Versorgung von Fingerkuppenverletzungen mit Semiokklusivverbänden
Aus der Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Handchirurgie (Direktor: Oberstarzt M. Johann) des Bundeswehrkrankenhauses Hamburg (Kommandeur: Generalarzt Dr. J. Hoitz)
Zusammenfassung
Rund ein Drittel aller Arbeitsverletzungen betrifft die Hand. Kaum geringer ist die Beteiligung der Hände bei Freizeitunfällen (Sport, Basteln, Heimwerken) - wenngleich weniger gut dokumentiert als bei der gesetzlichen Unfallversicherung. Bei dem überwiegenden Teil von Handverletzungen handelt es sich um Bagatellverletzungen, die durch einfache Wundversorgung und gelegentlich auch ohne professionelle Therapie zur Ausheilung gelangen. Bei kleinen perforierenden Hautläsionen ist die Gefahr einer Fehleinschätzung jedoch groß, da Verletzungen von Leitungsstrukturen in der Tiefe übersehen werden können. Verletzungen der Fingerkuppen werden aufgrund der Schmerzhaftigkeit und starken Blutung dagegen selten bagatellisiert und gelangen erfahrungsgemäß zeitnah in eine Notfallambulanz. Defektwunden der Kuppe werden plastisch chirurgisch (z. B. VY-Plastik) oder konservativ mit Wundverbänden versorgt. In den letzten Jahren hat sich in zahlreichen handchirurgischen Einrichtungen die konservative Behandlung mit Semiokklusivverbänden als Standardverfahren etabliert. Unkenntnis der Methode und technische Schwierigkeiten bei der Handhabung der Folienverbände stehen der Verbreitung bei Allgemein- und Unfallchirurgen noch entgegen. Die Einführung eines Polymer-Membranverband-Fingerlings vereinfacht die Anwendung erheblich und stellt unserer Meinung nach auch eine gute Therapieoption zur Versorgung von Fingerkuppenverletzungen im Auslandseinsatz dar.
Handverletzungen bei Soldaten
Verletzungen der Hand und des Handgelenkes stellen in der Statistik der Berufsgenossenschaften bis zu 40 % der versorgungspflichtigen Arbeitsunfälle dar (13, 14). Aber auch der Anteil von Handverletzungen bei Unfällen, die nicht durch die gesetzliche Unfallversicherung abgedeckt sind, ist erheblich. Bei einem nicht geringen Teil dieser Verletzungen handelt es sich um Bagatellverletzungen, die in der Regel durch einfache Maßnahmen (Desinfektion, antiseptische Verbände) zur Ausheilung gebracht werden. Die Gefahr der Fehleinschätzung ist bei kleinen umschriebenen Oberflächenverletzungen mit Beteiligung tiefer gelegener Leitungsstrukturen (z. B. Stichverletzungen) groß. Handverletzungen betreffen Soldaten in gleicher Weise wie Nichtsoldaten und in Abhängigkeit von der jeweiligen Verwendung ist von einem ähnlich hohen Anteil wie bei Arbeitsunfällen auszugehen. Im Einsatz ist das Risiko, sich eine Verletzung der Hand zuzuziehen, vermutlich erhöht, da eine 24-stündige Exposition im militärischen Umfeld (Gerät, Zelt, Container, Schiff, Sport) besteht. Handverletzungen durch Waffenwirkung und Explosionen sind spezifische Gefechts- und Einsatzverwundungen. Sie sind im Bereich der Bundeswehr bislang nicht so häufig vorgekommen wie befürchtet, gehen jedoch meist mit einem schweren komplexen Verletzungsmuster einher. Einer verletzungsbedingten Funktionsbeeinträchtigung der Hand kommt bei Soldaten im Einsatz eine besondere Bedeutung zu, da über längere Zeit die manuelle Bedienung von Waffen und Gerät eingeschränkt ist. Auswirkungen auf die Sicherheit der eigenen Person und die Auftragserfüllung sind die Folge. In der Regel müssen Soldaten mit Handverletzungen daher repatriiert werden.Die Bedeutung der Fingerkuppe
