RISIKOMINIMIERUNG DURCH EINSATZ VON KNOCHENZEMENT MIT ANTIBIOTIKAZUSATZ
Knochenzemente auf Basis von Polymethylmethacrylat (PMMA) sind in der modernen Chirurgie unverzichtbarere Bestandteile zur Verankerung von künstlichen Gelenken und werden seit mehr als 50 Jahren erfolgreich mit sehr guten Langzeitergebnissen in der Endprothetik eingesetzt.
Chemisch betrachtet sind PMMA-Zemente wie der Knochenzement Palacos® kaltpolymerisierende Kunststoffe, die in Form von Zweikomponentensystemen verwendet werden. Die ausgehärteten Knochenzemente haben neben der mechanischen Fixierung der künstlichen Gelenke weitere Funktionen am Implantationsort (Abb. 1). Die Materialeigenschaften können je nach Zusammensetzung der Zemente variieren und beeinflussen dadurch die für den Anwender wichtigen Verarbeitungseigenschaften beim Anmischen der Zementkomponenten.
PMMA-Knochenzemente sind chemisch nichts anderes als Plexiglas® aber durch die Zumischung verschiedener Additive an den medizinischen Einsatz ideal angepasst. Die Hauptaufgabe des PMMA-Zements ist es, die vom Implantat einwirkenden Kräfte direkt auf den Knochen zu übertragen. Die Fähigkeit, diese kraftübertragende Funktion langfristig zu erfüllen, entscheidet letztlich über die feste Verankerung einer Prothese und somit die Langzeitstabilität des Implantats. Entscheidend ist dabei die adäquate Verzahnung zwischen Zement und Knochen (1,3) und die Aussteifung der spongiösen Kompartimente (2). Auf die menschliche Hüfte wirkt das 10 - 12-fache des Körpergewichtes. Der Knochenzement übernimmt hier eine dämpfende Funktion zwischen der harten Prothese und dem relativ elastischen Knochen. Der Zement schützt Knochen und Implantat gleichermaßen und wirkt sich somit positiv auf die Standzeiten aus (3). Mit einer zementierten Prothese ist der Patient nur wenige Tage nach der OP fast vollständig mobilisierbar. Risiken von Immobilität - gerade bei älteren Patienten - werden dadurch vermieden und kürzere stationäre Aufenthaltszeiten sind die Folge. Belegt durch europäische Prothesen-Register (Abb. 2, 3) weisen zementierte Prothesen im Vergleich zu unzementierten längere Standzeiten auf (4, 5).
Wie jeder chirurgische Eingriff birgt auch ein Gelenkersatz gewisse Risiken für den Patienten. Allen voran Infektionen, die schwerwiegende Komplikationen mit sich bringen können. Implantat-assoziierte Infektionen sind immer mit ernstzunehmenden Konsequenzen verbunden. Sie verursachen starke Beschwerden, beschränken den Patienten in seiner Mobilität und können im Extremfall bis zum Verlust der Gliedmaßen führen. Im Allgemeinen erfordern sie einen weiteren kostenintensiven chirurgischen Eingriff und den Austausch der Prothese (Revision). Klinische Beobachtungen belegen, dass der Zementtyp der entscheidende Parameter für die Standzeit einer Prothese ist (6). Das Schwedische Hüftregister dokumentiert von 1979 an bis heute über 250 000 Fälle implantierter Hüft- Endoprothesen. Verglichen mit anderen Zementen treten bei Prothesen, die mit Palacos® zementiert wurden, nach 10 Jahren nur halb so viele Revisionsfälle auf (7).
Nach Mischen der pulverförmigen Zementkomponente mit dem flüssigen Monomer bildet sich durch Quellungs- und Lösungsvorgänge eine teigartige Masse. Die Zähigkeit (Viskosität) nimmt nachfolgend durch die einsetzende radikalische Polymerisation zu, bis der Zement vollständig ausgehärtet ist. Die Verarbeitungs- und Applikationsphase ist dabei für den Chirurg die Phase, in der er den Zement in den Knochen einbringen kann. In dieser Phase ist der Zement bei nicht zu hoher Viskosität weitestgehend klebefrei (8). Eine Verwendung von Zement-Anmischsystemen, wie z.B Palamix®, geht stets mit einer Änderung der Verarbeitungsphasen der Zemente einher, u.a. weil der Anwender dabei nicht die Klebefreiheit des Materials abwarten muss. Dennoch muss sichergestellt sein, dass die Viskosität in der frühen Phase der Applikation nicht zu niedrig ist, weil der eingebrachte Zement dann dem Blutungsdruck im Femur nicht mehr standhalten (9) und es zu Bluteinschlüssen im Zement kommen kann, die als deutliche Schwachstellen mit erhöhten Bruchrisiko angesehen werden müssen (1, 2,10).
