04.12.2013 •

BERUFLICHES SELBSTVERSTÄNDNIS - ALS SANITÄTSOFFIZIER IM AUSLANDSEINSATZ

Der junge Sanitätsoffizier wird in den ersten Jahren seiner Weiterbildung mit vielen neuen Aufgaben und Herausforderungen konfrontiert. Neben der Bewältigung des klinischen Alltags steht nach einiger Zeit der erste Auslandseinsatz bevor. Die Einplanung erfolgt meist auf dem Dienstposten eines beweglichen Arzttrupps (BAT) und stellt eine gänzlich neue Situation fernab der gewohnten klinischen oder truppenärztlichen Tätigkeit im Heimatland dar.

Im Folgenden werden spezielle Problem- und Spannungsfelder für den Arzt im Auslandseinsatz beleuchtet, um jungen Kollegen und Kolleginnen vor ihrem ersten Einsatz die Möglichkeit zu geben, sich im Vorfeld auf besondere Situationen einstellen zu können.

Vorbereitung auf den Auslands­einsatz
Die Tätigkeit als Sanitätsoffizier im Auslandseinsatz ist geprägt von Entbehrungen und der ständigen Einstellung auf neue Situationen. Der Einsatz beginnt jedoch schon weit vor der eigentlichen Verlegung mit der Vorausbildung im militärischen Bereich.
Teilweise können im Vorfeld nicht alle Lehrgänge wahrgenommen werden, was größtenteils durch die Kurzfristigkeit des Einsatzes, aber auch durch dienstliche Nicht-Abkömmlichkeit bedingt ist. Dies birgt die Gefahr, dass potentiell zwischenmenschliche Probleme im Vorfeld nicht erkannt werden können, eine noch mögliche neue Teamzusammensetzung (Arzt – Rettungsassistent – Fahrer) nicht stattfinden kann und somit unter Umständen die Zusammenarbeit im Ausland schwierig, wenn nicht sogar unmöglich wird.
Insbesondere für Ärzte, die nicht regelmäßig im Rettungsdienst tätig sind und wenig Erfahrung in der präklinischen Versorgung traumatologischer Patienten haben, stellen der Auslandseinsatz und die Tätigkeit als BAT-Arzt eine Herausforderung dar.
Denjenigen ist insbesondere zu empfehlen, Zusatzlehrgänge wie Prehospital Trauma Life Support (PHTLS) oder Advanced Trauma Life Support (ATLS)wahrzunehmen. Die hier vermittelten Handlungsanweisungen und Schemata können durchaus ein gewisses Maß an Sicherheit vermitteln.

Absicherung vor Auslands­einsatz
Ein Thema, das für Unbehagen sorgt und somit verständlicherweise oft nicht oder nicht ausführlich angesprochen wird, obwohl essentiell und notwendig, ist die Absicherung im Falle einer Verwundung oder des Todes. Hierzu zählen ein Testament, eine Vorsorgevollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügungen, ferner Meldungen an Versicherungen und weitere versorgungsrelevante Vorbereitungen.
All diese Themen werden, wenn auch nicht allumfassend, bereits im Rahmen der Vorausbildung angesprochen. Standardvorlagen gibt es zwar, diese entsprechen aber nicht immer den aktuellen gesetzlichen Vorgaben. An dieser Stelle sei auf den Sozialdienst am Standort und das Familienbetreuungszentrum (FBZ) als Ansprechpartner verwiesen.
Das Einbinden der Familie in die Vorbereitungsphase mit Festlegen der Vorgehensweise im Falle einer Verwundung oder des Todes schafft Vertrauen und Zusammenhalt, auch wenn es für den Einzelnen nicht immer einfach ist, diese Themen offen anzusprechen.  

