte, Institutsleitungen und wissenschaftliche Beiräte und werden zudem regelmäßig durch externe Gremien wie aktuell durch den Wissenschaftsrat evaluiert.

Zudem kann sich jeder Angehörige und jede Institution des Sanitätsdienstes um die Einwerbung von Forschungsdrittmitteln bemühen. Dabei kann es sich um die Teilnahme an multizentrischen klinischen Studien handeln oder auch um die Finanzierung eigener Projekte durch externe Geldgeber. Zum Beispiel hat in diesem Jahr am Bundeswehrkrankenhaus Berlin ein durch den Innovationsfond des Gemeinsamen Bundesausschuss gefördertes Drittmittelprojekt begonnen, bei dem die Praktikabilität der magistralen Herstellung von Bakteriophagen zur Therapie septischer Infektionen geprüft wird. So kann die erfolgreiche Einwerbung von Drittmitteln auch als Zeugnis der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit der beteiligten Institutionen gewertet werden.

Schließlich sind etliche der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Sanitätsdienstes als Privatdozenten oder als außerplanmäßige Professorinnen und Professoren an zivilen Universitäten und Hochschulen aktiv. Dort betreuen sie Dissertationen oder andere Qualifizierungsarbeiten von Studentinnen und Studenten verschiedener medizinischer Fachgebiete. Auch diese Arbeiten und die dabei entstehenden Erkenntnisse tragen zum Gesamtbild der Wehrmedizinischen Forschung bei.

Weiterentwicklung der Wehrmedizinischen Forschung

Bislang war institutionelle Forschung (Durchführung von „SollOrg-­Projekten“ in der alleinigen Verantwortung der Institution) nur an den Ressortforschungseinrichtungen möglich. Derzeit wird nun diese Möglichkeit auch an den Bundeswehrkrankenhäusern eröffnet. Dazu gehört die Einrichtung und Besetzung von neuen Dienstposten für Forschungskoordinatorinnen bzw. koordinatoren an den Bundeswehrkrankenhäusern, die für die zentrale Steuerung der Forschung und als Ansprechpartner für Forschungsfragen verantwortlich sind. Ergänzend hierzu werden Dienstposten für „Manager Forschung Wissenschaft“ und „study nurses“ etabliert.

Seit zwei Jahren bereits eingerichtet ist der Wahrnehmungsdienstposten im Stab des Kommandos Sanitätsdienst der Bundeswehr „Beauftragte bzw. Beauftragter für Forschung in der Gesundheitsversorgung Bundeswehr der Inspekteurin bzw. des Inspekteurs des Sanitätsdienstes der Bundeswehr“, wahrgenommen durch die Direktorin bzw. den Direktor des Direktorates Wehrmedizinische Forschung und Fähigkeitsentwicklung Sanitätsdienst an der Sanitätsakademie der Bundeswehr. Hauptaufgabe ist das Koordinieren aller operativen Tätigkeiten in der Wehrmedizinischen Forschung, darunter das Ausrichten der Klausur Strategie Wehrmedizinische Forschung und das Zusammenfassen ihrer Ergebnisse im Jahresprogramm, die Feststellung des mittelfristigen Forschungsbedarfs und der langfristigen Forschungsziele und generell die Weiterentwicklung der Wehrmedizinischen Forschung.

Strategische Ausrichtung – das Szenario GesVersBw 2031

Refokussierung auf die Landes- und Bündnisverteidigung, internationales Krisenmanagement, Partnerschaften und Kooperationen innerhalb der EU und NATO, aber auch mit weiteren Nationen prägen die Ausrichtung der wehrmedizinischen Forschung und Entwicklung in enger Abstimmung mit der Fähigkeitsentwicklung. Forschungsvorhaben, die sich mit dem geänderten Anforderungsprofil befassen, sind vorrangig umzusetzen, um die Erkenntnisse aus der Forschung entlang den vorgegebenen Zeitlinien in die Praxis umzusetzen. Mit Hochdruck werden hierfür Projekte vorbereitet. Drei Forschungsvorhaben seien exemplarisch dargestellt.

Für die optimale Versorgung von Verwundeten – basierend auf den errechneten Ausfallraten – muss eine adäquate Blutversorgung sichergestellt werden. Aktuell werden hierfür Forschungsvorhaben unter Federführung Kdo SanDstBw II und V ausgeplant, die sich mit innovativen Verfahren befassen. Auch das medizinische Management von CBRN-Gefahrenlagen oder Terrorlagen spielen eine entscheidende Rolle. Aktuell wird ein Vorhaben beauftragt, in dem es gilt, ein radarbasiertes Fern-Triagesystem zu entwickeln, das Verletzte automatisch erfasst und im Sinne einer effizienten Triage kategorisiert, um die Kräfte vor Ort einer minimalen Eigengefährdung auszusetzen und maximalem Rettungserfolg zur erwirken. Hierbei soll das Triagesystem UAV (unmanned aerial vehicle) zum Einsatz kommen, wobei es auf einer kommerziell verfügbaren Drohne basieren soll. Einen wesentlichen Beitrag zur optimierten sanitätsdienstlichen Ausbildung von Chirurgen leistet das Forschungsvorhaben „Einsatz von eXtended Reality Technologien zur Abbildung von lebensbedrohlichen Verletzungen als Grundlage zukünftiger Weiterbildung von damage control SURGEry Prozeduren (XRSURGE)“. Ziel der Studie ist es, die Technologie volumetrischer Videos zur Erzeugung von realistischen dynamischen 3D-Modellen eines Operationsszenarios einzusetzen. Die erzeugten Modelle werden anschließend für die Visualisierung in einer Virtual Reality Szene verwendet, um vollständig virtuell das Training in einer Opera­tionssituation durchzuführen.

Es gilt nun, vorausschauend und kreativ zünftige Szenare zu entwickeln und Situationen/Einsatzlagen sowie Ereignissequenzen, die den Übergang vom jetzigen zum zukünftigen Fähigkeitsprofil definieren, im Hinblick auf Unterstützung durch wehrmedizinische Forschung und Entwicklung zu betrachten. Diese Entwicklung unterstützen und begleiten die Forschenden und das Forschungsmanagement mit hoch innovativen Vorhaben. 


Für die Verf.:
Oberstveterinär
Dr. Sabine Sauer
Sanitätsakademie der Bundeswehr
Abteilung E Wehrmedizinische Forschung und Entwicklung
Ingolstädter Str. 240
80939 München
E-mail: sabinesauer@bundeswehr.org 

[ 1 ] Committee of the Chiefs of Military Medical Services in NATO (COMEDS)



Datum: 07.10.2019

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 3/2019

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