Bei operativen Eingriffen wird routinemässig systemisch ein Antibiotikum (AB) verabreicht, das üblicherweise kurz vor der Narkoseeinleitung verabreicht wird. Diese AB-Gabe dient nicht der Therapie, sondern der Prophylaxe. Sie soll hämatogen streuende Keime eliminieren. Erfahrungsgemäß reichen solche systemischen AB-Gaben aber nicht aus, um lokal im Knochen und im Interface einen ausreichenden Wirkspiegel aufzubauen. Beste Langzeitergebnisse ohne Infekte konnten daher in der Endoprothetik erzielt werden, wenn neben der systemischen AB-Gabe auch noch lokal Antibiotika verabreicht wurden (11).
Implantate stellen besonders gegenüber Infektionen gefährdete Fremdkörper dar. Ursache dafür ist die hohe Affinität von Keimen gegenüber Fremdköperoberflächen, wodurch die Implantatoberflächen rasch besiedelt werden können. Insbesondere intraoperativ ist das Risiko hoch, dass Keime wie Staphylococcus aureus bzw. Staphylococcus epidermidis über die offene Wunde eindringen und sich auf einer Implantatoberfläche ansiedeln. Mehr als 85 % aller Implantat-assoziierten Infektionen werden während bzw. unmittelbar nach der OP gesetzt (12). Gleichzeitig können solche Oberflächen auch durch haematogen streuende Keime kolonisiert werden.
Metastudien in den USA zeigten eine nachhaltige Senkung des Infektionsrisikos von Implantaten bei der Verwendung von Antibiotika zur Prophylaxe am Beispiel von antibiotikahaltigen Knochenzementen (13).
Durch den Einsatz von Zementen mit Antibiotikazusatz wie z. B. Palacos® R+G lassen sich Infektionen im Implantationsgebiet effektiv vorbeugen und das Risiko septischer Lockerungen von Prothesen nachweislich senken (14). Die Freisetzung des Antibiotikums erfolgt lokal, dadurch werden vor Ort höhere Konzentrationen erreicht als nach systemischer Gabe. Der effektive Schutz der Prothese wird durch eine anfangs sehr hohe Freisetzungsrate, gefolgt von einem konstanten Wirkstoffspiegel gewährleistet (15). Die industrielle Beimischung des Antibiotikums ermöglicht eine homogene Verteilung und reproduzierbare Freisetzung des Wirkstoffes über die gesamte Oberfläche des Zements. Durch die lokale Freisetzung des Antibiotikums aus dem Knochenzement wird die systemische Belastung reduziert. Dies verbessert die Patientensicherheit und vermindert unerwünschte Nebenwirkungen.
Die am Implantationsort freigesetzte Menge der aktiven Substanzen ist bei der Wahl des Antibiotikums ein signifikanter Faktor. Diese muss deutlich über der minimalen Hemmkonzentration für das Bakterienwachstum (MIC) und über der minimalen Letalkonzentration, der minimalen bakteriziden Konzentration (MBC), für die jeweils vorkommenden Erreger liegen. Die minimale Hemmkonzentration kann bei Bakterien im Biofilm um bis zu 1 000-fach höher sein als im aktiven Zustand. Daher gilt es, eine solche Biofilmbildung zunächst zu verhindern. Die Wahl des in der Endoprothetik eingesetzten Antibiotikums hängt entscheidend von der Fähigkeit ab, alle auftretenden Erreger abzutöten. Aus diesem Grund sind gerade in der Prophylaxe neben einem breiten Wirkspektrum des ausgewählten Antibiotikums auch die bakteriziden Eigenschaften wichtig. Zudem ist die Fähigkeit des Wirkstoffes, lokal in die Gewebe und hier insbesondere in Knochengewebe einzudringen, relevant. Die Eignung eines Antibiotikums für seine Zumischung in das PMMA-Pulver von Knochenzementen ist von verschiedenen bakteriologischen, physikalisch und chemischen Voraussetzungen abhängig (17):
Das Aminoglykosid-AB Gentamicin findet bisher eine breite Anwendung bei Knochenzementen zur lokalen Infektionsprophylaxe. Es bietet hier zwei entscheidende Vorteile: Zum einen zeigt es gegenüber anderen Antibiotika das beste Freisetzungsvermögen aus Knochenzementen und insbesondere aus Palacos® R (16). Zum anderen verfügt Gentamicin über ein breites Wirkspektrum (Abb. 5) und ist somit gegenüber > 73 % der klinisch relevanten Keime bakterizid (18). Gentamicin ist daher das Antibiotikum der Wahl für antibiotikahaltige Zemente für die Primärendoprothetik, wie z. B. Palacos® R+G.
