ERHALT VON GESUNDHEIT UND LEISTUNGSFÄHIGKEIT – EINE KERNAUFGABE DER FORSCHUNGSTÄTIGKEIT DES DLR-INSTITUTS FÜR LUFT- UND RAUMFAHRTMEDIZIN

Supporting health and performance – A key task of the DLR Institute of ­Aerospace Medicine’s research activities



Aus dem Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin (Direktor: Prof. Dr. R. Gerzer) des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt e. V., Köln



Bernhard Koch, Friederike Wütscher, Daniel Aeschbach, Ralf Anken, Peter Maschke, Günther Reitz, Jörn Rittweger, Claudia Stern und Rupert Gerzer



WMM, 57. Jahrgang (Ausgabe 1=/2013: S. 242-247)

Zusammenfassung



Das DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin feierte 2012 seinen 60. Gründungstag. Damit blicken wir auf eine lange Tradition lebenswissenschaftlicher Forschung zum Erhalt und zur Förderung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Menschen in der mobilen Gesellschaft – ob in Verkehr, Luft- oder Raumfahrt – zurück.

Im Zentrum unserer Forschung stehen direkt und indirekt Beteiligte wie Piloten, Flugbegleiter, Passagiere, Astronauten, Kraftfahrer und Anwohner.

Zur Betreuung gesunder leistungsfähiger Menschen konzentrieren wir uns auf die medizinischen Themenfelder Prävention, Individualisierung und Fernbetreuung, die gleichzeitig zentrale Zukunftsaufgaben der Medizin auf der Erde beinhalten. Unser Institut muss damit auf diesen Gebieten exzellent sein. Gesunde Leistungsträger müssen auch dann optimal betreut werden, wenn medizinische Expertise nicht dort ist, wo auch das Problem besteht – zum Beispiel auf dem Weg zum Mars.
Das Institut gehört weltweit zu den führenden Wissenschaftszentren in diesem Bereich. Entscheidend ist dabei unsere enge globale Vernetzung mit Schlüsselpartnern und Leis­tungsträgern aus Universitäten, anderen Forschungseinrichtungen und Raumfahrtagenturen in Europa, den USA, Japan, Russland und China.
Durch die weitere Intensivierung unserer langjährigen Kooperation mit der Bundeswehr können nicht nur potenzielle Synergien genutzt werden, sondern der Standort Köln kann sich als das Kompetenzzentrum der Luft- und Raumfahrtmedizin in Deutschland etablieren.
Schlagworte: DLR, Raum-/Luftfahrtmedizin, Raum-/Luftfahrtpsychologie, :envihab, Forschung, Leistungsfähigkeit.

Summary

In 2012, the DLR Institute of Aerospace Medicine celebrated its 60th foundation day. Thus, we look back on a long tradition of life science research to provide for and support of health and performance of humans in the mobile society – whether in earthbound traffic, aviation or space such as pilots, flight attendants, passengers, astronauts, truck drivers, and residents.
To provide for healthy and high-capacity people, we focus on prevention, individualization and remote care as key demands of future medicine on Earth. Therefore, our Institute has to be excellent in these areas and optimally to take care of healthy people even if the medical expertise is not there ­where the problem is – e.g. on the way to Mars.
The Institute belongs to the worldwide leading scientific research centers. Highly important is our global networking with key players and leading experts from universities, other research institutions and space agencies from Europe, the US, Japan, Russia and China.
By further intensifying our already long-standing coopera­tion with the Bundeswehr, it is not only possible to make use of potential synergies but the site in Cologne can develop into the center of competence of aerospace medicine in Germany.
Keywords: DLR, aerospace and aviation medicine/psychology, :envihab, research.

