EINSATZCHIRURGIE AUS DEM BLICKWINKEL DES BERUFSVERBANDES DER DEUTSCHEN CHIRURGEN

Die Aufgaben der Bundeswehr haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich verändert.

War der Auftrag primär auf die reine Verteidigung des eigenen Territoriums gerichtet, erwarten unsere Verbündeten heute eine Aufgabenund Lastenteilung. Damit ist es für die Bundeswehr unvermeidlich weltweite ordnungspolitische Verpflichtungen übernehmen zu müssen. Der Schatten der jüngeren Geschichte aber, der immer noch über Deutschland liegt, bleibt Mahnung genug, die Freiheit, nur wenn nicht anders möglich, mit Waffengewalt zu verteidigen, in jedem Fall aber besonderes Einfühlungsvermögen und besonderes soziales Engagement zu zeigen.

Vom Sanitätsdienst der Bundeswehr wird somit erwartet, dass er sich nicht nur um die Belange der Soldatinnen und Soldaten bekümmert. Vielmehr wird wie selbstverständlich vorausgesetzt, dass auch die Zivilbevölkerung in gleicher Weise in den Versorgungsauftrag einbezogen wird. War der Sanitätsdienst lange Zeit auf einen fiktiven Verteidigungsfall ausgerichtet, waren seine Einrichtungen zu einem wesentlichen Teil schlummernd gelagert, sind die Anforderungen heute real und übertreffen jene, die im Zivilleben an den Arzt, Pfleger etc. gestellt werden, unter Umständen bei Weitem.

Im folgenden sollen daher aus Sicht des Berufsverbandes der deutschen Chirurgen sechs Thesen diskutiert werden, die sich mit den zukünftigen Entwicklungen des Sanitätsdienstes beschäftigen.

These 1

Die demographische Entwicklung trifft auch die Bundeswehr

Im Jahre 2010 ist der Altersquotient, bei weiterhin linear fallendem Jugendquotienten, in die exponentielle Phase eingetreten, die bis 2036 anhalten wird, um sich dann bis zur Mitte des Jahrhunderts abzuflachen. In Zahlen bedeutet dies nach Beske fünf Millionen Menschen mehr, die sich jenseits des 67. Lebensjahres befinden und fünf Millionen weniger jugendliche Bürger. Die Bevölkerung insgesamt wird um 17 Millionen Bürger schrumpfen (Abb. 1 und 2) (Fritz Beske Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel 2007) [3, 5].

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Abb. 1: Bevölkerungsentwicklung bis 2050 [5]

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Abb. 2: Entwicklung des Jugend-, Alten- und Gesamtquotienten mit den Altersgrenzen 20 und 65 Jahren bis zum Jahr 2050 [5]

Die neuen Zahlen vom Arbeitsmarkt zeigen, wie intensiv und kompetitiv der Wettbewerb um die besten Köpfe zwischen den unterschiedlichen Fachdisziplinen, der Wirtschaft und den staatlichen Institutionen bereits heute ausgetragen wird.

Umfragen in der jüngeren Generation machen darüber hinaus klar, dass die work-life- Balance, das Arbeitsklima, Weiterbildungsund Aufstiegschancen und nicht zuletzt auch die Entlohnung eine immer größere Rolle spielen, wenn es um die Wahl des Arbeitsplatzes geht [1, 2].

Der Sanitätsdienst der Bundeswehr muss ein umfassendes medizinisches Aufgabenspektrum bewältigen. Er benötigt dazu hoch belastbare, verlässliche, kluge, der Organisation und dem Auftrag verpflichtete Soldatinnen und Soldaten - mit einem Wort, die besten Köpfe.

These 2

Der Kernauftrag des Sanitätsdienstes der Bundeswehr ist

Die verpflichtende Maxime des Sanitätsdienstes lautet:

Schutz, Erhalt, Verbesserung und Wiederherstellung der Gesundheit der Soldatinnen und Soldaten, sowie eine Versorgung im Einsatz, die im Behandlungsergebnis dem fachlichen Standard im Inland entspricht (Abb. 3).

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Abb. 3: Die Aufgaben stellen nicht nur große Herausforderungen an die Soldatinnen und Soldaten, sondern erfordern eine regelmäßige Weiterbildung.

Implizit wird von Deutschland erwartet, dass sich der Sanitätsdienst in gleicher Weise um die Erkrankungen und Verletzungen der Zivilbevölkerung des jeweiligen Landes kümmert. Die chirurgischen Teams müssen daher die “Alltagschirurgie” einschliesslich der chirurgischen Onkologie abdecken und die für die jeweilige Region typischen, in den gemäßigten Breiten möglicherweise weitgehend unbekannten, Erkrankungen kennen und deren Therapie beherrschen.

