29.12.2017 •

    Gibt es einen Schwefel-Lost-Chemosensor?

    Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr, München

    Einleitung

    Im Jahre 1822 synthetisierte César-Mansuète Despretz erstmalig Schwefel-Lost (S-Lost). Fast 100 Jahre später erfolgte 1917 der erste Einsatz als chemischer Kampfstoff im Ersten Weltkrieg. Trotz allgemeiner Ächtung chemischer Kampfstoffe im Rahmen der Genfer Konventionen bleibt auch weitere 100 Jahre später die Gefahr akut, da terroristische Vereinigungen Zugriff auf den Kampfstoff besitzen und ihn bereits eingesetzt haben. Im Rahmen des laufenden Krieges in Syrien konnte die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) einen Einsatz von S-Lost nachweisen. So wurde der Kampfstoff zum Beispiel in Aleppo und Cobane verwendet [1].

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    Abb. 1: LC50-Kurve von HEK293-A1- bzw. HEK-WT-Zellen nach CEES-Exposition: HEK-A1-Zellen zeigen sich anfälliger gegenüber CEES.
    Nach einer S-Lost-Exposition kann sich das pathologische Erscheinungsbild sehr unterschiedlich darstellen. In aller Regel erfolgt eine symptomfreie Latenzzeit bis zu 24 Stunden, abhängig von der Expositionsdosis. Im weiteren Verlauf werden beginnende Rötungen beobachtet, welche letztendlich in einer starken Vesikulation resultieren. Der Langzeitverlauf dieser Blasenbildung ist durch eine stark eingeschränkte Wundheilung charakterisiert. Der Kontakt mit S-Lost kann auch zum Tod führen. So ist im Falle einer Aspiration des Kampfstoffes oftmals mit Obstruktionen der Trachea, aber auch einer Pseudomembranbildung im Aleveolarbereich zu rechnen.

    Betrachtet man den klinischen Goldstandard der S-Lost-Therapie, so gab es innerhalb des letzten Jahrhunderts nur marginale Fortschritte. Es werden die Symptome behandelt, nicht aber die Ursachen. Nach wie vor besteht in diesem Bereich eine wehrmedizinische Fähigkeitslücke auf der Suche nach einem direkten Antidot.

    Bemerkenswerterweise besitzen chemische Kampfstoffe charakteristische Gerüche. Im Falle von S-Lost wird der Geruch als senf- oder knoblauchartig beschrieben. Die olfaktorische Wahrnehmung von Gerüchen wird durch spezielle Chemosensoren vermittelt. Eine Gruppe solcher Chemosensoren stellt die Familie der „transient receptor potential“-Ionenkanäle dar. Insbesondere der „transient receptor potential ion channel A1“ (TRPA1) konnte als entscheidend bei der Detektion von hochreaktiven
    und giftigen Substanzen, einschließlich Reizstoffen, wie z. B. -Allylisothiozyanat (AITC) oder Senföl, ausgemacht werden [3].

    Dies führte uns letztlich zur Hypothese, dass es einen Chemosensor für S-Lost gibt, und ferner, dass alkylierende Verbindungen, wie zum Beispiel S-Lost, in der Lage sind, TRPA1 zu aktivieren. Im Einklang zu dieser These wird TRPA1 bereits eine wichtige Rolle bei der Schmerzempfindung sowie Histamin unabhängigem Juckreiz zugesprochen – beides Symptome, welche auch nach einer S-Lost-Exposition beobachtet werden können. Eine Entschlüsselung des Pathomechanismus von S-Lost sollte eine zielgerichtete Therapie ermöglichen, weshalb im Rahmen dieser Forschungsarbeit auch entsprechende TRPA1---Antagonisten auf ihre protektive Kapazität nach S-Lost---Exposition untersucht wurden.