Einführung

Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR) ist das nationale Forschungszentrum der Bundesrepublik Deutschland für Luft- und Raumfahrt. Es hat seinen Hauptsitz in Köln Porz-Wahn und ist bundesweit an 16 Standorten mit 32 Instituten, Test- und Betriebseinrichtungen vertreten. Im DLR arbeiten 7 400 Menschen. Seine umfangreichen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in den Themenbereichen Luftfahrt, Raumfahrt, Energie, Verkehr und Sicherheit sind in nationale und internationale Kooperationen eingebunden. Darüber hinaus ist das DLR im Auftrag der Bundesregierung für die Planung und Umsetzung der deutschen Raumfahrtaktivitäten zuständig [1].
Das Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des DLR hat seinen Sitz in Köln und Hamburg sowie ein Büro in Boston an der Harvard-Universität. In sechs Abteilungen sind rund 220 Personen beschäftigt (Abb. 1).
Die Forschungsarbeiten unseres Instituts, das nach DIN EN ISO 9001:2000 zertifiziert ist, werden durch erfolgreiche Maßnahmen des Qualitätsmanagements kontinuierlich begleitet [2].

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Abb. 1: Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des DLR – Struktur und Aufgabenverteilung.

 

60 Jahre DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin

Das Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin feierte 2012 seinen 60. Gründungstag und kann damit auf eine langjährige Tradition lebenswissenschaftlicher Forschung zum Themenkomplex Erhalt und Förderung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Menschen in der mobilen Gesellschaft – ob in Verkehr, Luft- oder Raumfahrt – zurückblicken. Damit ist es auch eine der ältesten Forschungseinrichtungen dieser Art und gehört weltweit zu den führenden Wissenschaftszentren in diesem Bereich.
1952 wurden mit dem Aufbau der DVL, der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt, in Mülheim/Ruhr auch die Fliegeruntersuchungsstelle und die Flugmedizin in Bonn als erstes flugmedizinisches Institut im Nachkriegsdeutschland neu etabliert. 1979 erfolgten die Grundsteinlegung für den Neubau unseres heutigen Instituts in Köln-Porz durch den damaligen Bundespräsidenten, Walter Scheel, und 1981 der Umzug in die neuen Gebäude [2].
Mit der feierlichen Eröffnung der Großforschungsanlage :envihab am 05.07.2013 in Köln-Porz wurde die Forschungskapazität des Instituts erheblich erweitert (Abb. 2).

