„Der Sanitätsdienst muss in der Lage sein, medizinische Einsätze zu führen und ist ein wichtiger Akteur in gesundheitlichen Krisenlagen.“

Interview mit General Carsten Breuer, Generalinspekteur der Bundeswehr

Dr. Dr. André Müllerschön

Generalinspekteur Carsten Breuer
Bundeswehr/Weinrich

WM: Herr General, seit gut eineinhalb Jahren sind Sie der 17. Generalinspekteur der Bundeswehr und damit gleichzeitig der ranghöchste Soldat der Bundeswehr. Was hat sich seit Ihrer Amtsübernahme verändert?

General Breuer: Ich habe mein Amt als Generalinspekteur in einer Umbruchphase angetreten. Der barbarische Angriff Russlands auf die Ukraine ein Jahr vor meiner Amtsübernahme hat versucht, die sicherheitspolitische Landkarte Europas neu zu zeichnen. Und dieser Versuch ist noch immer beendet. Und jeden Tag, jede Woche zahlen Menschen mit Ihrem Leben für die menschenverachtenden Ideen Putins, die über den Krieg in der Ukraine hinausgehen. Deshalb müssen auch wir uns mit dem Bündnis vorbereiten. Kurz nach meinem Antritt haben uns aber auch die Evakuierung deutscher Staatsbürger aus dem Sudan und die Teilnahme an der Operation Aspides gefordert. Es hat sich viel bewegt, außerhalb und als Folge daraus auch in der Bundeswehr: Wir haben große Schritte hin zu kriegstüchtigen Streitkräften gemacht, die fähig sind zur Landesverteidigung und zur Bündnisverteidigung sowie zu Einsätzen im internationalen Krisenmanagement. Wir haben neue Strukturen geschaffen, sowohl im Verteidigungsministerium als auch im nachgeordneten Bereich. Und wir haben erheblich Fortschritte darin gemacht, die Beschaffung zu beschleunigen. Die Zeit für die Vertragsschlüsse zur Nachbeschaffung von Leopard 2 und Panzerhaubitze 2000 konnten wir zum Beispiel halbieren. Auch in der Gesellschaft ist viel in Bewegung gekommen. Wir diskutieren über die Notwendigkeit eines Wehrdienstes, eine Mehrheit unterstützt höhere Verteidigungsausgaben. Und überhaupt: Die Menschen im Land stehen hinter der Bundeswehr, sie vertrauen uns und verlassen sich auf uns. Das hat sich natürlich nicht allein in den vergangenen anderthalb Jahren entwickelt. Aber alles zusammen muss die Grundlage sein, auf der wir gemeinsam vorankommen. Gerade für diese vielfältige Unterstützung bin ich sehr dankbar. Sie ist notwendig und genau deshalb müssen wir immer daran arbeiten. Wir dürfen sie nicht als selbstverständlich voraussetzen.

WM: Für den Fall einer Ausweitung des russischen Angriffskrieges oder einer Beteiligung der NATO fällt der Bundesrepublik Deutschland mit der „logistischen Drehscheibe“ eine besondere Rolle zu. Wie ist da der derzeitige Planungsstand? Ist diese Tat- sache und mögliche Konsequenzen der breiten Öffentlichkeit bekannt?

General Breuer: Eins vielleicht vorab: Ein russischer Angriff auf NATO-Gebiet ist keine abstrakte Möglichkeit mehr, sondern eine reale Gefahr. Nach unseren Analysen hat Russland seine Streitkräfte in fünf bis acht Jahren so rekonstituiert, dass sie NATO- Territorium angreifen könnten. Ich sage das bewusst im Konjunktiv: Dieser Fall muss nicht eintreten, aber er kann. Deswegen müssen wir glaubhaft abschrecken, damit es eben nicht zu einem Krieg kommt. Und abzuschrecken heißt: wir müssen darauf vorbereitet sein – personell, materiell, aber auch mental. Im Falle einer Eskalation würden uns – als einer der größten Landmächte der NATO – zwei Rollen zufallen: die als Truppensteller und die als logistische Drehscheibe in der Mitte Europas. Für die Unterstützung der NATO-Pläne zur Verteidigung des Bündnisgebietes sind wir „all-in“ gegangen. Wir haben die gesamte Bundeswehr in die Planungen eingebracht. Besondere Verantwortung haben wir in Litauen übernommen, indem wir eine deutsche Brigade dort fest stationieren. Ein wichtiger Schritt, auch für unsere Glaubwürdigkeit im Bündnis, an der Ostflanke der Allianz. Und wir arbeiten gemeinsam auf Hochtouren an der Umsetzung.