Die spezifischen Aufgaben im militärischen Einsatz umfassen die gesamte Verletzungs - Chirurgie, um die wesentlichsten Verletzungsarten zu nennen:

Kombinierte Verletzungen, Verletzungen durch stumpfe und scharfe Gewalt, Kavitationsverletzungen, thermische, hyperbare, toxische Verletzungen und solche, die durch ionisierende Strahlen entstehen.

Wegen der begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen der Bundeswehr kann die Fülle der Aufgaben nur durch hochgebildete Generalisten bewältigt werden [4, 6]. Die Entwicklung in der Zivilgesellschaft jedoch hat sich aber längst vom Generalisten verabschiedet.

These 3

Das Aufgabenspektrum der chirurgischen Teams im Einsatz ist umfassend und wird durch keinen der modernen Weiterbildungsgänge abgedeckt

Die chirurgischen Disziplinen haben sich in den letzten Jahrzehnten etabliert, um einerseits dem Qualitätsanspruch der Gesellschaft Genüge zu leisten, andererseits das exponentiell wachsende Wissen überhaupt noch abbilden zu können. Dieser Qualitätsanspruch der Bevölkerung und die durch das Arbeitszeitgesetz stark eingeschränkten Möglichkeiten, eine breite Weiterbildung zu etablieren, führen folgerichtig zum Spezialistentum, in den skandinavischen und angelsächsischen Ländern bereits zum Superspezialisten, der sich nur noch für ein Organsystem zuständig fühlt.

Daneben etablieren sich unter dem ökonomischen Druck auch bei uns mehr und mehr interprofessionelle Organzentren.

Interprofessionelle Kooperation ist auch für den Sanitätsdienst unverzichtbar. Sie muss aber je nach Sachlage schnell und flexibel gehandhabt werden. Festgelegte Strukturen sind im Einsatz nicht zielführend.

Die Chirurgen der Bundeswehr benötigen daher eine spezifisch auf die Belange des Einsatzes abgestimmte, sehr breit angelegte Aus- und Weiterbildung. Wegen des umfassenden Anspruches, den der Sanitätsdienst an seine Leistungsfähigkeit stellt, muss diese ein sehr hohes Niveau erreichen. Die Aus- und Weiterbildung sollte daher einem strikt festgelegten Curriculum folgen, wie es derzeit vorbildlich ausgearbeitet bereits umgesetzt wird (Abb. 4). Dieses Curiculum ist verbunden mit entsprechenden Kursen und einer reglementierten Rotation in die einzelnen Bereiche.

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Abb. 4: Ausbildungskonzept für chirurgisch tätige Sanitätsoffiziere.

Aus Sicht des BDC ist das operative Spektrum der Bundeswehrkrankenhäuser jedoch zu eingeschränkt, die Zahl der Patienten im Verhältnis zum Weiterbildungsbedarf zu niedrig, um die perfekten Chirurgen hervorbringen zu können, die für die ordnungspolitischen Aufgaben der Bundeswehr benötigt werden. Zumindest eine den Notwendigkeiten des Einsatzes in Krisengebieten angepasste Zahl von ausgewählten Chirurgen bedarf eines arbeitslebenslangen täglichen Trainings auf höchstem Niveau. Denn im Einsatz , wenn die Ärzte unter Umständen auf sich allein gestellt sind, müssen komplexeste und schwierigste Probleme ad hoc optimal beherrscht werden, um den verwundeten Soldatinnen und Soldaten beste Überlebens- und Heilungschancen zu garantieren.

Eine weitere ganz besondere Herausforderung für jedwede Organisation, der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Sanitätsdienstes zugeordnet sind, ergibt sich aus der Tatsache, dass im Krisenfalle eine sofortige Verfügbarkeit sichergestellt werden muss.

These 4

Die Gegebenheiten kriegerischer Auseinandersetzungen und die spezifischen Umstände von Krisen und in Krisengebieten, aber auch die physischen und psychi dchen Folgen der Einsätze lassen eine fokussierte Forschung wünschenswert erscheinen.

Die Fragestellungen, die daraus erwachsen liegen zivilen Forschungseinrichtungen fern. Sie erscheinen daher nicht sehr geeignet, den notwendigen substantiellen Forschungsbeitrag zu leisten. Somit wäre es möglicherweise sinnvoll, über spezifische wissenschaftliche Einrichtungen nachzudenken, die Forschung auf hohem Niveau bündeln und betreiben.

These 5

Stabile Systeme zeichnen sich durch intensive Mitarbeiterbindung aus.

Diese Bindung kann durch gute Aus-und Weiterbildungsangebote, gute Karrierechancen, eine adäquate Entlohnung, sogenannte Incentives, und ein hohes soziales Ansehen erzeugt und bis zu einem gewissen Grade erhalten werden. Letztlich aber entscheiden im Regelfalle nicht materielle Gegebenheiten darüber, ob eine langfristige Bindung entsteht.