Die Hand ist zugleich Manipulator, Kommunikator und Sensor. Sie ist unser wichtigstes Instrument, Ideen in Materie zu formen, sie ist neben unserer Sprache durch Zeichengebung und Gestik ein wesentliches Mittel der Informationsweitergabe und nimmt durch den konzentriert in den Fingerkuppen angesiedelten Tastsinn (Meissner-, Pacini- und Ruffini-Körperchen, Merkel-Zellkomplex, freie Nervenendigungen) die Funktion eines Sinnesorgans wahr. Die außergewöhnlich große Repräsentanz der Hand im Homunculus des Gyrus postcentralis spiegelt die herausgehobene Bedeutung der Hand als Sinnesorgan wider. Der wörtliche und übertragene Gebrauch von Tätigkeitswörtern wie „begreifen“, „ergreifen“, „befassen“ und „erfassen“ verdeutlicht anschaulich, wie wir uns mit der Hand die Welt und ihre Gegenständlichkeit buchstäblich und übertragen aneignen. Eine Verletzung oder Erkrankung der Hand beeinträchtigt das Bewegungs- und Sinnesorgan „Hand“ gleichermaßen. Dies gilt insbesondere für Riss- und Amputationsverletzungen der Fingerkuppen, die beim Greifen und Tasten an vorderster Front stehen. Für die Qualität des Sinnesorgans „Hand“ ist der Erhalt oder die Wiederherstellung einer guten Sensibilität verletzter Fingerkuppen von entscheidender Bedeutung. Die Funktion als Manipulator bei der Bedienung von Gerät und Waffen verlangt vor allem druckbelastbare Kuppen. Beide Forderungen – sowohl die nach Wiederherstellung einer ausreichenden Sensibilität als auch die nach guter mechanischer Belastbarkeit – müssen bei der Versorgung Berücksichtigung finden.Die Entwicklung von Therapiekonzepten bei Fingerkuppenverletzungen
Bereits früh hat man erkannt, dass eine bloße Annaht abgetrennter Kuppenteile („composite graft“) meist zur Nekrose des replantierten Gewebsanteils führt, eine Rücknaht lazerierter Haut oft mit störender Narbenbildung verbunden ist und die Deckung mit autologen Hauttransplantaten bestenfalls nur zu einer Schutzsensibilität führt. Kuppenreplantationen ohne neurovasculäre Anastomose sind allenfalls bei Kleinkindern erfolgreich (4, 8).
1935 beschrieb der Italiener E. Tranquilli-Leali die Deckung eines Kuppendefektes mit einem palmaren neurovasculär gestielten Verschiebelappen, der die Sensibilität der Kuppe wiederherstellte und nach seiner Neubeschreibung durch den Amerikaner E. Atasoy 1970 bis heute als VY-Lappen zum Standardrepertoire der Handchirurgie zählt (2, 16).
H. Geissendörffer variierte die Methode insofern, als er den Kuppendefekt durch laterale Verschiebelappen deckte, die nach der 1947 erschienenen Zweitbeschreibung durch Kutler als Kutlerplastik bekannt ist (5, 6).
1992 berichteten U. Mennen und A. Wiese aus Südafrika über gute Ergebnisse einer Versorgung von Fingerkuppenverletzungen mit Folienverbänden (7). Das auch bei anderen Wundlokalisationen bekannte Prinzip der Wundheilung unter Semiokklusionsverbänden bewirkte bei der Anwendung an der Fingerkuppe eine erstaunlich gute narbenfreie Wiederherstellung der Kuppenform unter Erhalt einer nur leicht geminderten Sensibilität. Die guten Ergebnisse konnten zwischenzeitlich durch zahlreiche Untersucher reproduziert werden (9, 11, 12), sodass im handchirurgischen Schrifttum die Folienbehandlung bei Fingerkuppendefekten und distalen Endgliedamputationen als den plastisch chirurgischen Maßnahmen vergleichbare oder zu bevorzugende Behandlungsmethode dargestellt wird (3, 10). Richter hat bei seinem Vergleich von konservativer (Folienbehandlung) und operativer (Verschiebelappen, Insellappen) Therapie der Kuppenverletzungen anhand der Allen-Klassifikation (1) und des Amputationsverlaufes (extrem schräge palmare Amputation) gute und weniger gute Indikationen für die Folienbehandlung aufgezeigt. Für eine Folienbehandlung kommen demnach Verletzungen vom Typ I – III nach Allen mit Ausnahme der extrem schrägen palmaren Verletzungen in Frage.Aus letzter Zeit liegen Veröffentlichungen vor, die auch bei distalen Endgliedamputationen, die über eine bloße Kuppenabtrennung hinausgehen (Stadium Allen III und IV), von einer erfolgreichen Behandlung mit Folienverbänden berichten (10).
