10.10.2010 •

GROßER RESPEKT

Erinnerungen von Frau Generalarzt Dr. Erika Franke

20 Jahre Deutsche Einheit - 20 Jahre Armee der Einheit. Dass es schon eines so runden Jubiläums bedarf und dass ich aufgrund meiner Biografie gebeten werde, einen Beitrag zu diesem Thema zu schreiben, sagt viel über den Zustand der Einheit aus: Sie ist zur Normalität geworden - und das ist auch gut so. Seit ebenfalls 20 Jahren diene ich nun als Sanitätsoffizier in unserer Bundeswehr. Bis 1990 war ich sechs Jahre lang Angehörige der Volkspolizei der DDR. Die Relation der Dienstzeiten lasse ich an dieser Stelle unkommentiert.

Albert Einstein, der deutsche Physiker und Nobelpreisträger, aber auch Pazifist, formulierte: Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr beabsichtige ich zu leben. Dieses Motto hat auch mich im Wesentlichen auf meinem Lebensweg begleitet. Das bedeutet für mich, insbesondere nach Niederlagen wieder nach vorn zu schauen, grundsätzlich nach einer optimistischen Grundhaltung zu streben und die positiven Erfahrungen aus zurückliegenden Jahren zu bewahren.

Schaue ich auf die Jahre 1989/1990 zurück, dann war es der Start meiner größten persönlichen Herausforderung, die mich in den Folgejahren dienstlich wie privat begleitet hat. Vieles der damaligen Ereignisse muss ich mir erst einmal wieder ins Bewusstsein rufen, einiges ist längst in Vergessenheit geraten. Dieses Phänomen bringt der Schauspieler und Regisseur Peter Ensikat treffend auf den Punkt. Er schreibt sinngemäß, dass die Wochen zwischen den Losungen >>Wir sind das Volk<< und >>Wir sind ein Volk<< so aufregend waren, dass man sich einfach nicht alle Einzelheiten merken konnte. Auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens vollzogen sich in dieser wahrhaftigen Wendezeit rasante und ereignisreiche Entwicklungen, die auch bis dahin Bewährtes, und im Übrigen heute wieder neu Entdecktes, in Frage gestellt haben.

Ich hatte damals zwiespältige Gefühle: Mein Verstand begriff, es geht etwas Positives vor, mit meinen Gefühlen sah es aber noch etwas anders aus. Heute weiß ich, dass diese friedliche Revolution nicht nur für Deutschland, sondern auch für ganz Europa neue Chancen bot.

Als zu diesem Zeitpunkt leitende Ärztin des Institutes für Mikrobiologie im Krankenhaus der Volkspolizei Berlin, das im Übrigen direkt an der Mauer lag, war ich von den Ereignissen zwar nicht gänzlich überrascht, dennoch konnte ich damals das Ausmaß der anstehenden Veränderungen in seiner Gesamtheit überhaupt nicht absehen. Die Ungewissheit über das vor uns Liegende war enorm groß, zumal uns die Tatsache der eigenen staatsnahen Tätigkeit sehr wohl bewusst war. Welche Konsequenzen werden sich sowohl beruflich als auch für die Familie ergeben? Vielleicht könnte man das Gefühl am ehesten so beschreiben: Es war Abschied zu nehmen von Vertrautem und gleichzeitig in die Fremde zu gehen, ohne den Ort zu wechseln.

In den ersten Monaten des Jahres 1990 gab es viele Spekulationen über die Zukunft des Polizeikrankenhauses. So war u.a. die Umwandlung in ein Haftkrankenhaus geplant. Im Sommer 1990 wurde immer klarer, dass auch die Bundeswehr Interesse daran hatte, in Berlin ein Bundeswehrkrankenhaus zu betreiben. Kurz vor der deutschen Einheit übergab das Ministerium des Innern das Krankenhaus am 30.September 1990 an das Ministerium für Abrüstung und Verteidigung unter dem Namen: Lazarett Berlin-Mitte der Nationalen Volksarmee. Mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 entstanden daraus das spätere Bundeswehrkrankenhaus Berlin sowie das Zentrale Institut des Sanitätsdienstes der Bundeswehr Berlin (ZInstSanBw Berlin), in das insbesondere die labordiagnostischen Anteile des Polizeikrankenhauses integriert wurden.

Mit einem Schreiben vom 19. Oktober 1990 wurde mir mitgeteilt, dass ich im Lazarett Berlin weiter verwendet werde und den vorläufigen Dienstgrad Oberfeldarzt führen darf. Diese Zeit als sogenannter Weiterverwender dauerte bis Ende Mai 1991. Am 01.06.1991 wurde ich als SaZ 2 übernommen, am 15.03.1993 erfolgte die Übernahme zur Berufssoldatin.