Die Freisetzung des Antibiotikums aus PMMAKnochenzement folgt den Gesetzen der Diffusion. Dabei verhält sich die Wirkstofffreisetzung einerseits direkt proportional zur zeitlichen Wasseraufnahmefähigkeit des PMMA und andererseits zur vorhandenen Oberfläche. Die am Markt befindlichen antibiotikahaltigen Knochenzemente sind nicht aus reinem PMMA und zeigen sehr unterschiedliche Freisetzungsraten. Ursache sind die unterschiedlichen Wirkstoffqualitäten sowie die Hydrophilie der verschiedenen Polymerkomponenten. Freisetzungsuntersuchungen an Zementen zeigen eine zunächst vergleichsweise hohe Freisetzung des Wirkstoffs, die dann innerhalb von wenigen Tagen deutlich abnimmt (Abb. 4).
Im Fall von aspetischen und septischen Lockerungen von primär implantierten Gelenkendoprothesen müssen diese im Rahmen von einzeitigen oder zweizeitigen Revisionen gegebenfalls explantiert werden. Bei septischen Revisionen reicht die Verwendung von Gentamicin im PMMA Knochenzement alleine als Schutz vor mikrobieller Ansiedlung in vielen Fällen nicht aus. Umfangreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass die Kombination von Gentamicin und dem Lincosamid-AB Clindamycin das Wirkspektrum ideal erweitert. Clindamycin ergänzt das Wirkspektrum zum Gentamicin um Anaerobier und Streptokokken (Abb. 5). Gentamicin wirkt immer bakterizid, Clindamycin dagegen konzentrationsabhängig bakteriostatisch oder bakterizid.
Clindamycin fördert eine optimale lokale und lang anhaltende Freisetzung beider Wirkstoffe. Damit sind weitere klinisch relevante Vorteile verbunden (20 – 22). Der lokale Einsatz von Gentamicin und Clindamyin ist indiziert bei der Revision nach septischen Prothesenlockerungen, die durch gentamicin- und/oder clindamycinsensible Erreger verursacht werden. Darüber hinaus kann diese Kombination - wie im Revisionszement Copal® G+C enthalten - bei Risikopatienten auch für die Revision nach aseptischen Prothesenlockerungen und bei Primärimplantation eingesetzt werden.
Im Bereich der Zementoberfläche liegt der Wirkstoffspiegel der freigesetzten Antibiotika über mindestens 10 Tage oberhalb der minimalen Hemm-Konzentration (MHK) und der minimalen bakteriziden Konzentration (MBK). Dies ist zurückzuführen auf den synergetischen Effekt von Gentamicin und Clindamycin in Hinblick auf die gegenseitig begünstigende Freisetzungskinetik (Abb. 6).
Eine Reduktion der für lokale Wirkspiegel erforderlichen hohen systemischen Antibiotika- Dosierung wird ermöglicht. Dadurch lassen sich Nebenwirkungen und die systemische Belastung des Patienten reduzieren (niedrige Antibiotika- Konzentrationen in Serum und Urin). Die industrielle Herstellung ermöglicht reproduzierbare und standardisierte Ergebnisse – nicht nur der mechanischen Eigenschaften. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass Copal® G+C das Bakterienwachstum effektiver und länger hemmt und die Bildung von Biofilmen noch stärker vermindert als dies bereits bei Palacos® R+G der Fall ist (24). Studien belegen weiterhin den Nutzen für Patienten: Bei 24 Patienten, deren infiziertes Implantat einzeitig revidiert wurde, ließen sich anhaltend hohe lokale Gentamicin- und Clindamycin-Konzentrationen im Wundsekret nachweisen (21). Nach einem Jahr hatte sich der Zustand aller Patienten klinisch verbessert, Entzündungszeichen oder Nebenwirkungen waren nicht nachweisbar.
Industriell gefertigte und mit Antibiotika versetzte Knochenzemente haben für den Einsatz in der Endoprothetik und in der Infektionsprophylaxe einen Vorteil gegenüber manuell mit Antibiotika versetzten Knochenzementen. Die manuelle Zugabe von Antibiotika zum Ze ment - pulver verändert signifikant die Zementeigenschaften wie z. B. die mechanische Stabilität der ausgehärteten Zementmatrix. Inhomogene Zumischungen können daher die Langzeitstabilität des Implantats drastisch verschlechtern. Auch über die Freisetzungsraten können wegen der veränderten Freisetzungseigenschaften nur schwer Aussagen getroffen werden.
Chirurgen und Patienten werden durch den demografischen Wandel immer häufiger mit der Problematik von Implantat-assoziierten Infektionen konfrontiert. Aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes gehen davon aus, dass bis zu 70 % unserer Bevölkerung im Jahre 2020 einmal im Leben mit einem Implantat versorgt werden, eine ernstzunehmende Entwicklung, da trotz höchster Hygienestandards und systemischer Antibiotikagabe die implantat- assoziierten Infekte dramatisch zunehmen. Literatur beim Verfasser.
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Datum: 01.10.2012
Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2012/3