Deutschland hat aufgrund seiner geografischen Lage dabei eine besondere Bedeutung für den Aufmarsch alliierter Streitkräfte. Egal, wohin die Truppen unserer NATO-Partner an der Ostflanke verlegen – sie werden Deutschland durchqueren. Das heißt, unsere Soldaten werden in solch einer Lage nicht nur selbst an die Ostflanke, ins Baltikum, nach Polen oder Südeuropa verlegen. Wir werden gleichzeitig „zu Hause“ Schlüsselinfrastruktur schützen müssen, um so als militärische Gastgeber, Transportkapazitäten, Verkehrsinfrastruktur, Treibstoff, Unterbringung, Verpfle- gung und so weiter verlässlich zur Verfügung stellen zu können. Um diesen neuen Herausforderungen zu begegnen, haben wir den OPLAN Deutschland entwickelt. Dieser Plan liegt inzwischen vor und soll in enger Kooperation mit Bund, Ländern und Kommunen die Voraussetzung für die Landesverteidigung und Bünd- nisverteidigung auf deutschem Territorium schaffen. Dazu brauchen wir zusätzliches Personal – voraussichtlich Reservisten – aber auch Unterstützung aus der Wirtschaft. Fest steht: Unsere Alliierten bauen auf uns, und das können sie auch. Wir werden liefern.

„Der Sanitätsdienst muss in der Lage sein, medizinische Einsätze zu führen...
Quelle: Bundeswehr/Twardy

WM: Vor dem Hintergrund der aktuellen sicherheitspolitischen Lage in Europa drängt sich regelmäßig die Frage nach einer Reaktivierung der Wehrpflicht in Deutschland auf. Der Minister hat hierzu einen Vorschlag gemacht. Welche Dauer sehen Sie, bis der nötige Aufwuchs gewährleistet werden kann? Wo liegen hier Chancen, wo aber auch Risiken?

General Breuer: Klar ist erstmal, dass es keine Reaktivierung der alten Wehrpflicht geben wird. Wir planen einen neuen Wehr- dienst, der in erster Linie dazu dienen soll, die Zahl ausgebildeter Reservisten zu erhöhen. Wie wichtig das mit Blick auf die „Drehscheibe Deutschland“ ist, habe ich gerade geschildert. Für unsere Zusagen gegenüber der NATO und die Umsetzung des OPLAN Deutschland benötigen wir insgesamt etwa 460 000 Soldatinnen und Soldaten. Derzeit liegt die Sollstärke der Bundeswehr bei rund 200 000 aktiven militärischen Dienstposten. Hinzu kommen 60 000 grundbeordete Reservistinnen und Reservisten, macht 260 000. Die Differenz werden wir in den kommenden Jahren maßgeblich über den neuen Wehrdienst gewinnen. Der Aufwuchs wird schrittweise erfolgen, so wie es unsere Ausbildungskapazitäten erlauben. Wir wollen mit ca. 5 000 Männern und Frauen beginnen und diese Zahl dann kontinuierlich steigern. Bis wann müssen wir soweit sein? Diesen Zeitpunkt diktiert jemand anders: Putin. Gemäß unseren Analysen kann dieser Fall in fünf bis acht Jahren eintreten.