Eigene Erfahrungen mit der Folienbehandlung
Auch in unserer Abteilung wird seit einigen Jahren die Folienbehandlung bei Fingerkuppenverletzungen durchgeführt. Dabei konnten wir Defektwunden bis zum Verlust des distalen Nagelkranzes und der distalen Nagelplattenhälfte zur Abheilung bringen.Primär erfolgt immer eine gründliche Wundsäuberung mit Entfernung von Fremdkörpern, Verschmutzung und nekrotischem Gewebe sowie gegebenenfalls Kürzen vorstehender Knochenspitzen.
Anschließend legen wir zirkulär um das Fingerendglied eine sterile Klebefolie an, wie sie zum Beispiel konfektioniert zum Abkleben von zentralen Venenkathetern verbreitet ist. Über die Folie wird ein leicht komprimierender Fingerverband gewickelt, der sowohl ein Lösen der Folie als auch mögliche Nachblutungen verhindern soll.
Dennoch ist bei frischen Verletzungen meist ein Verbandwechsel am Folgetag notwendig, da sich unter der Folie Blut angesammelt hat. Nach Wechsel des Folienverbandes werden die weiteren Verbandwechsel in wöchentlichen Abständen durchgeführt, wobei die Wunde nur vorsichtig abgetupft wird, der proteinreiche Sekretfilm aber unbedingt belassen werden muss.
Im Lauf der 4 - 6-wöchigen Behandlung kommt es zu einer fortschreitenden Nivellierung der Wundoberfläche und Epithelisierung mit Ausformung einer wiederhergestellten Fingerkuppe. Als Problem ergibt sich gelegentlich eine fehlende Akzeptanz vonseiten der Patienten und eine inkonsequente Fortführung der Behandlung durch den weiterversorgenden Arzt. Die Haut des verletzten Fingers unter der Folie mazeriert.Die Patienten klagen über den unangenehmen Geruch in den Tagen vor dem nächsten Verbandwechsel und die weiterbehandelnden Ärzte gehen bei Unkenntnis der Behandlungsmethode aufgrund des übelriechenden schmierigen Belages fälschlicherweise von einem Infekt aus und machen durch das dann folgende radikale Debridement jeden Heilungserfolg zunichte. Für den Erfolg der Methode ist die konsequente Fortführung der Therapie Voraussetzung – am besten durch die Einrichtung, in der die Behandlung begonnen wurde. Wir bestellen Soldaten, die mit einem Folienverband versorgt wurden, regelmäßig wieder ein, auch wenn zum Teil längere Wegstrecken in Kauf genommen werden müssen. Bei zivilen Kassenpatienten, die sich mit entsprechenden Verletzungen in unserer Notaufnahme vorstellen, ist uns als Krankenhaus eine ambulante Weiterbehandlung rechtlich nicht möglich, sodass wir auf unsere Informationsweitergabe durch Patienteninstruktion und Arztbrief vertrauen müssen.