Die erste Patrouille
Bereits nach wenigen Tagen im Auslandseinsatz beginnt der Alltag mit Patrouillen und Absicherungsaufträgen, wenn man als BAT-Arzt eingesetzt ist.
Die erste Patrouille sowie die Vorbereitung auf diese stellen für jeden jungen Sanitätsoffizier Neuland dar. Die Vorbereitungen sind Teamsache und prinzipiell immer von gleichem Ablauf geprägt. Auch der Sanitätsoffizier ist an diesen Vorbereitungen maßgeblich beteiligt. Sei es Fahrzeug- oder Materialcheck, es muss zu jeder Zeit sichergestellt sein, dass sich alles in einem einwandfreien und funktionstüchtigen Zustand befindet.
Häufig sind die Patrouillen keine Tagestouren, bei denen man abends in das Feldlager zurückkehrt. Die sogenannten Long Term Patrols sind gekennzeichnet von Tagen außerhalb des Lagers und Übernachtung im Safe House oder Safe Haven. Hier wird zumeist eine Police Station als Safe House genutzt (Abb.1 und 2). Die Sicherung erfolgt durch Kräfte der Patrouille.

Sanitätspersonal und ­Sicherungsaufgaben
Die Gesamtheit der Patrouille ist aufeinander angewiesen und sichert sich selbst. Bei der zeitweise geringen Anzahl an Fahrzeugen und damit auch personellen Stärke ist es teilweise schwierig, die Eigensicherung vollumfänglich sicherzustellen. Das führt zum nicht immer vermeidbaren Umstand, dass das Sanitätspersonal auch Sicherungsaufgaben wahrnimmt.  
Exemplarisch sei die Sicherung in einem Safe House erwähnt, hierbei wird meist an der Seite eines Infanteristen die Turmwache gestellt.
Alle Kräfte der Patrouille, Infanteristen, Kraftfahrer und insbesondere auch das Sanitätspersonal, sollten möglichst ausreichend Zeit zur Regeneration haben und ihre Ruhezeiten einhalten. Dies führt jedoch zwangsläufig zur Reduzierung des für Sicherungsaufgaben bereitstehenden Personals. Gerade aber der Arzt des BAT und der Rettungsassistent müssen im Falle einer Patientenversorgung hellwach und konzentriert arbeiten.
Der Patrouillenführer wird meist nur in Ausnahmesituationen auf die Möglichkeit der Einbindung der Sanitätskräfte in Sicherungsaufgaben zurückgreifen, dennoch sollte auch jedem Sanitätsoffizier bewusst sein, dass diese Einsatzmöglichkeit besteht und dahingehend eine bestmögliche Vorbereitung angestrebt werden sollte.
Somit ist es verständlich, nachvollziehbar und sinnvoll, dass der Sanitätsoffizier im Rahmen seiner Auslandsvorbereitung auch infanteristisch vorbereitet wird. Auch die infanteristischen Kameraden versuchen zu einem hohen Prozentsatz ihre sanitätsdienstlichen Fähigkeiten im Ausland zu erweitern. Dies insbesondere vor dem möglichen Szenar einer Verwundung, um in dieser Situation adäquat handeln zu können.
Der Handhabung und der Gebrauch von P8, MP7 und G36 zur Verteidigung des eigenen Lebens und zum Schutz von Verwundeten im Rahmen von Kampfhandlungen ist Bestandteil der militärischen Ausbildung. Der ethische Konflikt basierend auf der ärztlichen Tätigkeit einerseits und dem Gebrauch der Schusswaffe anderseits lässt sich durch Betrachtung der Genfer Konvention lösen. Der Arzt setzt die Waffe zu Verteidigungszwecken ein und ist nicht an primär infanteristischen Einsätzen beteiligt.

Schutzzeichen des ­Sanitätspersonals
Schutzzeichen sind Symbole wie das Rote Kreuz oder der Rote Halbmond, die in bewaffneten Konflikten Personen und Objekte kennzeichnen, die unter dem Schutz des humanitären Völkerrechtes stehen. Die vier Genfer Konventionen mit Zusatzprotokollen sind eine essentielle Komponente des humanitären Völkerrechtes. Sie enthalten für den Fall eines bewaffneten oder nicht bewaffneten internationalen Konfliktes Regeln zum Schutz von Personen, die nicht an Kampfhandlungen teilnehmen. Die Einsatzsoldaten in Afghanistan befinden sich in einem nicht  internationalen bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechtes, somit haben auch die Genfer Konventionen Bestand.
Die uns in Afghanistan gegenüberstehenden Kräfte sind jedoch disloziert, man spricht von einem asymmetrischen Bedrohungsszenar. Das Schutzzeichen, hier das Rote Kreuz, wird als besonderer vulnerabler Punkt der Patrouille von asymmetrischen Kräften genutzt, um teilweise gezielt Anschläge auf das Sanitätspersonal zu verüben. Durch Abtarnen des Roten Kreuzes und der Blaulichtanlage ist das BAT-Fahrzeug in der Gesamtheit der Patrouille nur noch schwer als solches zu erkennen (Abb. 3). Die Gefahr von gezielten Angriffen auf Sanitätskräfte kann somit reduziert werden. Eine weitere Möglichkeit des Schutzes bietet die Dislokation des Sanitätspersonals. Damit ist gemeint, dass beispielsweise der Sanitätsoffizier mit einer  medizinischen Basisausrüstung die Patrouille auf einem infanteristischen Fahrzeug aufgesessen begleitet. Der Rest der BAT-Besatzung, also Rettungsassistent und Fahrer, fährt mit dem BAT-Fahrzeug an einer anderen Position innerhalb der Patrouille. Diese Vorgehensweisen erscheinen logisch und abgestimmt auf die derzeitige Bedrohungslage in Afghanistan.  

