18.09.2012 •

    KOORDINATION IN HUMANITÄREN NOTFALLLAGEN

    Obwohl souveräne Staaten die vorrangige Aufgabe haben, die Opfer von Naturkatastrophen und humanitären Notlagen, die sich auf ihrem Staatsgebiet ereignen, zu versorgen, kann das Ausmaß, die Komplexität und die Dauer humanitärer Katastrophen die Reaktionsfähigkeit zahlreicher betroffener Staaten überschreiten.

    In solchen Fällen ist eine internationale Zusammenarbeit zur Stärkung der organisatorischen und Koordinierungsfähigkeiten dieser Staaten von großer Bedeutung. Bei groß angelegten humanitären Hilfsmaßnahmen, insbesondere nach plötzlich ausbrechenden Naturkatastrophen, wenn entscheidend wichtige, lebensrettende Bedürfnisse zwangsläufig die verfügbaren Ressourcen übersteigen, ist es zwingend erforderlich, dass die verschiedenen eingreifenden Organisationen ihre Maßnahmen koordinieren. Unnötige Verzögerungen bei der Einleitung wirkungsvoller Hilfseinsätze könnten unentschuldbare weitere Verluste an Menschenleben zur Folge haben.

    Den Vereinten Nationen (VN) kommt eine zentrale und einzigartige Rolle bei der Gewährleistung der Führung und der Koordination der Maßnahmen der Völkergemeinschaft zur Unterstützung der betroffenen Länder zu. In Anerkennung dieses Sachverhalts haben die VN mit Resolution 46/182 der Vollversammlung (vom 19. Dezember 1991) das Amt des Koordinators für Hilfsmaßnahmen in Notfällen (Emergency Relief Coordinator – ERC) eingerichtet. Heute fungiert der ERC auch als „Under-Secretary-General“, der das Amt für die Koordinierung Humanitärer Angelegenheiten (Office for the Coordination of Humanitarian Affairs oder OCHA) leitet. OCHA ist der Teil des Sekretariats der Vereinten Nationen, der dafür zuständig ist, Akteure im Bereich der humanitären Maßnahmen zusammenzubringen, um eine in sich geschlossene Reaktion auf Notfälle zu gewährleisten.

    Der Auftrag des OCHA lautet:

    • Mobilisierung und Koordinierung wirkungsvoller und auf Grundsätzen beruhender humanitärer Maßnahmen in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Akteuren, um menschliches Leid bei Katastrophen und Notfällen zu lindern.
    • Vertreten der Rechte der Menschen in Not.
    • Fördern von Krisenvorsorge und -vorbeugung.
    • Herbeiführung nachhaltiger Lösungen. Der ERC und das OCHA sorgen auch dafür, dass es einen Rahmen gibt, in dem jeder Akteur zu dem Gesamtpaket der Maßnahmen beitragen kann. Dieser Rahmen wird als „Cluster-System“ bezeichnet.

     

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     OCHA Field Officer nimmt Verbindung zum Leiter eins IDP-Camps in Osttimor auf. (UN Photo/Martine Perret)

     

     

     

     

     

    Ziel des „Cluster-Systems“ ist es, die Partnerschaft der Akteure zu stärken und die Berechenbarkeit und Verteilung der Verantwortlichkeiten im Bereich internationaler Reaktionen auf humanitäre Notstände zu gewährleisten. Hierzu werden die Arbeitsteilung zwischen den Organisationen festgelegt und ihre Rollen und Zuständigkeiten in den Schlüsselbereichen der Reaktionsmaßnahmen besser definiert. Ein „Cluster“ oder Arbeitsgruppe wurde auf globaler Ebene eingerichtet , um die Arbeitsfähigkeit in elf Arbeitsbereichen, in denen entscheidende Lücken ermittelt wurden, zu stärken: Wasser, Abwasser und Hygiene (Water, Sanitation and Hygiene WASH), die Verfügbarkeit von und der Zugang zu Lebensmitteln (food security), Ernährung, Gesundheit, Bildung, Notunterkünfte (shelter), Logistik, Fernmeldeverbindungen, Lagerkoordinierung und –betrieb, frühe Wiederaufbaumaßnahmen (early recovery) und Schutz (protection). Eine Reihe internationaler Organisationen haben für diese Cluster die globale Führungsrolle übernommen und sind für eine wirkungsvolle übergreifende Reaktion in ihrem Cluster verantwortlich. So sind zum Beispiel alle humanitären Organisationen mit Expertise und Kapazitäten im Bereich gesundheitsbezogener Aktivitäten eingeladen, sich im Cluster „Gesundheit“ unter Führung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu beteiligen. Gemeinsam müssen sie den Gesamtumfang der Fähigkeiten der Gruppe abstecken, abschätzen, welche zusätzlichen Fähigkeiten sie voraussichtlich benötigen werden, und Bereitschaftsregelungen erarbeiten, um in der Lage zu sein, Personal und Gerät bei Ausbruch einer Katastrophe rasch verlegen zu können.

