Einleitung
„Die Bundesregierung ist der Überzeugung, dass wir den Herausforderungen unserer Zeit durch eine Politik der Integrierten Sicherheit begegnen können: Wir verstehen darunter das Zusammenwirken aller relevanten Akteure, Mittel und Instrumente, durch deren Ineinandergreifen die Sicherheit unseres Landes umfassend erhalten und gestärkt wird“.
Schon mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch die Russische Föderation im Jahr 2014 wurde der strukturelle Umbau der Bundeswehr (Bw) im Rahmen der Refokussierung auf die Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) eingeleitet. Wurden im Weißbuch 2016 das Internationale Krisenmanagement (IKM) und die LV/BV noch gleichrangig betrachtet, stellten nach Einläuten der Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers Olaf Scholz die Verteidigungspolitischen Richtlinien im Jahre 2023 die LV/BV als strukturbestimmend in den Mittelpunkt. In diesen wird hervorgehoben, dass Wehrhaftigkeit eine kriegstüchtige Bundeswehr erfordert. „Präsident Putin [hat] mit seinem Überfall auf die Ukraine eine neue Realität geschaffen“.
Trotzdem zeigt sich, dass die „gefühlte Realität“ immer noch durch die Einsätze des IKM sowie das Engagement im Rahmen der nationalen Krisen- und Risikovorsorge sowie die Not- und Katastrophenhilfe geprägt ist. Die Einsätze in Mali und Niger, die Evakuierungsoperationen aus Afghanistan, Sudan und Israel sowie die Unterstützung im Zuge der Corona-Pandemie in Deutschland und Portugal, der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 oder der Erdbebenhilfe Türkei, haben insbesondere im Sanitätsdienst der Bundeswehr (SanDstBw) Personal und Material in erheblichem Umfang gebunden.
Die Gesundheitsversorgung der Bundeswehr (GesVersBw) dient der Erhaltung der Gesundheit und der Dienstfähigkeit aller Bundeswehrangehörigen und trägt wesentlich zur Einsatzfähigkeit und Einsatzbereitschaft der Streitkräfte bei. Um diesem Auftrag und den oben beschriebenen, wechselnden Herausforderungen bestmöglich Rechnung zu tragen, hat sich der SanDstBw in den vergangenen Jahren kontinuierlich weiterentwickelt und intensiv mit den Perspektiven der Zukunftsentwicklung der GesVersBw auseinandergesetzt. Den Ereignissen des Russland-Ukraine-Krieges folgend, hat das Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr in Koblenz eine intensive dreiteilige Workshop-Serie mit Teilnehmenden aus den verschiedensten Bereichen der Bw durchgeführt und aufbauend auf den Ergebnissen das Zielbild 2031 für den SanDstBw entwickelt.
Die Erfahrungen aus der Ukraine zeigen jedoch auch, dass Gesundheitsversorgung im Rahmen eines international bewaffneten Konfliktes alleine durch einen militärischen Sanitätsdienst nicht sicherzustellen ist, sondern vielmehr eine Aufgabe für eine gesamtstaatliche Gesundheitsversorgung, ganz im Sinne einer integrierten Sicherheit, ist. Einen wesentlichen Unterschied zu den (tages-)aktuellen Herausforderungen und Aufgaben stellen, alleine aufgrund der anzunehmenden Anzahl von PatientInnen, der Transport und die Verteilung dar. Diese müssen im engen Zusammenwirken des SanDstBw mit der NATO sowie Bund und Ländern sichergestellt werden. Als Grundlage für ein koordiniertes und abgestimmtes Vorgehen aller Akteure wird zukünftig ein Gesundheitsvorsorge- und Sicherstellungsgesetz dienen müssen. Dies betrifft neben dem SanDstBw vor allem die nationalen Hilfsorganisationen sowie ambulanten und stationären zivilen Leistungserbringer im Gesundheitssystem.
Ein zentraler Akteur für die Sicherstellung von Patiententransport und -behandlung als „Endstrecke“ der Rettungskette in Deutschland sind die fünf Bundeswehrkrankenhäuser (BwKrhs) in Berlin, Hamburg, Koblenz, Ulm und Westerstede.
