Chronische Erkrankungen im Fokus der Einsatzbereitschaft

T. Braasch, N. Neumann, T. Barck, N. Müller

Die Zeitenwende angesichts aktueller sicherheitspolitischer Herausforderungen lässt die verteidigungspolitischen Richtlinien wieder an der Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) orientieren; Kriegstüchtigkeit und Einsatzfähigkeit stehen im Fokus der weiteren Entwicklung der Bundeswehr. Dazu gehört auch die gesundheitliche Ertüchtigung der Soldaten der Bundeswehr.

„Red–Yellow–Green Pre-Deployment Medical Risk Classification Approach”
„Red–Yellow–Green Pre-Deployment Medical Risk Classification Approach”
Quelle: STANAG AC/323[HFM-174]TP/537

Für die Einschätzung der Einsatzfähigkeit steht neben den nationalen medizinischen Kategorisierungssystemen zur Einstellung, zur Einschätzung der Dienstfähigkeit und zu Dienstzeit- oder Statusveränderungen (A 1-831/0-4000, Version 4.2 mit ARD-831/0-4000c, Version 1.1.) auch ein NATO-Standardisierungsdokument (Technical Report) zur Verfügung. Die Autoren dieses Technical Reports, die Task-Group 174 (unter deutscher Beteiligung), setzen für eine Einsatzfähigkeit voraus, dass alle eingesetzten Soldaten „should [...] meet a high standard of physical strength and aerobic capacity, such as would be required for carrying heavy loads (e.g. one end of a stretcher), performing arduous tasks (e.g. helping to fight a fire), delivering a sudden significantly burst of power (e.g. extracting an injured person from a vehicle).”. Zudem soll diese hohe körperliche Funktionalität unter länger anhaltender mentaler Belastung aufrechterhalten werden; unvorhergesehene (Notfall-)Belastungen, die sich deutlich von der Dienstfähigkeit in Friedenszeiten unterscheiden, sollten einkalkuliert werden. Die Sicherheitslage der eingesetzten Truppen soll sich durch chronisch Erkrankte nicht verschärfen und Repatriierungen sollen vermieden werden.

Nun trifft die Forderung der physischen und psychischen Einsatzbereitschaft für LV/BV auf eine Gesellschaft, in der chronische Erkrankungen – gerade auch in jungem Alter – auf dem Vormarsch sind. Übergewicht und Adipositas sowie die dazuge­hörigen Ko- und Folgeerkrankungen zeigen einen gesamt­gesellschaftlichen Anstieg im endemischen Ausmaß. Das Robert-­Koch-Institut berichtete schon 2013 über eine alarmierende Zunahme der Adipositas bei jungen Männern, insgesamt seien über 50 % der Deutschen übergewichtig (Body-Mass-Index [BMI] > 25 kg/m²) und jeder vierte Deutsche adipös (BMI > 30 kg/m²). Konkrete Zahlen liegen aktuell für die Bundeswehr nicht öffentlich vor, allerdings wird vermutet, dass die Anzahl übergewichtiger und adipöser Soldaten der Bundeswehr etwas unterhalb der Daten aus dem Vereinigten Königreich (etwa 38 % und 13 % respektive) liegt. Für die Bundeswehr wird erhofft, dass vermehrt das „fat-but-fit“-Paradox bei Übergewicht und Adipositas Grad I (< BMI 35 kg/m²) zutrifft, allerdings können auch diese Soldaten im Sinne eines sorgfältigen truppenärztlichen Managements auf Antihypertensiva, möglicherweise Statine und andere prognosemodulierende Medikamente eingestellt sein, wodurch die fitten adipösen Soldaten dennoch das Label eines chronisch Erkrankten tragen.

Chronische Erkrankungen im Fokus der Einsatzbereitschaft
Quelle: Trixi Braasch

Die frühe Detektion von chronischen Erkrankungen, bevor wesentliche Organschäden oder Einschränkungen der Lebensqualität auftreten, um eine frühzeitige Therapie zu initiieren, ist seit langem Ziel der medizinischen Vorsorge, wodurch sich nominal die Zahl der chronisch erkrankten Menschen erhöht. Im ­Rahmen der periodischen Gesundheitschecks der „Allgemeinen Verwendungsfähigkeitsuntersuchung auf individuelle Grundfertigkeiten“ (AVU-IGF)  werden Bundeswehrsoldaten frühzeitiger als zivile Altersgenossen in großem Umfang gesundheitlich strukturiert überprüft. Auffällige Ergebnisse bewirken dann allerdings nicht nur die gewünschte frühzeitige Interventionsmöglichkeit, sondern auch die Diagnose einer chronischen Erkrankung, die eine entsprechende differenziertere Betrachtung bei der Einschätzung der Einsatzfähigkeit erfordert. 