    Methoden

    Nach der Etablierung eines in vitro-HEK293-Zellkulturmodells, welches TRPA1 überexprimiert, konnte gezielt der Einfluss von S-Lost oder dessen Analogon CEES (2-chlorethyl sulfid) auf den Ionenkanal analysiert werden. Folgende Endpunkte wurden untersucht:

    • Die direkte Aktivierung von TRPA1 wurde an Hand der Änderung des intrazellulären Calciums mittels Aequorinassay in Echtzeit gemessen. Als Stimuli dienten der spezifische TRPA1-Aktivator AITC (Allylisothiocanat) sowie S-Lost oder auch CEES.
    • Anschließend wurde die Zytotoxizität mittels Cell Prolifera-tion Assay (XTT) nach S-Lost-Exposition untersucht. Die Inkubationsdauer wurde auf Grund der bekannten Latenzzeit von S-Lost auf mindestens 24 Stunden festgelegt.
    • Der Effekt von Kanalantagonisten, wie z. B. AP18 sowie den ROS-Scavengern Natrium-Acetylcystein (NAC) und Gluthation (GSH), wurde anschließend in den oben genannten Assays überprüft.
    • Abschließend wurden biologische Effekte, wie z. B. die Aktivierung von Signalkaskaden nach S-Lost-Exposition untersucht. Hierfür fanden SDS-PAGE, als auch Western Blots, Reporter Asssays, ELISAs sowie Proteinarrays und die Bioplexmethode Anwendung.

    Ergebnisse

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    Abb. 2: Calciumeinstrom in HEK293-A1-Zellen. Der Einsatz von unterschiedlichen Konzentrationen NAC inhibiert den Calciumeinstrom.
    Unsere Ergebnisse zeigen eine TPRA1-Aktivierung durch S-Lost bzw. CEES. Diese ist dosisabhängig und lässt sich mittels TRPA1-Antagonisten (AP18) inhibieren. Der gemessene Calciumeinstrom erreicht schnell sein Maximum und fällt in Folge dessen langsam wieder auf den Basalwert ab. Dieses Verhalten ist spezifisch für transiente Ionenkanal-Signale. Für S-Lost konnte eine LC50 in Höhe von 575 µM S-Lost ermittelt werden, im Falle von CEES wurde eine LC50 von 7392 µM CEES bestimmt.

    Im Falle des Antagonisten AP18 wurde ebenfalls eine dosisabhängige Inhibition beobachtet. Hierbei beträgt die IC50 von AP18 1,22 µM im Falle einer S-Lost-Exposition, und 0,62 µM AP18 bei nachfolgender CEES-Exposition. Ferner wurde für die Inhibition von TRPA1 mittels AP18 ein protektiver Effekt und eine erhöhte Zellviabilität im Vergleich zur Kontrolle nach CEES-Exposition beobachtet. Hierbei konnte die Resistenz der Zellen gegenüber CEES um bis zu 70 % gesteigert werden [4].

    Für NAC konnte ein antagonistisches Potenzial für den TRPA1-Ionenkanal beschrieben werden. Diese inhibitorische Wirkung ist bereits bei 100 µM NAC zu beobachten und erreicht ihr Maximum bei 1 mM NAC [5]. GSH hingegen zeigt kein antagonistisches Potenzial am TRPA1-Ionen-kanal [5].

    Auf Proteinebene konnte der Einfluss von S-Lost auf diverse Mitglieder des proliferativen Signalweges der MAPK (mitogen-activated protein kinase) gezeigt werden. Bereits 5 Minuten nach einer S-Lost-Exposition von HEK293-A1-Zellen konnte eine ERK1/2 (extracellular signal-related kinase 1/2)--Phosphorylierung beobachtet werden, welche wiederum durch Inhibition des TRPA1-Kanals verhindert werden konnte. In Korrelation hierzu wurde auch für das Serum-Response-Element, welches in der gleichen Signalkaskade wie ERK1/2 zu finden ist, eine erhöhte Kerntranslokation gemessen.