Versorgung von Zivil­bevölkerung
Ein Problemfeld in der Tätigkeit als Sanitätsoffizier im Auslandseinsatz in Afghanistan stellt die medizinische Versorgung der zivilen Bevölkerung dar.
Der Gesundheitssektor in Afghanistan ist nicht vergleichbar mit den uns bekannten deutschen Standards.
Im Norden Afghanistans liegt die Provinz Samangan mit circa 350 000 Einwohnern auf einer Fläche von 11 300 Quadratkilometern. Das entspricht einer Dichte von 31 Einwohnern pro Quadratkilometer. Das Provincial Hospital der Provinz Samangan in der Hauptstadt Aybak ist eines von nur drei Krankenhäusern der Region und deckt einen Einzugsbereich von 100 km ab. Hierfür stehen jedoch nur insgesamt 60 Betten zur Verfügung. Eine Rettungskette, wie wir sie kennen, existiert nur in Grundzügen in Form von Ambulanzfahrzeugen, ein Notrufsystem ist nicht etabliert. Die Einrichtung und Möglichkeiten eines solchen Hauses sind, gemessen an deutschen Standards, vergleichbar mit einem Haus der Grund- und Regelversorgung (Abb. 4 und 5). Finanziert wird das System durch die afghanische Regierung (Ministry of Health) und es wird durch zivile Gesundheitsorganisationen, wie zum Beispiel die WHO oder das Green Cross, unterstützt.
Die Unterversorgung im medizinischen Sektor wird uns auf Patrouillen immer wieder vor Augen geführt. Insbesondere im Rahmen der Gesprächsaufklärung in kleineren Dörfern und Dorfgemeinschaften ist es keine Seltenheit, dass der Sanitätsoffizier zu medizinischen Fragen und Anliegen hinzugezogen wird. Der Handlungsspielraum unsererseits ist jedoch deutlich eingeschränkt. Zum einen stehen uns auf Patrouille nur limitiert medizinische Ressourcen zur Verfügung und diese sind darüber hinaus für eigene Truppenteile vorgesehen. Auf der anderen Seite wird man häufig mit alten Verletzungen und Folgeerscheinungen sowie abgelaufenen Erkrankungen konfrontiert, beispielsweise abgetrennten Gliedmaßen mit Wundheilungsstörungen oder auch internistisch-neurologischen Erkrankungen. Man versucht zumeist mit den zur Verfügung stehenden Mitteln eine Basisbehandlung, wie zum Beispiel Wundversorgung, durchzuführen. Eine vollumfängliche Versorgung ist in den meisten Fällen jedoch nicht zu realisieren.
Dem darüber hinaus häufig vorgetragenem Anliegen der Bevölkerung, eine Behandlung im Militärkrankenhaus (zum Beispiel in Mazar-e Sharif), kann jedoch in den meisten Fällen nicht nachgekommen werden. Dies ist einerseits durch die eingeschränkten Versorgungskapazitäten der Krankenhäuser und andererseits durch die Absicht der militärischen Führung, ein unabhängiges, sich selbst versorgendes System in Afghanistan aufzubauen, erklärt. Dennoch ist es für den Einzelnen jedes Mal wieder eine schwere Situation, insbesondere auch Kinder nicht versorgen zu können und diese an zivile Behandlungseinrichtungen zu verweisen.
Exemplarisch möchte ich eine dieser Situationen darstellen:
An einem späten Sommerabend wurde ein etwa 11-jähriger afghanischer Junge von seinem Vater aus einem nahegelegenen Dorf in den Bergen an das Main Gate des Lagers einer Forward Operation Base (FOB) gebracht. Der Junge war blutüberströmt und hatte offensichtlich eine Kopfverletzung. Nach kurzer Orientierung am Gate mit kompletter Schutzausrüstung und Sweepen (Absuchen der beteiligten Personen auf Sprengstoff und Waffen durch infanteristische Teile) wurde über den Sprachmittler der Unfallhergang erfragt. Es ließ sich herausfinden, dass der afghanische Junge auf einem Feld seiner Eltern einen Dieb gestellt hatte und dieser dem Jungen mit einen stumpfem Gegenstand eine Kopfverletzung zugefügt hat.