Im Grundbetrieb im Frieden ist die Mehrzahl der chronisch erkrankten Soldaten durch gute medizinische Versorgung im Rahmen ihres dienstlichen Auftrages voll dienstfähig. Viele junge Menschen mit typischen chronischen Erkrankungen, wie mit Übergewicht, Adipositas Grad I, arterieller Hypertonie, Asthma bronchiale, saisonale Rhino-Sinusitis, chronischen Gelenkbeschwerden, chronischem Reflux oder unkomplizierter Neurodermitis, sehen sich selbst nicht als chronisch erkrankt an.

Mit der Aktualisierung der Zentralvorschrift A 1-831/0-4000, Version 4.2 vom 23.01.2024 hat sich bereits ein wesentlicher Paradigmenwechsel offiziell vollzogen, so dass bei der Beurteilung der Dienstfähigkeit auf dem aktuellen Dienstposten nicht die Gradation der chronischen Erkrankung herangezogen werden soll, sondern „die sich aus der Erkrankung und deren Therapie ergebenden tatsächlichen gesundheitlichen Einschränkungen und deren Auswirkungen“ sollen im Fokus stehen (Punkt 5 011.). Dies ist ein wesentlicher Fortschritt, um – angesichts des Personalmangels in vielen (Fach-)Verwendungen – das Ziel zu erreichen, erheblich in der Truppenstärke bis 2031 aufzuwachsen.

Bei der Beurteilung einer „Kriegstüchtigkeit“ müssen allerdings neben der chronischen Erkrankung an sich und den (möglicherweise sogar fehlenden) Einschränkungen im Friedensalltag, insbesondere die ressourcenbindenden Exazerbationsmöglichkeiten bei erhöhter körperlicher und mentaler Belastung bedacht ­werden. Zudem muss die chronische Erkrankung unter besonderen klimatischen und geographischen Bedingungen betrachtet werden (Hitze, Höhe, Kälte), die Logistik (Kühlung, Nachschub) von (Dauer-)Medikamenten muss gesichert sein, und die ­Auswirkungen einer ungeplanten Therapiepause durch Verlust oder fehlenden Nachschub der Medikation müssen antizipiert werden.

Der bereits o. g. Technical Report zur Beurteilung von chronischen Erkrankungen für den Einsatz aus dem Jahr 2014 schlägt anhand eines leicht verständlichen Ampelsystems für mehr als 30 chronische Erkrankungen eine Bewertung anhand des Exazerbationsrisikos vor, wobei einige Beurteilungen im Detail einer Aktualisierung bedürfen. Trotzdem müssen weiterhin die spezifischen Einsatzbedingungen für den einzelnen Soldaten beachtet werden, da natürlich weiterhin Risiken vorliegen, wie auch für gesunde Soldaten. Zum Beispiel wird die Diagnose Bluthochdruck als „low risk“ also „grün“ eingeschätzt, wenn der Blutdruck nachweislich < 140/90 mmHg mit maximal zwei Medikamenten für über sechs Monate eingestellt ist und keine weiteren kardiovaskulären Erkrankungen vorliegen. Sollte sich dieser gesunde Hypertoniker jedoch in einem heißen, trockenen Zielland mit eingeschränkter Trinkwasserversorgung unter schwerer körperlicher Belastung befinden, kann schon im Einzelfall allein die Medikation mit einem ACE-Hemmer zu gravierenden Konsequenzen führen. 

Zusätzlich schlägt die Taskforce 174 nicht nur vor, dass ein „Board“ von Experten über die „deployability“ entscheiden sollte, sondern auch, dass ein zentrales Register für Ausnahmegenehmigungen erstellt werden sollte, um anhand praktischer Beobachtungen die Beurteilung chronisch Erkrankter anpassen zu können („lessons learned“). Hierzu haben wir einen Vorschlag zum standardisierten Ablauf entwickelt. 

Idealerweise sollte neben der Schulung des Soldaten, der Anforderung einer Sanitätswarnmarke (C1-800/0-4012, Version 1.1. von 05/2017), der Sicherstellung der Logistik der Dauermedikation, der Bedarfsmedikation sowie der Medikation zur Therapie einer Exazerbation, auch das zuständige Sanitätspersonal oder der Combat First Responder B/C informiert werden. Das Sanitäts- und Nichtsanitätspersonal sollte über Handlungsanweisungen für die Prävention und die Therapie einer Exazerbation verfügen.