    Diskussion

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    Abb. 3: Postulierte Mechanismen der TRPA1-Aktivierung nach Kontakt mit S-Lost. (modifiziert nach [4])
    Unsere Ergebnisse belegen eine direkte Aktivierung des TRPA1-Ionenkanals durch S-Lost, welche für eine spezifische Wahrnehmung von S-Lost sprechen könnte. Als Resultat dieser Kanalaktivierung werden „Second Messenger“-Kaskaden aktiviert, welche wiederum im Falle einer Überaktivierung auch pathologische Folgen haben können. Speziell der TRPA1-Ionenkanal steht nach aktuellen Forschungsergebnissen in Verbindung mit histaminunabhängigem Juckreiz oder Schmerz. Diese toxi-schen Effekte stehen im Einklang mit den für S-Lost beschriebenen Symptomen. Ferner wurde nach einer Aktivierung von TRPA1 mittels AITC eine erhöhte Phosphorylierung von ERK1/2 beschrieben. Unsere Zellkulturmodelle zeigen korrelierend eine TRPA1-abhängige Phosphorylierung der MAPK nach S-Lost-Exposition. Allerdings können aus der gefundenen TRPA1-Aktivierung nicht alle toxischen Ereignisse hergeleitet werden. So wurde lange Zeit eine DNA-Adduktbildung als primärer toxischer Mechanismus angesehen. Selbige ist auf eine starke Nukleophilität der bei der Hydrolyse entstehenden Spaltprodukte zurückzuführen. Die große Reaktivität von S-Lost schließt auch nicht aus, dass weitere Rezeptoren durch S-Lost aktiviert werden und so zur Gesamttoxizität beitragen.

    Ausblick

    In zukünftigen Versuchen sollen weitere Kanalinhibitoren auf ihr protektives Potential nach einer S-Lost-Exposition untersucht werden. Bereits geplante Forschungsvorhaben sind dahin gerichtet, sowohl ex vivo als auch in vivo zu überprüfen, ob die in der Zellkultur erzielten Ergebnisse auch auf den lebenden Organismus übertragen werden können. Ziel unserer S-Lost--Forschung ist eine auf die Ursachen gerichtete Therapie, welche wiederum nur dann stattfinden kann, wenn der zugrundeliegende Pathomechanismus komplett entschlüsselt wird.

    Literatur

    1. Deutsch A: Exclusive: Samples confirm Islamic State used mustard gas in Iraq – diplomat. Reuters. 2016; http://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-chemicalweapons-idUSKCN0VO1IC
    2. Steinritz D, Striepling E, Rudolf KD et al.: Medical documentation, bioanalytical evidence of an accidental human exposure to sulfur mustard and general therapy recommendations. Toxicology Letters 2016; 244: 112 - 120.
    3. Macpherson LJ, Dubin AE, Evans MJ, Marr F, Schultz PG, Cravatt BF, Patapoutian A: Noxious compounds activate TRPA1 ion channels through covalent modification of cysteines. Nature 2007; 445 (7127): 541 - 545.
    4. Stenger B, Zehfuss F, Mückter H et al.: Activation of the chemosensing transient receptor potential channel A1 (TRPA1) by alkylating agents. Archives of Toxicology 2015; 89(9): 1631 - 1643. 
    5. Stenger B, Popp T, John H et al.: N-Acetyl-L-cysteine inhibits sulfur mustard-induced and TRPA1-dependent calcium influx. Archives of Toxicology 2017; 91(5): 2179 - 2189.


    Hauptmann Bernhard Stenger

    E-Mail: bernhardstenger@bundeswehr.org

    Der Vortrag wurde mit dem 2. Preis ausgezeichnet.

    Datum: 29.12.2017

    Quelle: Bernhard Stenger, Tanja Popp, Annette Schmidt, Thomas -Gudermann, Horst Thiermann, Dirk Steinritz

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