Aufgaben und Ziele

Im Zentrum der wissenschaftlichen Forschungstätigkeit unseres Instituts stehen Erhalt und Förderung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Menschen in der mobilen Gesellschaft. Es ist damit die einzige Einrichtung innerhalb des DLR, die lebenswissenschaftliche Fragestellungen im Hinblick auf Verkehr, Luft- und Raumfahrt verfolgt. Im Mittelpunkt der Forschungstätigkeit unseres Instituts stehen die direkt oder indirekt Beteiligten wie Astronauten, Piloten, Crews, Passagiere, Kraftfahrer und auch Anwohner.
Zur Betreuung gesunder leis­tungsfähiger Menschen in der mobilen Gesellschaft konzentrieren wir uns auf drei Themenfelder, die gleichzeitig zentrale Zukunftsaufgaben der Medizin darstellen. Diese drei Bereiche, in denen unser Institut exzellent sein muss, um Astronauten und Piloten gut zu betreuen, sind [2]:
1. Prävention: Es gilt, Sorge dafür zu tragen, dass gesunde Leis­tungsträger auch in extremen Umwelten gesund und leistungsfähig bleiben.
2. Individualisierung: Es gilt, individuelle Eigenschaften gesunder Leistungsträger zu kennen, um diese auch optimal betreuen und nutzen zu können.
3. Fernbetreuung: Es gilt, gesunde Leistungsträger auch dann optimal betreuen zu können, wenn medizinische Expertise nicht dort ist, wo auch das Problem ist – zum Beispiel auf dem Weg zum Mars.
Lösungen dieser Aufgaben können wir direkt angehen, da Prävention, Individualisierung und Fernbetreuung zentrale Zukunftsaufgaben der Medizin auf der Erde bilden. Als Experten auf diesem Gebiet können wir neue Entwicklungen sowohl auf der Erde als auch beim Piloten und Astronauten anwenden. Die Betreuung von Piloten und Astronauten wird sogar noch verbessert, indem wir unsere Expertise bei Anwendungen auf der Erde schärfen und aufgrund der breiten Erfahrungen Lösungen und Anwendungsmöglichkeiten auch in der Luft- und Raumfahrt entwickeln.
Unser Institut konzentriert sich deshalb zunehmend auf eine Vernetzung mit weltweit führenden Wissenschaftlern, die in Prävention, Individualisierung und Fernbetreuung maßgebliche Forschungsarbeit leisten. Eine sichtbare Konsequenz dieser Strategie ist die innovative, einzigartige, die Forschungskapazität des Instituts maßgeblich ergänzende Großforschungsanlage :envihab.
In :envihab wird unsere Forschung im Verbund mit unseren Wissenschaftlergruppen für die Themen Prävention, Individualisierung und Fernbetreuung Lösungen finden [3].
Insgesamt möchten wir zur langfristigen Effektivitäts- und Effizienzsteigerung des Wirkungssystems Mensch-Maschine-Umwelt richtungweisend beitragen.
Die interdisziplinäre, komplexe Arbeit des Instituts wird in vielschichtig aufgebauten, streng kontrollierten Studien durchgeführt, in denen die Randbedingungen hoch standardisiert sind und in denen die Interaktionen verschiedener Körpersysteme analysiert werden. Ziel ist, den Menschen in seiner Ganzheit zu verstehen, Reaktionen besser vorauszusagen und individuelle Hilfestellungen zu entwickeln.
Ein zentrales Merkmal unserer Forschungsarbeit ist unsere enge globale Vernetzung mit den Schlüsselpartnern und Leistungsträgern aus Universitäten, Forschungseinrichtungen und Raumfahrtagenturen, insbesondere in Europa, den USA, Japan, Russland und China.
Durch die in 2013 erfolgte Einweihung und Inbetriebnahme der neu- und einzigartigen, eigens für unsere Anforderungen konzipierten Forschungsanlage :envihab zur Erforschung des gesunden Menschen in seiner Gesamtheit werden unsere bereits bestehenden vielfältigen Studienanlagen weiter optimiert. In der Summation trägt dies nachhaltig zur Stärkung des Wissenschafts- und Wirtschaftsstandortes Deutschland bei [4].

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Abb. 2: Entstehung der neuen Großforschungsanlage :envihab des Instituts für Luft- und Raumfahrtmedizin des DLR in Köln-Porz.

 

Aus den Arbeits- und Forschungs­schwerpunkten

Flight Medicine Clinic
Die Abteilung Flight Medicine Clinic (FMC) unseres Instituts arbeitet in einem interdisziplinären Fachgebiet, das sich mit den spezifischen Anforderungen an den Menschen in der Luftfahrt, beim Aufenthalt im Weltall und auf Reisen beschäftigt. Eine Hauptaufgabe der Abteilung ist die regelmäßige Zertifizierung verantwortlicher Teilnehmer im Luftverkehr.
Im Flugmedizinischen Zentrum (Aeromedical Center, AeMC) werden Verkehrs-, Berufs- und Privatpiloten, Flugsicherungsbetriebspersonal, Kabinenpersonal, Luftsportgeräteführer, Sport- und gewerbliche Taucher auf ihre Eignung und Tauglichkeit untersucht. Zu den besonderen Funktionen des AeMC gehört die Begutachtung der Eignung/Flugtauglichkeit von Piloten nach Beauftragung durch das Luftfahrt-Bundesamt. Unser AeMC ist nach der Untersuchungsstelle der Lufthansa die größte zivile Untersuchungsstelle in Deutschland.
Auch die Betreuung und Vorbereitung von Astronauten ist seit Jahrzehnten eine der zentralen Aufgaben.
Außerdem betreibt unsere Abteilung die medizinische Datensammlung und Pflege zur Daten- und Befunddokumentation vor und nach Missionen und stellt damit eine wichtige Infrastruktur zur Unterstützung von Raumflugmissionen zur Verfügung.
Unsere Abteilung ist die einzige europäische Einrichtung außerhalb der USA, deren Tauglichkeitsuntersuchungen für Astronauten auch von der NASA und der russischen Weltraumagentur (RSA) anerkannt werden.
Aufgrund ihrer langjährigen Expertise ist unsere Abteilung zunehmend in die Forschung integriert, wenn es beispielsweise um Fragestellungen zukünftiger Anforderungsprofile für Piloten und Fluglotsen wie ATM (Air Traffic Management) oder aber auch um (Luftfahrt-)Passagiere, zum Beispiel Future High-Altitude High Speed Transport 20XX, aus medizinischer Sicht geht.