Herausforderungen und Fähigkeiten des SanDstBw
Der Aufgabenbereich des SanDstBw ist um die Stärkung der zivilen Vorsorge und die Stärkung der nationalen Resilienz erweitert; dies geschieht vor dem Hintergrund von Gefahren für die Bevölkerung wie eine hybride Kriegsführung, globaler Klimaveränderungen mit Naturkatastrophen, möglicher Pandemien und der Aufgabe, die gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit zu stärken. Es ist ein robuster und gleichzeitig flexibler, hochmobiler SanDstBw gefragt, der dem Anspruch genügt, zu jeder Zeit, an jedem Ort, ggf. unter schwierigen klimatischen, soziokulturellen und epidemiologischen Bedingungen mit einer kurzen Reaktionszeit seine Aufträge zu erfüllen. Diese Herausforderungen erfordern eine verstärkte Effektivität, Effizienz und Wirtschaftlichkeit. Die aktuellen militärischen Aufgaben müssen nun, mehr als eine Dekade nach Aussetzung der Wehrpflicht, von einer geringeren Zahl von SoldatInnen erfüllt werden. Diese sind in der Regel hochqualifiziert und verfügen über größere Spezialkenntnisse. Gesundheitlich bedingte Ausfälle von SoldatInnen aus diesem Kreis von Spezialisten wiegen daher umso schwerer.
Der SanDstBw hat sich insbesondere infolge seiner Einsatzerfahrungen zu einem eigenständigen, komplexen, militärischen Gesundheitssystem entwickelt, welches auf fachlicher Augenhöhe mit zivilen Einrichtungen und Fachgesellschaften in unterschiedlichen Lagen zusammenarbeitet und sich bewährt hat.
Unter einer einheitlichen Führung weist der SanDstBw nicht nur nahezu die gleichen Mittel des zivilen Gesundheitswesens auf, sondern verfügt darüber hinaus auch über wichtige Forschungs- und spezialisierte Hochwertfähigkeiten für außergewöhnliche Gefahrenlagen (dazu zählen u. a. schwerwiegende gesundheitliche Gefahren für die Bevölkerung, welche durch hochpathogene Erreger/biologische Toxine, chemische Stoffe sowie radiologische oder nukleare Agenzien verursacht werden können), welche auch bereits zur Bewältigung von Katastrophen im Inland eingesetzt worden sind (z. B. in der COVID-19-Pandemie).
Durch das Military Medical Coordination Center-Europe verfügt der SanDstBw darüber hinaus über das Kernelement innerhalb der NATO und der EU zur koordinierten Zusammenarbeit der militärischen Sanitätsdienste in Europa.
Diese Fähigkeiten machen heute den SanDstBw nicht nur für NATO und EU, sondern auch für das Inland zu einem begehrten Partner.
Innerhalb des NATO-Bündnisses erfolgt die Arbeit des SanDstBw in multinationalen Verbänden. Dies ermöglicht eine Entlastung der einzelnen Bündnispartner, die Nutzung von einzigartigen und speziellen Fähigkeiten einzelner Bündnispartner, als auch die Sicherstellung der Aufwuchs- und Durchhaltefähigkeit. Im Rahmen von militärischen Operationen erfolgt die Evakuierung von PatientInnen entlang der Rettungskette über den qualifizierten Patiententransport (Medical Evacuation), welcher integraler Bestandteil der kontinuierlichen Patientenversorgung (continuum of care) ist. Eine bedarfsgerechte medizinische Unterstützung durch Sanitätspersonal während des Patiententransportes ist dabei ausdrücklich vorgesehen. Die Repatriierung und Verteilung von verwundeten SoldatInnen auf zivil-militärische Behandlungsstrukturen wird gesteuert durch ein Patient Evacuation Coordination Centre (PECC). Die derzeitigen Transportmittel für den strategischen Transport beinhalten insbesondere den Lufttransport, der auf europäischer Ebene bereitgestellt wird.
Bodengebundene Transportmittel ermöglichen als strategischer Verwundetentransport einen von der Luftraumsicherheit unabhängigeren Einsatz. Ergänzend zu den bereits bestehenden Transportmitteln wären insbesondere der Schienentransport mit High-Care-Kapazitäten (Patiententransportzug) als auch Großraumbusse mit Intensivkapazitäten mögliche Optionen. Daneben ist, abhängig vom Einsatzgebiet, auch der Einsatz von Lazarettschiffen denkbar.
Auch im Inland gilt die Sicherstellung der kontinuierlichen Patientenversorgung. Aufgrund der Auslastung ziviler Rettungsmittel bereits im normalen Betrieb, müssen im LV/BV-Szenario hierzu notwendige zusätzliche Kapazitäten vorgehalten werden. Die Rolle und der Umfang der Beteiligung von Hilfsorganisationen bleiben zeitnah weiter auszudifferenzieren, insbesondere mit Blick auf ein BV-Szenario.