    Auf der Grundlage der Einsatzerfordernisse werden diese Cluster unter der Federführung des Koordinators für Humanitäre Hilfsmaßnahmen auch in betroffenen Staaten tätig. Jeder Cluster, der in der Regel Repräsentanten der jeweils zuständigen Ministerien des betroffenen Staates mit einschließt, kommt regelmäßig zusammen, um Erfordernisse zu prüfen, Prioritäten zu setzen und verfügbare Ressourcen zuzuweisen. Ressourcenengpässe werden ermittelt und es wird versucht, diese Lücken durch Aufrufe zur Unterstützung oder mit anderen Mitteln zu bereinigen. Die Cluster sind also der vorrangige Koordinierungsmechanismus für die Reaktionsmaßnahmen. Die Rotkreuzbewegung (das Internationalen Komitee vom Roten Kreuz ICRC und die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond- Gesellschaften IFRC), andere Internationale Organisationen sowie nicht staatliche Organisationen (Non-governmental Organizations - NGO) sind aufgefordert, sich an der Seite der verschiedenen VN-Nebenorgane und Sonderorganisationen (UNAgencies) zu beteiligen.

     

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     Das OCHA HQ im Palais des Nations, Genf. (UN Photo/ P Klee)

     

     

     

     

     

     

    Dennoch werden zahlreiche Organisationen nur widerstrebend bereit sein, mit diesen Koordinierungsmechanismen in vollem Umfang zusammenzuarbeiten, wie der Titel dieses Artikels nahelegt. Hin und wieder entscheiden sich einige NGO, nicht an Koordinierungsbestrebungen unter der Führung der VN teilzunehmen, insbesondere in komplexen Notfällen, wenn sich die VN eine politische Position zu eigen gemacht haben, die in einer Resolution des Sicherheitsrates dargelegt worden ist. In der Regel führen sie Bedenken hinsichtlich der Wahrnehmung ihrer Neutralität oder Unparteilichkeit seitens der örtlichen Bevölkerung als Grund an, sich dem Cluster- System nicht anzuschließen. Darüber hinaus möchten einige Organisationen lieber ihre eigenen Beurteilungen durchführen, eigene Mittel für ihre ermittelten Projekte/Programme einwerben und ihre eigenen Maßnahmen vor Ort durchführen, als ihre Ressourcen mit anderen Akteuren auf dem Gebiet zu „bündeln“. Unter Umständen sind sie auch mit Projektentscheidungen oder Priorisierungen des Clusters nicht einverstanden – mit anderen Worten: Sie wollen nicht „koordiniert“ werden. Dennoch erweist sich das Cluster- System seit vielen Jahren als effizientester Weg, eine groß angelegte humanitäre Hilfsoperation zu bewältigen. Militärische Organisationen sind ebenfalls eingeladen, an Cluster- Besprechungen teilzunehmen.

    Streitkräfte haben unter den Regelungen der Osloer Leitlinien (Oslo Guidelines – für Naturkatastrophen) oder der VN-Leitlinien für den Einsatz von Militär- und Zivilschutzmitteln zur Unterstützung humanitärer Maßnahmen der Vereinten Nationen in komplexen Notsituationen (MCDA Guidelines) erhebliche Beiträge zu Hilfseinsätzen weltweit geleistet. Generell kann das zivil-militärische Zusammenwirken in drei Hauptaktivitäten unterteilt werden: Informationsaustausch, Planung und Aufgabenteilung. Diese Aktivitäten stehen im Mittelpunkt des Cluster-Ansatzes, und seit je her sind die wirkungsvollsten militärischen Maßnahmen die, die über die Cluster koordiniert worden sind. Zudem treffen militärische Truppenteile, die von ihren Regierungen entsandt worden sind, Tage oder Wochen nach dem Auftreten eines Notfalls für Hilfsmaßnahmen ein. Es ist daher wichtig, dass Truppenführer gewährleisten, dass ihre Organisationen sich soweit wie möglich an den Koordinierungsmechanismen beteiligen, die bereits vorhanden sind, wenn der Truppenteil eintrifft, statt zu versuchen, neue, eigenständige Koordinierungsstellen wie CIMIC-Center einzurichten. Dies ist besonders entscheidend, wenn es zahlreiche militärische Organisationen gibt, die für den Hilfseinsatz verlegt worden sind. Beispielsweise verlegten über 25 Staaten in irgendeiner Form militärische Kräfte und Mittel im Rahmen der Reaktion auf das Erdbeben auf Haiti. Wenn es auch bekannt ist, dass in erster Linie J-9-, CIMICoder „Civil Affairs“-Offiziere für das zivil-militärische Zusammenwirken zuständig sind, sollten bei den Cluster-Besprechungen die eigentlichen Fachleute die Truppe aufgrund der Detailorientierung der Gespräche vertreten. Wenn es auch zutrifft, dass zahlreiche Organisationen – einschließlich Streitkräfte – nicht wollen, dass ihre Einsätze vor Ort von irgendeiner außenstehenden Gruppe „koordiniert“ werden, werden doch die meisten zugeben, dass ein wirkungsvoller Hilfseinsatz nur mit zentralen Koordinierungsmaßnahmen möglich ist, an dem alle Ressourcensteller in vollem Umfang beteiligt sind.

    Datum: 18.09.2012

    Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2012/2

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