Weltraumphysiologie
In der Weltraumphysiologie untersuchen wir die Grundlagen der Gesundheit und Leistungsfähigkeit von Astronauten als besondere Exponenten von Menschen in der mobilen Gesellschaft. Naturgemäß sind die Anpassungsvorgänge an die Lebensbedingungen im Weltraum und ihre Rückanpassung an 1-g-Bedingungen auf der Erde ein Arbeitsfeld der Abteilung. In diesem Zusammenhang beschäftigen wir uns mit dem Einfluss von Schwerelosigkeit, Ernährung, Bewegungsmangel in Verbindung mit engem Raum, Isolation und Alterungsprozessen auf die menschliche Gesundheit. Diese Untersuchungen führen wir in einem integrativen Ansatz aus, indem wir diese Einflüsse im Detail von der Zelle bis zum gesamten Organismus analysieren, und dies sowohl auf der Erde als auch im All.
Bei Astronauten, die sich Wochen oder Monate im All aufhalten können, bilden sich durch die permanente Schwerelosigkeit Muskelgruppen und Knochenmasse zurück. Auch das Herz wird schwächer und die Gefäße in den Beinen erschlaffen. Bei längeren Missionen wird deshalb versucht, dem körperlichen Abbau durch Training und/oder geeignete Ernährungsmaßnahmen entgegenzuwirken. Die bisher entwickelten Trainingsmethoden für Astronauten sind sehr zeitaufwendig und nicht vollständig erfolgreich. Wir entwickeln und untersuchen daher neue Methoden zur Verbesserung des Trainings in der Schwerelosigkeit. Mit beispielsweise einer Beinpresse, die einen robotisch gesteuerten Linearantrieb besitzt, suchen wir nach dem optimalen Kraftverlauf des Beinmuskeltrainings zur Stimulation des Muskelwachstums.
Zunehmend konzentrieren wir uns auf die Nutzung von Humanzentrifugen für Trainingszwecke. Die Kreisbeschleunigung in der Zentrifuge hat für den Körper eine ähnliche Auswirkung wie die Erdbeschleunigung. Ein Mensch kann in unserer Zentrifuge physiologisch „stehen“. Somit können wir Maßnahmen gegen die durch Schwerelosigkeit bedingten physiologischen Verän­derungen und damit verbundenen medizinischen Risiken ent­wickeln.
Die Ergebnisse unserer Arbeit dienen der Aufklärung physiologischer und pathophysiologischer Fragestellungen und liefern somit Grundlagenerkenntnisse und Anwendungsmöglichkeiten in der Medizin auf der Erde.

