16.02.2023 •

Einsatzchirurgie - Vom unbefangenen Idealisten zum befangenen Veteranen

Die Chronik von Kundus in Afghanistan aus einsatzchirurgischer Sicht

N. Huschitt, M. Schulbert und T. Hauer

Gemeinsame Operationen im Krankenhaus Kundus
Nils Huschitt

Der Anfang (2003–2006)

Einsatzchirurgen kamen 2003 als ein Element des multinationalen Wiederaufbauteams in zivil-militärischer Kooperation nach Kundus, einer Provinzhauptstadt im Nordosten Afghanistans. Ein Ziel war es, der nächsten Generation der Afghanen ein Aufwachsen in friedlicher Umgebung zu ermöglichen, die dann zunehmend selbstbestimmt einen weltoffenen und modernen Staat formen sollten. Wir unterstützten medizinisch humanitär, wir halfen in der Ausbildung lokalen medizinischen Personals und stellten Material zur Verfügung. Diese medizinische Kooperation sollte auch dazu dienen, den Rückhalt aller alliierten Truppen in der einheimischen Bevölkerung zu erhöhen. Die Menschen sollten uns wertschätzen und auch beschützen.

Hierzu hatten wir weitgehende Bewegungsfreiheiten. Wir lehrten an Hebammenschulen und kooperierten intensiv mit den medizinischen Gesundheitssystemen vor Ort. Wir entwickelten gemeinsame Konzepte, führten zusammen Sprechstunden und eine Vielzahl Operationen sowohl im lokalen Krankenhaus als auch in der eigenen medizinischen Einrichtung durch. Unsere Kontakte zur lokalen Bevölkerung schützten unsere Truppen auch nachrichtendienstlich. Die deutschen Soldaten waren von unserer medizinischen Professionalität beeindruckt. Dies wirkte sich im Wissen bei eigenen Vorfällen gut versorgt zu werden, auch positiv auf deren Moral aus. Aus einem zwar als notwendig akzeptierten, aber dennoch eher als lästig empfundenen Anhängsel der Truppe wuchs auch in den Augen der Truppenführung ein hochangesehener Sanitätsdienst heran. Unsere Einsätze waren positiv fordernd, berufserfüllend und von Idealismus geprägt. Nachhaltige Teambildungen, hohe Einsatzmotivation und Nachwuchsgewinnung waren ein Leichtes.

Die Wende (2006–2013)

Eine mehrdimensionale Kombination aus einfacher Gutgläubigkeit, einer gewissen Überheblichkeit und militärpolitischer Richtungsänderung veränderte zeitlich gefolgt zu dem Umzug unseres Lagers aus einem Olivenhain mitten in der Stadt in eine neu gebaute Einrichtung außerhalb der Stadtgrenze unser Wirken drastisch. Anschläge und Gefechte häuften sich ab 2007 und gipfelten in der Abwehr eines geplanten Anschlages mittels entführter lokaler Tanklaster 2009 und den Karfreitagsgefechten 2010. Die afghanische Bevölkerung wurde nun nur noch in Ausnahmefällen meistens vor dem Hintergrund eines militärpolitischen Ziels versorgt, Bewegungsfreiheiten zur Kontaktpflege waren massiv eingeschränkt. Besuche des lokalen Krankenhauses wurden sehr selten und fanden nur noch aus besonderen Anlässen, z. B. zur Beurteilung selbst verursachter Kollateralschäden, statt. Medizinische Kooperationen wurden eingestellt und vorhandene Netzwerke lösten sich auf, unsere sanitätsdienstliche Versorgung konzentrierte sich auf alliierte und eigene Kräfte. Schließlich wurde die Idee des gemeinsamen Wiederaufbaus des Landes aufgegeben und wir zogen uns 2013 aus dem Nordosten Afghanistans zurück.

Das Wirken unter Kriegsbedingungen (2016–2021)

Im Rahmen einer nun dominierenden Philosophie in vorwiegend beratender Funktion zu unterstützen und unter geänderten Mandaten, kehrten wir drei Jahre später unter erneut anderen Voraussetzungen in den Distrikt Kundus zurück. Weit entfernt von den alten Liegenschaften bezogen wir einen sicheren Hafen innerhalb eines Lagers der afghanischen Streitkräfte außerhalb der Stadt. Das Verlassen dieses Lagers, die Behandlung lokal ziviler Patienten oder ein Wiederaufleben alter Netzwerke war aufgrund der sich geänderten Sicherheitslage nicht mehr denkbar.

Nach initial totaler Isolation war es der multinationalen Situation des oftmals einzigen Vorhaltes erster notfallchirurgischer Fähigkeiten im Raum und nicht dem eigenen militärpolitischen Willen geschuldet, dass der deutsche Sanitätsdienst im Verlauf in erheblichen Maße die medizinische Absicherung von Missionen afghanischer Spezialkräfte mit US-amerikanischen Beratern unterstützte. Die kleinste deutsche chirurgische Einheit erlebte in den kommenden Jahren ihre bisher intensivste Prüfung bei der Versorgung einer Vielzahl von Schwerstverletzen auch bei Massenanfällen von Verwundeten. Rettungsketten, Teaminteraktionen und eigene Fähigkeiten wurden unter widrigen Bedingungen auf den Prüfstand gestellt. Ein immenser Gewinn an Expertise folgte in dieser Epoche, welcher auch konzeptionell in einem Lernprozess eigenes Überdenken erforderte.

Das Ende (2021–heute)

Die ausgebrachte Fähigkeit einer ersten notfallchirurgischen Versorgung wurde 2021 zurückgezogen und letztendlich die gesamte deutsche militärische Unterstützung und Ausbildung im Nordosten Afghanistans eingestellt. Das Engagement und die Prägung einer ganzen Generation von Veteranen auch im klassischen Sinne und wertevolle Erfahrungen in Extremsituationen werden verloren gehen. Was bleiben wird, sind Ressentiments gegenüber unserem Verhaltenscodex, der uns auch in unseren dualen Loyalitätskonflikt führt. Den Einsatzgrundsatz der NATO, dass akute Notfallbehandlungen nicht verwehrt werden dürfen, konnten wir in mehreren Situationen nicht einhalten. Von unserer Klugheit wohlüberlegt und lagebedingt selbst entscheidend auch immer Reserven für die etwaige Versorgung eigener Kräfte vorzuhalten, ist unsere Führung nicht überzeugt. Bereits damals wie heute empfanden wir dies als ein Zeichen minderer Wertschätzung. Selbst in „humanitär“ hochaktiven Phasen unseres Wirkens traten Ereignisse, aufgrund deren ein seitens unserer Führung befürchteter Mangel an Versorgungsfähigkeit oder -kapazität eigener Kräfte bestand, nicht auf. 



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