Besonders in den schneidenden Fächern ist es auch heute noch die Bindung an den oder besser die chirurgischen Lehrer, die ihre menschlichen, ärztlichen und handwerklichen Fertigkeiten weitervermittelt haben. Ganz nebenbei entwickelt sich damit auch die Bindung an die Institution.

Denkbare Strategien

Bereits ein kurzer Blick auf die aktuellen Themen der Presse und die neueste Verlautbarung des Wehrbeauftragten, die sich mit der Situation des Sanitätsdienstes der Bundeswehr beschäftigen, machen deutlich, dass erhebliche substantielle Probleme bestehen, die den Sanitätsdienst in seiner Funktionalität bedrohen [4, 6].

Beklagt wird eine ungünstige Work-Life-Balance, häufige, manchmal nicht vorhersehbare Standortwechsel, zahlreiche Auslandseinsätze, inadäquate Bezahlung im Vergleich zum zivilen Sektor, unsichere Karriere- und Aufstiegschancen und eine nicht ganz optimale Operationsfrequenz für die Fachärzte in den Bundeswehrkrankenhäusern. Hinzu gesellt sich die Unsicherheit, die durch die Reform der Bundeswehr ausgelöst wird.

Man muss kein Hellseher sein, um vorherzusagen, dass es der Bundeswehr an Zahl und Qualifikation künftiger Bewerber und Bewerberinnen mangeln wird. Die “Verweiblichlichung” der Medizin, die jeden Arbeitgeber zwingen wird, intensiv über familienfreundliche Arbeitsbedingungen nachzudenken, vereinfacht die Situation in keiner Weise.

Aus Sicht des Berufsverbandes erscheinen drei Strategien sinnvoll und zielführend:

  1. Im Sinne der Kollegen und Kolleginnen, die für den Einsatz im Ausland und in Kriegsund Krisengebieten vorgesehen sind, könnte ein spezieller Karriereweg etabliert werden, der sich nicht an der Befehlsgewalt sondern vielmehr an der Qualifikation orientiert. 
  2. Die zivil-militärische Zusammenarbeit könnte intensiviert werden. Dabei sollten die Kolleginnen und Kollegen Maximalversorgern zugeordnet werden, die über eine hohe Operationsfrequenz und nach Qualitätssicherung über eine hohe Expertise verfügen. Dem wird immer wieder entgegengehalten, die Integration in bestehende Teams sei schwierig und die ad hoc Verfügbarkeit nicht sicherzustellen. In Zeiten der allgemeinen Personalknappheit sind diese Argumente jedoch nicht mehr stichhaltig, zumal, wenn klare und absolut bindende vertragliche Regelungen ausgearbeitet werden
  3. Die optimale Strategie, die es wahrscheinlich erlauben würde, zumindest die drängendsten Probleme zu lösen, läge nach Meinung des BDC darin, den Sanitätsdienst der Bundeswehr zum integralen Bestandteil des Medizinsystemes werden zu lassen. Würde die Bundeswehr die medizinische Fakultät und die zugehörigen universitären Kliniken an einem bestehenden Standort erwerben, könnte die Aus- und Weiterbildung in abgestimmter Weise erfolgen. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr könnte, die Anforderungen im Einsatz bedenkend, zum Vorreiter einer modularen, interprofessionellen, evtl. berufsbegleitenden Weiterbildung werden, wie sie derzeit von der BÄK vorsichtig angedacht wird. Die Attraktivität würde schon wegen der zu erwerbenden breiten chirurgischen Qualifikation sehr hoch sein. Die Lehrer-Schülerbindung wäre gegeben. Die derzeit dramatischen Abwanderungstendenzen wegen mangelnder beruflicher Perspektiven würden gestoppt. Man könnte spezifischen Forschungsnotwendigkeiten in geeigneter Weise Rechnung tragen. Die Konstruktion wäre auch für reine Forscher interessant , da sie viel weniger als in anderen Einrichtungen dem Streben nach “Impactfaktoren” und “Hirschfaktoren” unterworfen wären und sich den wehrmedizinischen Forschungsgegenständen unbefangener und freier nähern dürften. Die zivil-militärische Zusammenarbeit wäre über die assoziierten Lehrkrankenhäuser leicht zu regeln.

 

Die Gesellschaft wird sich in den nächsten Jahren dramatisch verändern. Damit werden Probleme entstehen und Fragen aufgeworfen. Zielführende, kluge Antworten sind vonnöten. Denkverbote sollte es nicht geben. Möglichst viele Optionen sollten bedacht, die beste Lösung sollte gewählt werden.

Datum: 25.06.2012

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2012/1

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