Strahlenbiologie
Eine zentrale Aufgabe unserer Abteilung Strahlenbiologie ist es, die experimentellen und theoretischen Voraussetzungen für einen wirksamen Strahlenschutz in der Luft- und Raumfahrt zu schaffen. Diese Erkenntnisse werden zunehmend auch zur Lösung terrestrischer Probleme, insbesondere beim Umweltschutz und in der Gesundheitsvorsorge, eingesetzt. Hauptthemen unserer Arbeit sind die Erfassung der individuellen Strahlenexposition von Astronauten und fliegendem Personal im zivilen Luftverkehr, die Biodiagnostik geno- und zytotoxischer Umwelteinflüsse und die Erforschung der Lebensmöglichkeiten außerhalb der Erde.
Unsere dosimetrischen und strahlenbiologischen Experimente liefern Daten, aufgrund derer Strahlenrisiken abgeschätzt werden können. Ziel ist es, die Sicherheit und Arbeitsfähigkeit der Astronauten bei lang andauernden Aufenthalten im Weltraum zu gewährleisten. Dabei vermessen wir die Strahlenverteilung in/außerhalb der Raumstation und im menschlichen Körper, analysieren strahlenbedingte Erbgutschäden in Säugerzellen, untersuchen die Immunantworten verschiedener Zellsysteme und entwickeln biodiagnostische Systeme.
MATROSHKA ist das anspruchsvollste und bisher größte Experiment zur Messung der Strahlungsverteilung und Bestimmung des Strahlenrisikos für Menschen im Weltraum. Kernstück ist ein menschliches Phantom. MATROSHKA nutzt über 6 000 Detektoren zur Messung der Tiefendosisverteilung der Strahlung im Körper des Astronauten und zur Bestimmung der Dosen der einzelnen Organe.
In der Luftfahrt führen wir unter anderem die Berechnung der Strahlenexposition und die Unterrichtung des fliegenden Personals der Deutschen Lufthansa (DLH) durch. Messungen der Strahlenexposition stellen zur Abschätzung auf Reiseflughöhen bzw. für gegebene Flugrouten eine zentrale Anforderung an den Strahlenschutz des fliegenden Personals dar und bieten die Grundlage einer quantifizierbaren Modellierung des Strahlenfeldes in Flugverkehrshöhen.

Biomedizinische Forschung
In der Abteilung Biomedizinische Forschung werden biologische, humanphysiologisch und telemedizinisch relevante Fragestellungen wissenschaftlich bearbeitet sowie Anwendungen in den Bereichen Gravitationsbiologie und Telemedizin entwickelt und an interne wie externe Nutzer weitergegeben.
Neben unserer Forschungsleistung in der Zellbiologie unter veränderter Schwerkraft (wir nutzen selbst entwickelte Geräte zur Simulation von Schwerelosigkeit) bearbeiten wir wichtige Fragen zum Thema „Bioregeneration“. So soll in :envihab die Umwandlung pflanzlicher Abfälle und Urin im Verbund mit anderen Forschungseinrichtungen untersucht werden, um aus Abfall Düngemittel für Pflanzen herstellen und Wasser regenerieren zu können.
Unsere Expertise umfasst die Planung, Vorbereitung und Durchführung von Weltraumexperimenten mit der BIOLAB-Fluganlage auf der Internationalen Raumstation (ISS) oder für zum Beispiel Parabelflüge, stationäre und ambulante humanphysiologische Studien wie Zentrifugen-, Bettruhe-, Medikamenten- und Isolationsstudien.
Projekte im Bereich der Telemedizin ergänzen unser Portfolio. So wird mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr das Netzwerk der telemedizinischen Arbeitsplätze geplant, realisiert und kontinuierlich weiterentwickelt. Damit steht dem sanitätsdienstlichen Personal weltweit fachärztliche Expertise zur Verfügung.