Im Falle der LV/BV ist die Einbindung von zivilen Behandlungskapazitäten im Inland essenziell. Das PECC muss folglich um ein bundesweites Verteilungsleitsystem, analog zu dem in der Coronapandemie entwickelten und bewährten „Kleeblattsystem“, ergänzt werden.
Beim Kleeblattsystem handelte es sich um einen bundesweiten Mechanismus zur Verteilung von an COVID-19 erkrankten intensivpflichtigen PatientInnen, der zwischen Bund und Ländern etabliert wurde. Kleeblatt daher, weil sich durch Zusammenschluss meist mehrerer Länder zu fünf Regionen bildlich eine kleeblattartige Struktur auf der Landkarte Deutschlands ergab. Zur strategischen Koordination wurde als 6. Kleeblatt ein Gemeinsames Melde- und Lagezentrum (GMLZ) eingerichtet.
Um die zu erwartenden Quantitäten von PatientInnen in der LV/BV steuern zu können, muss das Kleeblattsystem weiterentwickelt, d. h. insbesondere um ein militärisches Verteilersystem als „AddOn“ ergänzt werden. Innerhalb des Kleeblattsystems sollten zudem Zuweisungen durch das GMLZ unter militärischer Beteiligung verbindlich erfolgen können.
Dieses Prinzip wird nicht auf Basis von Kooperationsvereinbarungen einer zivil-militärischen Zusammenarbeit alleine zu erreichen sein, sondern ist nur bundesländerübergreifend, beispielsweise durch ein Gesundheitsvorsorge- und Sicherstellungsgesetz zu organisieren.
Hierfür werden ein zentrales, bundesländerübergreifendes, primär digitales Lagebild sowie eine digitale Patientennachverfolgung (Patiententracking) notwendig sein.
Zugleich muss bereits im Frieden das Bewusstsein in zivilen Kliniken gestärkt bzw. geschaffen werden, dass die Aufgaben in der LV/BV nur in einem gesamtstaatlichen Ansatz zu bewältigen sein werden. Insbesondere in Vorbereitung auf eine BV erscheint dies relevant, da die zivile Inlandsversorgung durch die Versorgung verletzter, verwundeter oder erkrankter SoldatInnen betroffen sein wird.
Zudem wird aufgrund des Einsatzes ein großer Teil des militärischen medizinischen Fachpersonals nicht mehr in eigenen Sanitätseinrichtungen im Inland verfügbar sein. Ein wesentlicher Anteil der in der BV zu versorgenden verletzten und verwundeten SoldatInnen betrifft die operativen Fachgebiete. Exemplarisch werden sie an dieser Stelle in den Fokus gerückt, wenngleich, insbesondere bei längerer Einsatzdauer, die konservativen Fachgebiete zur Versorgung von Erkrankten ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, bei sogenannten Disease-Non-Battle-Injuries. Diese umfassen neben normalen (Arbeits-)Unfällen auch infektiologische Krankheitsbilder wie Gruppenerkrankungen (gastrointestinale Infekte, Infektionen der Atemwege, wie COVID-19, Influenza, etc.), aber auch umweltbezogene Erkrankungen (bspw. Unterkühlungen).
Für die Versorgung von Schwer- und Schwerstverletzten bestehen im deutschen Gesundheitssystem sehr gut etablierte Verfahren und Netzwerke, an denen auch die BwKrhs infolge ihrer Integration in das zivile Gesundheitssystem partizipieren. Hierunter fallen beispielsweise die Zulassung zum Schwer- oder Schwerstverletzungsartenverfahren der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung ebenso wie die Zertifizierung als überregionales oder regionales Traumazentrum in einem Traumanetzwerk der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU). Der Schluss liegt nahe, sich auch in der LV/BV auf diese bewährten Strukturen abzustützen. Die Bundeswehr hat daher bereits im Jahr 2019 einen Letter of Intent mit den Berufsgenossenschaftlichen Kliniken (BG Kliniken) unterzeichnet und damit die zivil-militärische Kooperation intensiviert. Auch mit Universitätskliniken wurde die Zusammenarbeit vertieft, beispielsweise durch Zeichnung einer Erklärung im Januar 2023 zwischen der Universitätsklinik Ulm und dem dortigen BwKrhs.
Am 22. April 1999 wurde in Bonn zwischen dem Bundesministerium der Verteidigung und der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) die Intensivierung der zivil-militärischen Zusammenarbeit neu festgelegt. Ziel dieser Vereinbarung war damals bereits die Stärkung der Patientenversorgung für eine mögliche Landes- und Bündnisverteidigung.