Anfang Oktober 1990 trafen auch die ersten Kameraden aus den alten Bundesländern in Berlin ein, die den Auftrag hatten, die vorhandenen Dienststellen in die neuen Strukturen zu überführen. Für die Aufstellung des ZInstSanBw Berlin waren der damalige Leiter des ZInstSanBw München sowie Mitarbeiter seines Stabes zuständig. Das war für beide Seiten keine einfache Aufgabe, gab es doch historisch geprägte Vorurteile zunächst noch in den Köpfen. Mit viel Feingefühl auf beiden Seiten und dem steten Bemühen, niemanden zu verletzen, musste nun auf der Grundlage der organisatorischen, personellen und materiellen Vorgaben die Dienststelle umgegliedert und neu aufgestellt werden.

An dieser Stelle muss ich betonen, dass nebenher selbstverständlich der normale Krankenhausbetrieb weiter lief und diagnostische Leistungen erbracht werden mussten. Es gab also viel Arbeit. Die für uns neuen Bestimmungen, Erlasse, Weisungen und Vorgaben mussten studiert und in die tägliche Routine umgesetzt werden. Für all die notwendigen Maßnahmen gab es jedoch keine Musterlösung. Oft musste improvisiert werden, um zum Ziel zu kommen und gleichzeitig waren regelmäßig die bereits genannten Vorurteile, wenn auch nicht in jedem Fall ausgesprochen, aus dem Weg zu räumen.

Ich erinnere mich an eine äußerst intensive und sehr emotionale Zeit, denn der Umgestaltungsprozess war u.a. mit der kompletten Neuorganisation des täglichen Lebens, beruflich wie privat, verbunden. Langjährige Freundschaften gingen in die Brüche, aber auch das Ausscheiden vieler fachlich hervorragend ausgebildeter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatte für die qualitätsgerechte Weiterführung des fachlichen Auftrages enorme Auswirkungen. Daneben mussten sich die verbliebenen Mitarbeiter langwierigen und z.T. emotional belastenden Überprüfungs- und Auswahlverfahren unterziehen, immer mit der Ungewissheit, den Anforderungen nicht gerecht zu sein. Andererseits musste ich mir selbst die Frage stellen: Passe ich überhaupt in das System Bundeswehr? Rückblickend betrachtet, erscheint selbst mir als damals hautnah Betroffene, der gewaltige Umgestaltungsprozess in seiner Gesamtheit unvorstellbar.

Beginnend ab Anfang der 90er Jahre habe ich mehrere Dienstreisen zum ZInstSanBw München unternommen, um eine gute fachliche Zusammenarbeit mit der dortigen Laborabteilung I -Medizin aufzubauen. Hier zeigte sich, dass gerade unsere hervorragende und solide fachliche Ausbildung in der DDR ein Gewinn für die Bundeswehr war. Gleiches konnte ich später noch des Öfteren in verschiedenen Verwendungen feststellen.

Vom 22.April bis zum 03.Mai 1991 war ich zusammen mit 23 Sanitätsoffizieren der ehemaligen NVA Teilnehmerin des "1. Lehrgangs Innere Führung" an der Sanitätsakademie in München. Hier wurden uns erstmals die Prinzipien der Inneren Führung, das Grundgesetz sowie die Grundzüge der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vermittelt.

Die Art, wie es die Bundeswehr verstand, das Zusammenwachsen von Ost und West zu fördern, muss retrospektiv als vorbildlich betrachtet werden. Damit hat die "Armee der Einheit" eine wichtige Funktion als Vorreiter für andere gesellschaftliche Institutionen übernommen.

Als Fazit kann ich heute feststellen, dass ich auf die Jahre der Wende mit Hochachtung und Respekt für alle aktiv Beteiligten zurückblicke. Die Übernahme durch die Bundeswehr hat sich im Großen und Ganzen reibungslos und kameradschaftlich vollzogen. Die Bundeswehr hat mir entscheidende Möglichkeiten zur persönlichen Weiterentwicklung geboten und damit die Grundlage für meinen erfolgreichen Werdegang gelegt. Aus der Zusammenarbeit gerade mit den Kameraden der ersten Stunde sind einige langjährige, bis heute dauernde Freundschaften entstanden. Es ist, wie gesagt, längst Normalität eingekehrt.

Datum: 10.10.2010

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2010/1

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