Luft- und Raumfahrtpsychologie
Der Mensch ist der entscheidende Faktor für die Sicherheit in der Luftfahrt: Einerseits erhöht er die Zuverlässigkeit der technischen Systeme, weil er die technischen Fehlfunktionen erkennen und durch Reaktionen ausgleichen kann, andererseits stellt er aber wegen seiner Fehleranfälligkeit gleichzeitig das größte Risiko dar.
Unsere Abteilung Luft- und Raumfahrtpsychologie forscht beispielsweise im Bereich dieser menschlichen Faktoren mit dem Ziel, die Leistungsfähigkeit der Operateure (Piloten, Fluglotsen und Astronauten) zu erhalten und zu erhöhen. Die in unserem Hamburger Testzentrum sowie weltweit in sechs weiteren Testzentren gewonnenen Daten unserer spezifisch konstruierten Leistungs- und Persönlichkeitstests von annähernd 200 000 Bewerbern bieten eine einzigartige Basis für die Forschung, die beispielsweise die Entwicklung völlig neuartiger Assessment Center-Methoden erlaubt.
Mit Beginn der Langzeitflüge in der Raumfahrt haben sich die Themen der Raumfahrtpsychologie erweitert. Komplexe Stressfaktoren wie Eingesperrtsein, Isolation, Reizarmut, Gefahrenrisiko oder kleine, kulturell unterschiedliche Gruppen sind Aspekte, die neben den hohen Arbeitsanforderungen auf Astronauten einwirken. Die Raumfahrtpsychologie unseres Instituts hat bisher alle europaweiten psychologischen Auswahluntersuchungen geleitet, zuletzt die Kampagne 2008/2009, die mit fast 10 000 Bewerbern die wahrscheinlich weltweit größte Astronautenauswahlkampagne war.

Flugphysiologie
Unsere Abteilung Flugphysiologie erforscht die Leistungsfähigkeit, Ermüdung und Arbeitsbelastung des fliegenden Personals sowie spezifische Auswirkungen des Flugverkehrs auf die Bevölkerung. Zu den untersuchten Stressfaktoren gehören Schlafmangel, Störungen der zirkadianen Rhythmik (zum Beispiel Jetlag), Druckveränderungen, Lärm und Vibrationen. Diese Faktoren werden in umfangreichen Studien unter streng kontrollierten Laborbedingungen und in Feldstudien unter Realbedingungen erforscht. Die Ergebnisse unserer Untersuchungen führen zu einem besseren Verständnis der Grundlagen und Bedingungen menschlicher Leistungsfähigkeit. Des Weiteren dienen sie der Entwicklung von Modellen, Kriterien und Standards und führen zu Empfehlungen für Anwendungen und Lösungen im operativen Betrieb der Luft- und Raumfahrt.
So befassen wir uns derzeit zum Beispiel mit der Schlafqualität und den Erholungsmöglichkeiten unter den simulierten Bedingungen eines Crew Rest Compartments (erniedrigter Luftdruck, Lärm, eingeschränktes Platzangebot). Die Entwicklung eines psychomotorischen Vigilanztests von kurzer Dauer (drei Minuten) soll zukünftig die objektive Erfassung der kognitiven Leistung und Ermüdung des fliegenden Personals unter den Bedingungen eines realen Fluges ermöglichen. Ergebnisse zu Schlafqualität, Ermüdung und Leistung können somit verglichen werden.
In der Lärmwirkungsforschung hat unsere Abteilung insbesondere die Auswirkungen von Flug- und Bahnlärm auf den Nachtschlaf der Bevölkerung untersucht. Wichtige Erkenntnisse dieser Studien flossen bereits in die Planung von Lärmschutzzonen an Flughäfen ein und dienen sowohl Betroffenen als auch Verursachern von Fluglärm. Derzeit untersuchen wir die Auswirkungen der 2011 eröffneten vierten Landebahn des Frankfurter Flughafens auf die Schlafqualität der Anwohner.

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Abb. 3: Schematische Darstellung der Lage der Module in :envihab. Die Gesamtfläche beträgt
circa 5 400 m2 (101 x 53 m), die reine Nutzfläche beläuft sich auf circa 3 500 m2 auf einer Ebene.