Der kommandierende Offizier der FOB stellte nun die Frage, ob eine Behandlung innerhalb der Liegenschaft notwendig, sinnvoll und möglich wäre. Nach Erstsichtung des Patienten wurde durch den Sanitätsoffizier die Entscheidung zur Versorgung innerhalb der Liegenschaft in einer befestigten Rettungsstation getroffen. Die circa 10 cm messende tiefe Platzwunde wurde unter sterilen Kautelen versorgt und der Patient wurde dem Vater wieder übergeben.
Nachfolgend wurden die Situation in einem Debriefing mit den beteiligten Personen besprochen und Problemfelder, die man in der Lage zunächst nicht vor Augen hatte, diskutiert.
Zum einen war der Patient stabil und es wäre durchaus ein Transport in das circa 40 km entfernte Krankenhaus möglich gewesen. Darüber hinaus wurde nicht berücksichtigt, dass im Fall von Komplikationen womöglich kein Medevac (Medical Evacuation) und keine Kapazität im Militärkrankenhaus zur Verfügung stehen. Ein darüber hinaus nicht zu vernachlässigender Aspekt ist das Verhalten der Zivilbevölkerung. Es wurden folgende Fragen in der Diskussion aufgeworfen: Welche Reaktion auf ISAF-Kräfte wäre bei Ablehnung der Behandlung aber auch bei Versorgung des Patienten zu erwarten? Erwächst hieraus ein größeres Problemfeld, wie zum Beispiel die Ablehnung der ISAF-Kräfte durch die Zivilbevölkerung oder aber auch das zunehmende Hilfesuchen der anliegenden Dörfer? Welche Konsequenzen ergeben sich für die Hilfe suchende Familie im Rahmen der Dorfgemeinschaft? Das Bedrohungsszenar der Situation lässt sich durch die Kenntnis des zunehmenden Einsatzes von Kindern für Anschläge auf Koalitionstruppen und ISAF-Kräfte eskalieren.
Zusammenfassend konnte im Rahmen des Debriefing keine Musterlösung gefunden werden.
Das Vorgehen in derartigen Situationen ist ein Zusammenspiel aus mehreren Faktoren und immer im Konsens durch die beteiligten Personen zu entscheiden.
Dieses Beispiel zeigt die Gratwanderung unserer Tätigkeit zwischen medizinischer Komponente einerseits und taktisch relevanten Eckpfeilern andererseits.
Letztendlich ist es an jedem Sanitätsoffizier selbst, zusammen mit seinem Team und den Teilen der Infanterie eine gangbare Lösung auch für komplexe Szenarien zu finden.

Zusammenfassung
Die Tätigkeit als Sanitätsoffizier insbesondere im ersten Auslandseinsatz ist voller neuer Aufgaben und Herausforderungen und in vielerlei Hinsicht anspruchsvoll. Die Gratwanderung zwischen der Tätigkeit als Arzt und der als Soldat ist ständig allgegenwärtig. Insbesondere als Arzt und Soldat in einer Person ist man manchmal gezwungen, schwierige individuelle Entscheidungen zu treffen.
Ich habe im Rahmen meiner Einsätze viele Situationen erlebt, die mich in meinem Erfahrungsschatz reicher gemacht haben und welche ich nicht mehr missen möchte. Ich habe aber auch lernen müssen, dass Lehrgänge im Vorfeld uns nicht auf alle Situationen vorbereiten können.

Datum: 04.12.2013

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2013/3

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