Polymerverband-Fingerling
2013 berichteten B. Schacher, R. Böttcher und A. Eisenschenk vom BG-Unfallklinikum Berlin über erste positive Erfahrungen mit einem als Fingerling in verschiedenen Größen konfektionierten Polymerverband (PolyMem®, mediset clinical products GmbH), der das Prinzip des Semiokklusivverbandes aufnimmt, in der Handhabung für Patient und Anwender jedoch komfortabler ist (15). Aufgrund der positiven Erfahrungen am BG-Unfallklinikum Berlin haben wir am Bundeswehrkrankenhaus Hamburg Anfang 2017 zunächst drei Patienten mit Fingerkuppenverletzungen ebenfalls mit Polymerverband-Fingerlingen versorgt. Wir konnten uns von der einfachen Handhabung des Fingerlings im Vergleich zur nicht immer auf Anhieb leicht zu handhabenden Klebefolie sowie von der besseren Akzeptanz durch die Patienten überzeugen. Uns fiel auf, dass die Geruchsbelästigung – wenn auch schwierig zu messen – subjektiv deutlich geringer war, was für die bessere Akzeptanz durch die Patienten ausschlaggebend sein könnte. Inzwischen haben wir den Polymer-Fingerling fest in unserer Notfallaufnahme eingeführt, wo er vom diensthabenden Chirurgen bei entsprechenden Verletzungen angelegt wird. Wir überblicken etwa 20 Patienten mit Fingerkuppenverletzungen von der Einsägeverletzung bis zur hälftigen Endgliedamputation (Allen III), die erfolgreich mit dem Fingerling behandelt werden konnten. Durch die auch für den Assistenten leicht erlernbare Anwendung, dem im Vergleich zur plastisch-operativen Versorgung geringeren Zeitaufwand und die durch die Art des Verbandes geringere Funktionseinschränkung der verletzten Hand bietet sich der Polymerverband-Fingerling unseres Erachtens gerade auch unter Einsatzbedingungen für die primäre temporäre und definitive Versorgung von Fingerkuppenverletzungen an. Allerdings darf sowohl die Folienbehandlung als auch die Abwandlung in Form des Polymerverbandes nicht kritiklos als die immer erfolgreiche Universallösung zur Behandlung aller Fingerkuppenverletzungen betrachtet werden. Im Verlauf können Komplikationen auftreten, die meist auf ein unzureichendes Wunddebridement bei der Primärversorgung zurückzuführen sind oder auf einer sehr tangentialen Kuppenamputation beruhen. In der Regel bildet sich in diesen Fällen Granulationsgewebe von hochroter Farbe, das dem Bild des Granuloma pyogenicum entspricht. Hervorstechendes Merkmal dieser Granulome ist eine charakteristische Berührungsschmerzhaftigkeit, die sie von der erstaunlich schmerzarmen Geweberegeneration bei der Folienbehandlung unterscheidet. Eine Spätkomplikation höhergradiger Endgliedamputationen (Allen III und IV) stellen auch bei sonst erfolgreicher Folienbehandlung nachwachsende Nagelanteile dar, die aufgrund erhaltener Matrixreste im Bereich der proximalen Nageltasche zu unangenehmen hornartigen Auswüchsen führen. Sie müssen entweder regelmäßig gekürzt werden oder machen eine sekundäre Matrixausrottung erforderlich. Für die Belange der Einsatzmedizin bleibt festzuhalten, dass die aufgezeigten Komplikationen einer Versorgung mit Semiokklusivverbänden erst im Verlauf der Behandlung auftreten und letztlich eine spätere definitive chirurgische Maßnahme ja keineswegs ausschließen. Insbesondere im Fall der Anwendung des PolyMem®-Fingerlings kann unmittelbar nach der Versorgung eine Teilfunktion der betroffenen Hand aufrechterhalten werden, sodass sich der Ab- und Weitertransport des verwundeten/verletzten Soldaten in jeder Hinsicht einfacher gestaltet. Wir empfehlen daher, die Behandlung von Fingerkuppenverletzungen/Amputationen mit Semiokklusivverbänden als Standardverfahren zu übernehmen und eine entsprechende Ausstattung mit PolyMem®-Fingerlingen verschiedener Größen in Erwägung zu ziehen.Zusammenfassende Bewertung
Das Behandlungsziel der Versorgung einer Fingerkuppenverletzung besteht in der Wiederherstellung einer sensiblen und mechanisch belastbaren Kuppe zum Erhalt einer guten Gesamtfunktion der betroffenen Hand. Hier bietet sich die konservative Therapie mit Semiokklusivverbänden an, da nach Wiederherstellung der Kuppe keine die Sensibilität störenden Narben verbleiben. Die Anwendung des Polymerverband-Fingerlings stellt eine Vereinfachung der Methode dar, die eine Anwendung auch in einer Role-2-Einrichtung (einschließlich Schiffslazarett) ermöglicht. Die Behandlung erlaubt einen späteren Verfahrenswechsel und eignet sich daher sowohl zur (definitiven) Ausbehandlung als auch zur (temporären) Primärversorgung.Verfasser:
Flottillenarzt Dr. Hartwig Quirll
Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Handchirurgie
Bundeswehrkrankenhaus Hamburg
Lesserstraße 180, 22049 Hambur
E-mail: hartwig.quirll@web.de
Der Autor erklärt, dass mit der Abfassung des Artikels keine persönlichen wirtschaftlichen Interessen verbunden sind.
Alle Abbildungen: Autor
Literatur beim Verfasser
Datum: 13.11.2018
Wehrmedizin und Wehrpharmazie 3/2018