 

Strategische Weiterentwicklung – Meilensteine

:envihab – Erweiterung der Forschungskapazität
:envihab ist eine innovative Forschungsanlage, die den Forschungskompetenzen des Instituts auf international höchstem Niveau gerecht wird und auch auf den Innovationsstandort Deutschland aufmerksam macht [5]. Mit :envihab wird die Forschungsfläche des Instituts in etwa verdoppelt und die Infrastruktur wesentlich verbessert.
Einzigartiges Ausstattungs- und Leistungsmerkmal von :envihab ist die Kombinierbarkeit der verschiedenen Forschungsmodule innerhalb der Anlage. Besondere Merkmale sind beispielsweise eine neu konzipierte Humanzentrifuge im Zentrum von :envihab, Sauerstoffreduktionsbereiche und ein Druckbereich, in dem äquivalente Höhen bis zu einem Absolutdruck von 300 mbar realisiert werden können, sowie eine 3T-Ganzkörper-MRT-Anlage mit PET-Möglichkeit in unmittelbarer örtlicher Nähe zu zwölf hoch technisierten, kontrollier- und steuerbaren Probandenräumen inklusive Schlaflaborausstattung und Lichtlaborfunktionalität. Die Forschungsmodule sind über den medizinischen Kernbereich miteinander verknüpft. Probanden können hier isoliert und immobilisiert und gezielt Stresssituationen ausgesetzt werden. Zusätzlich werden physische sowie psychische Methoden zur Erholung und als Gegenmaßnahmen zum Beispiel gegen die Auswirkungen von Immobilisation, Isolation oder Schwerelosigkeit untersucht [6].
Mit :envihab wird es erstmals möglich, Menschen unter komplexen, standardisierten Bedingungen unter Berücksichtigung individueller Eigenschaften (physiologisch und psychologisch) zu untersuchen. Dadurch erhalten wir vergleichbare Daten, die Ausgangspunkt künftiger Modellierungsaufgaben sein können; Modellierungsaufgaben, wie sie in Zukunft nicht nur in der Luft- und Raumfahrtmedizin, sondern in der gesamten Medizin erforderlich sein werden [6].
Die Raumfahrtmedizin eignet sich besonders für diese Aufgabenstellung, da es hier – einmalig in der Medizin – üblich ist, große Studienkampagnen an gesunden Probanden unter Beteiligung vieler Wissenschaftlergruppen durchzuführen. Dieses Potenzial wurde weltweit bisher kaum berücksichtigt und in keiner der uns bekannten Forschungseinrichtungen sind die baulich-infrastrukturellen Voraussetzungen so auf diese Frage zugeschnitten wie im :envihab. Zentrale Herausforderungen der Medizin in Zukunft ebenso wie in der Luft- und Raumfahrtmedizin sind die Themen Prävention, Individualisierung und Fernbetreuung. Dabei wird die Vorhersage individueller Reaktionsweisen eine zentrale Rolle spielen. Das :envihab eignet sich als Versuchsanlage hervorragend, mittels hochstandardisierter Untersuchungsszenarien „saubere“ Daten für die Modellierung zu erhalten. Dies wird zunächst Vorhersagen bei Gesunden, darauf basierend auch bei Patienten, erlauben. Das :envihab soll deshalb auch eine Schnittstellenfunktion zwischen Luft- und Raumfahrtmedizin und terrestrischer Medizin einnehmen.
Neben wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn wird die Entwicklung innovativer Produkte in Zusammenarbeit mit Partnern aus Wissenschaft, Industrie und Wirtschaft ermöglicht werden.
Insgesamt bestehen mit :envihab entscheidende Voraussetzungen zum Ausbau unserer Stellung als eines der weltweit führenden Kompetenzzentren in den Luft- und Raumfahrt-Lebenswissenschaften [4].