Die Erstellung militärisch fokussierten Standardschulungsmaterials für die häufigsten chronischen Erkrankungen ist sinnvoll. Dies kann beispielsweise für ein stabiles Asthma ohne Exazerbation in den letzten zwei Jahren so aussehen, dass mögliche übliche Exazerbationstrigger (Blütezeit, Verbrennungsaerosole, Staub, Gefechtsnebel, plötzlicher Kälteeinbruch, etc.) geschult werden, dass der Umgang mit Bedarfsinhalativa und Dosierungsanpassungen erläutert werden, dass der Patient Reserveinhalativa in verschiedenen Gepäckteilen und bei Kameraden unterbringen sollte, dass subtile Anzeichen einer Verschlechterung dargelegt werden (nächtliches Husten, vermehrte Müdigkeit, etc.) sowie der Soldat ermächtigt wird, bei fehlender einsatztaktischer ärztlicher Kontaktmöglichkeit, eine Exazerbation selbst zu therapieren (Prednisolon im individuellen „pill-pack“). 

Bei den in der jüngeren Vergangenheit stattgehabten, sorgfältig geplanten, zeitlich begrenzten Einsätzen der Bundeswehr war es möglich, auf gut ausgebildete Soldaten zu ihrem eigenen Schutz und dem ihrer Einsatzeinheiten im Zweifel zu verzichten, oder – nicht-standardisiert – einen Einsatz mit Ausnahmegenehmigung individuell vorzubereiten. Im Bündnisverteidigungsfall und erst recht im Landesverteidigungsfall kann der Personalbedarf im klassischen Einsatzsinne deutlich und plötzlich zunehmen. Die Gefahr eines Ungleichgewichtes zwischen dem Bedarf an gesunden und fitten Soldaten und dem Angebot durch kritische ärztliche Selektion steht zu befürchten. Angesichts des neuen militärischen Schwerpunktes (LV/BV) gilt es, neben der sorgfältigen Umsetzung der bisherigen Empfehlungen aus dem Technical Report, den Umgang mit chronischen Erkrankungen neu zu interpretieren. Ziel ist das medizinisch optimale „Enabling“, die Ermächtigung des Soldaten und der Streitkräfte, um über mehr fähige und einsatzbereite Soldaten bedarfsgerecht zu verfügen, ohne die Sicherheit des einzelnen Soldaten und seiner Kameraden im Kampfverband zu gefährden. Die konservativen Fächer müssen hierzu den wesentlichen Beitrag in der Optimierung der Prävention und in der Entwicklung flexibler neuer Konzepte in Zusammenarbeit mit den Bedarfsträgern leisten. 



Nachweise:

1. North Atlantic Treaty Organization. A NATO Guide for Assessing Deployability for Military Personnel with Medical Conditions. AC/323(HFM-174)TP/537: Science and Technology Organization, North Atlantic Treaty Organization 2014

2. Russell R, Reid A, Borgers G, Wassink H, Grove A, Niebuhr DW. A NATO guide for assessing deployability for military personnel with chronic medical conditions: medical fitness for expeditionary missions, Task Group 174, Human Factors, and Medicine Panel. Mil Med. 2014;179(12):1404-11

3. Mensink G, Schienkiewitz A, Haftenberger M, Lampert T, Ziese T, Scheidt-Nave C. Übergewicht und Adipositas in Deutschland. Robert Koch-Institut, Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung; 2013

4. Gravina D, Keeler JL, Akkese MN, Bektas S, Fina P, Tweed C, et al. Randomized Controlled Trials to Treat Obesity in Military Populations: A Systematic Review and Meta-Analysis. Nutrients. 2023;15(22)

5. Ortega FB, Ruiz JR, Labayen I, Lavie CJ, Blair SN. The Fat but Fit paradox: what we know and don’t know about it. British Journal of Sports Medicine. 2018;52(3):151-3

6. Mauz E, Schmitz R, Poethko-Müller C. Kinder und Jugendliche mit besonderem Versorgungsbedarf im Follow-up: Ergebnisse der KiGGS-Studie 2003 – 2012. Robert Koch-Institut, Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung; 2017

7. North Atlantic Treaty Organization. STANAG 2347 MEDSTD AMedP-8.8 MEDICAL WARNING TAG Edition A Version 2 2022 [Available from: https://www.coemed.org/files/stanags/03_AMEDP/AMedP-8.8_EDA_V2_E_2347.pdf 

8. Global Initiative for Asthma (GINA). Global Strategy For Asthma Management And Prevention. Update May 2024. 2024

9. Deutscher Bundestag, 20. Wahlperiode. Unterrichtung durch die Wehrbeauftragte Jahresbericht 2023 (65. Bericht). Drucksache 20/10500 vom 12.03.2024



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