Mit Blick auf die Zukunft bleibt es das Ziel, diese bestehende zivil-militärische Kooperation mit geeigneten Partnern weiter zu stärken. Hierzu wurden Kriterien entwickelt, die beispielsweise die Bedeutung der Zusammenarbeit für die Patientenversorgung, der Aus- und Fortbildung sowie der Forschung zur Erfüllung von Strukturanforderungen, aber auch die regionale Nähe zu Sanitätseinrichtungen im Inland (z. B. BwKrhs) umfassen.
Infolge eines Einsatzes in der LV/BV ist zudem mit einer nicht unerheblichen Anzahl von psychischen Ausfällen zu rechnen. Diese werden, neben der akuten Belastungsreaktion, Folge von Krankheitsbildern mit einer längeren Behandlungsdauer sein, z. B. Posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen. Insbesondere die letztgenannten Krankheitsbilder bergen die Gefahr einer Chronifizierung mit langen Ausfallzeiten. Ziel des Managements von einsatzbedingten psychischen Störungen ist es, grundsätzlich die Behandlung „innerhalb“ der Truppenteile durchzuführen, um die schnelle Rückführung in den Dienst zu gewährleisten.
In der BV, mit Blick auf die Rettungskette der Bundeswehr, ist die Versorgung der akuten Belastungsreaktion noch im Einsatzland (Ebene 3, gegebenfalls auch in einer erweiterten Ebene 2) verortet. Die Behandlung der Störungsbilder von komplexeren psychiatrischen Krankheitsentitäten mit längerer Behandlungsdauer wird im Inland (Ebene 4) nach einer Repatriierung durchgeführt. Die psychiatrisch-psychotherapeutische Ebene 4-Behandlung muss, analog zu der somatischen Versorgung, durch verschiedene Kliniken in zivil-militärischer Kooperation erfolgen. Eine besondere Herausforderung ist, dass in einer BV behandlungsbedürftige SoldatInnen aus dem Einsatz auf ein System treffen, das bereits zu Friedenszeiten ausgelastet oder zum Teil überlastet ist. Für die psychiatrische-psychotherapeutische Ebene 4-Behandlung müssen daher deutschlandweit zivile Kliniken als Kooperationspartner identifiziert und für die zivil-militärische Kooperation vorbereitet werden. Besonders in Frage kommen dafür Kliniken für Psychiatrie bzw. Abteilungspsychiatrien des überregionalen Traumanetzwerkes der DGU als auch BG Kliniken sowie bereits aktuell in Anspruch genommene Fachkliniken für Psychiatrie/Psychotherapie und Psychosomatik/Psychotherapie.
Es ist davon auszugehen, dass insgesamt die zivil-militärischen Behandlungskapazitäten durch Truppen der Bündnispartner im Rahmen des Host Nation Support und durch erhöhte Patientenzahlen aus der Bevölkerung als Folge einer hybriden Kriegsführung zusätzlich belastet werden. Die zivil-militärische Kooperation der Rolle 4-Behandlung im Inland soll in regionalen Clustern erfolgen, wobei den BwKrhs eine lokale koordinative Aufgabe in der Verteilung zukommen soll. Darüber hinaus besteht der Bedarf an ergänzender Rehabilitation und ambulanter Nachbetreuung, auf den auch die regionalen Sanitätseinrichtung adäquat vorzubereiten sind.
Schlussfolgerung
Der SanDstBw ist der Schlüsselakteur für die Patientenversorgung in der LV/BV. Er muss die einzelnen inländischen Kräfte im Sinne eines gesamtstaatlichen Ansatzes bündeln und koordinieren, um die Versorgung von SoldatInnen mit Hilfe eigener und ziviler Strukturen sicherzustellen.
Dies beinhaltet eine bundesweite Verteilung der PatientInnen auf geeignete Kliniken, um beispielsweise lokale Überlastungssituationen sowie Patientenfolgetransporte zu vermeiden. Idealerweise erfolgt dann parallel zur operativen Versorgung sowohl die konservativ-somatische als auch die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung „am selben Krankenbett“. Die bereits bestehende zivil-militärische Verzahnung muss angesichts dieser neuen Herausforderungen weiterentwickelt und auf den Einsatz vorbereitet werden.
Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2/2024
Oberfeldarzt Dr. J.-H. Claasen
Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr
Von-Kuhl-Str. 50
56070 Koblenz
E-Mail: JanHendrikClaasen@bundeswehr.org