WM: Die Auflösung des Zentralen Sanitätsdienstes der Bundes- wehr als eigenständigen Organisationsbereich ist Teil einer umfangreichen Strukturreform, die die Führungsprozesse in den Streitkräften insgesamt verschlanken und sie somit reaktions- schneller machen soll. Wo genau liegen die Vorteile, den Sanitätsdienst gemeinsam mit anderen militärischen Bereichen in einem neuen Unterstützungskommando zusammenzufassen?

General Breuer: Unsere Strukturen, von der Leitung des Ministeriums bis in die Truppe, waren auf die Führung und Organisation von Einsätzen im internationalen Krisenmanagement, auf Auslandseinsätze ausgerichtet. Mit Russlands Angriff auf die Ukraine hat sich das sicherheitspolitische Umfeld aber grundlegend geän- dert. Dieser neuen Realität haben wir uns gestellt und den Schwerpunkt auf Landesverteidigung und Bündnisverteidigung gelegt. Es kommt darauf an, klare, international anschlussfähige Verantwortlichkeiten zu definieren. Vor diesem Hintergrund muss man nicht nur die Aufstellung des Operativen Führungskomman- dos sehen, sondern auch die Verbindung der Teilstreitkräfte mit ihrer Verantwortung für die Dimensionen Land, See, Luft/Weltraum und Cyberspace. Die Unterstützung dieser Bereiche erfolgt, vor allem auch weil wir dabei von knappen Ressourcen ausgehen aus einer Hand. Dem Unterstützungskommando kommt dabei eine besondere Rolle zu. Der Sanitätsdienst wiederum hat darin eine herausgehobene Aufgabe, weil er bei ebenfalls knappen Res- sourcen taktisch führen können muss. Zum einen muss der Sanitätsdienst in der Lage sein, medizinische Einsätze zu führen, zum anderen ist er wichtiger Akteur in gesundheitlichen Krisenlagen. Beides wird auch strukturell abgebildet werden. Wie immer und überall, wenn neue Strukturen ein bestehendes komplexes System verändern, wird es in den kommenden Monaten hier und da knirschen. Am Ende, davon bin ich überzeugt, werden wir mit dieser Struktur besser. Wenn wir über die strategische, die operative und die taktische Ebene hindurch klare und einheitliche Strukturen haben, die noch dazu in der NATO üblich sind, werden wir damit reaktionsschneller und effektiver.

WM: Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Wo sehen Sie die zukünftigen größten Handlungsfelder, um die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr stetig weiter zu verbessern? Und woher nehmen Sie Ihren Optimismus?

General Breuer: Für mich stechen zwei Handlungsfelder heraus: das Personal und das Schritthalten mit dem technologischen Fortschritt. Wie alle Arbeitgeber kämpfen auch wir mit dem demografischen Wandel und damit vor allem um qualifizierte Fachkräfte. Auch zukünftig wird uns die Personalknappheit zunehmend zwingen, neue Wege zu gehen. Das heißt nicht nur, dass wir flexibler werden müssen bei der Personalgewinnung. Das heißt auch, dass wir raus müssen aus personalintensiven Verwendungen. Wir müssen kritisch bewerten, wofür wir noch Menschen benötigen und was künftig zum Beispiel auch mit Künstlicher Intelligenz und durch Robotik erledigt werden kann. Zweiter Punkt, technologischer Wandel: Wir dürfen bei diesen Themen nicht den Anschluss verlieren. Beim Thema Drohnen erle- ben wir gerade, wie weit wir hinterherhinken und wie schmerzhaft dann der Aufholprozess ist. Das darf uns nicht nochmal passieren.

Meinen Optimismus behalte ich, weil ich jeden Tag sehe, was unsere Soldatinnen und Soldaten leisten. An der NATO-Ostflanke, in den Einsätzen oder im Grundbetrieb, an den Heimatstandorten. Sie alle halten ein riesiges Containerschiff am Laufen, das in schwerer See grundüberholt wird – bei laufender Fahrt! Das kos- tet Kraft, das weiß ich. Und das wird gelingen, davon bin ich überzeugt. Darauf kann jede und jeder stolz sein – ich bin es auf jeden Fall.

WM: Herr General, vielen Dank für das Gespräch!



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