Zusammenarbeit mit der Bundeswehr – Entstehung eines neuen Leistungszentrums
Im Zuge der Bundeswehrreform wird der Standort Fürstenfeldbruck mit dem flugmedizinischen Institut der Luftwaffe geschlossen und ein Großteil des Personals nach Köln umziehen. Derzeit stehen wir mit der Bundeswehr in Verhandlung mit dem Ziel, dass dieses Institut Anfang 2017 mit knapp 150 Personen in ein neues Gebäude direkt angrenzend an das Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin der DLR ziehen wird. Durch die enge Zusammenarbeit mit der Bundeswehr können sich Konsolidierungsvorteile für beide Einrichtungen ergeben:

  • Gemeinsame Nutzung von :envihab, insbesondere des Hybridgeräts aus Positronen-Emissions-Tomographen in Kombination mit Magnetresonanztomographen (PET-MRT) sowie auch des Psychologiemoduls.
  • Intensivierung und Ausbau der gemeinsamen Forschung im Bereich der Telemedizin und Robotik sowie Mensch-Maschine-Schnittstellen. Unser Institut arbeitet in diesem Bereich bereits seit Jahren mit der Bundeswehr zusammen. Das gesamte inzwischen flächendeckende Telemedizinnetzwerk der Bundeswehr wurde vom Institut mit konzipiert und wird seit über 15 Jahren betreut.
  • Enge Zusammenarbeit im Bereich Fliegerärztliche Untersuchungsstelle (AeMC). Derzeit betreiben unser Institut (ziviler Bereich) und das Institut der Luftwaffe (militärischer Bereich) zwei von vier fliegerärztlichen Untersuchungsstellen in Deutschland. Die geplante Kooperation beider AeMC zu einem großen, am DLR-Standort Köln-Porz gelegenen, Kompetenzzentrum bietet die Perspektive, dieses Zentrum zu dem Exzellenz-Zentrum in Deutschland und Europa zu machen – zivil wie militärisch.
  • Entwicklung richtungsweisender Synergieeffekte durch Kooperationen im Bereich der Auswahl- und Trainingsmethoden für operationelles Personal und psychologische Auswahlverfahren und Prozeduren.

Perspektiven

Unser Institut gehört weltweit zu den führenden Wissenschaftszentren lebenswissenschaftlicher Forschung zum Themenkomplex Erhalt und Förderung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Menschen. Durch :envihab wird unser Institut nachhaltig gestärkt. Entscheidend ist dabei unsere enge globale Vernetzung mit den Schlüsselpartnern/Leistungsträgern aus Universitäten, Forschungseinrichtungen und Raumfahrtagenturen in Europa, den USA, Japan, Russland und China.
Durch die weitere Intensivierung der langjährigen Kooperation mit der Bundeswehr können nicht nur potenzielle Synergien genutzt werden, sondern der Standort Köln kann sich als das Kompetenzzentrum der Luft- und Raumfahrtmedizin in Deutschland etablieren und somit weltweit Standards im Bereich der Luft- und Raumfahrtmedizin setzen.

Literatur

  1. Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR). Das DLR im Überblick. 2013 07.06.2013; Available from: http://www.dlr.de/ dlr/desktopdefault.aspx/tabid-10443/637_read-251/#gallery/8570.
  2. Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des DLR (Hrsg.), 1952–2012: 60 Jahre Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des DLR – Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Menschen in der mobilen Gesellschaft. 2012, Köln.
  3. Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des DLR. Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin. 2013 07.06.2013; Available from: http://www.dlr.de/me/desktopdefault.aspx/tabid-1754/2380_read-3753/.
  4. Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des DLR. :envihab. 2013 07.06.2013; Available from: http://www.dlr.de/envihab/.
  5. Gerzer R, Koch: Über komplexe Studien und die Zukunft – Luft- und Raumfahrtmedizin geht neue Wege. DLR-Nachrichten, 2006. 4–11.
  6. Koch B, Rabbow E, Gerzer R: :envihab – The New Research Facility for Human Spaceflight and Terrestrial Applications at DLR, Cologne, Germany - Aberdeen, Scotland, UK, in Proceedings of Life in Space for Life on Earth, European Space Agency (ESA), Editor 2013, ESA Communications, ESTEC: Noordwijk, the Netherlands.

Bildquelle: DLR Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt.

 

Datum: 05.11.2013

Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2013/10

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