DER SANITÄTSDIENST DER BUNDESWEHR 20 JAHRE NACH DER WIEDERVEREINIGUNG

Transformationsprozesse in den Streitkräften sind Reaktionen auf sich vollziehende Entwicklungsprozesse politischer, wissenschaftlicher und damit schlussendlich auch militärischer Rahmenbedingungen, die sich folgerichtig in veränderten militärischen Aufträgen und Anforderungen für die Auftragserfüllung manifestieren. Die größte Umwälzung in der deutschen Nachkriegsmilitärgeschichte vollzog sich im Zuge der deutschen Wiedervereinigung.

 

Seit Mitte der 80er Jahre, nachdem Michael Gorbatschow (seit 1986 Generalsekretär der KPdSU) die Politik von Glasnost und Perestroika einführte, wuchsen die innenpolitischen Spannungen in der ehemaligen DDR. Zunehmend wurde sich die Bevölkerung der Gefahren und der Endgültigkeit eines nuklearen Weltkrieges mit seinen katastrophalen Folgen bewusst. Dies führte einerseits zu einem Anwachsen der staatlich organisierten, gelenkten und zu Propagandazwecken genutzten Friedensbewegung und andererseits zur Stärkung pazifistischer Gruppierungen, die einen Dienst mit der Waffe grundsätzlich ablehnten sowie der Bürgerbewegungen unter dem Dach der Kirchen.

Diese Entwicklungen hatten wiederum große Auswirkungen auf die Wehrmotivation der Soldaten der ehemaligen DDR. Mit dem, durch Gorbatschow voran getriebenen, Wandel der sowjetischen Außenpolitik mit einer Abkehr vom Abschreckungsfrieden und Hinwendung zum Konzept des Verständigungsfriedens und der friedlichen Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung Ende der 80ziger Jahre, veränderten sich auch die militärpolitischen Doktrinen. Diese innenpolitischen Rahmenbedingungen führten zu einer Spannungs- und Umbruchsituation in den Streitkräften am Vorabend der friedlichen Revolution in der DDR. Als maßgebliche Gründe dafür sind zu nennen: 

  1. Sinnkrise der Soldaten, bedingt durch das Aufweichen des Feindbildes, auch aufgrund von Annäherung an den Westen ab 1987
  2. Der exzessive Einsatz von NVA-Soldaten in der Volkswirtschaft, 1989 fast 12.000 Mann, was angesichts des militärischen Auftrages demotivierend war und die Gefechtsbereitschaft einschränkte.
  3. Das Unvermögen der politischen und militärischen Führung bezüglich Perestroika und Massenflucht der DDR-Bürger, geeignete Politikkonzepte zu entwickeln, was wiederum zu einem weitgehenden Vertrauensverlust gegenüber der eigenen Führung führte.

Mit dem Fall der Berliner Mauer am 09. November 1989 und dem Ergebnis der ersten freien Wahlen zur Volkskammer der ehemaligen DDR im März 1990, welche das Ende der politischen Vorherrschaft der SED im Ostteil Deutschlands markierten, wurden die Voraussetzungen für die Wiedervereinigung geschaffen. Unter der Regierung von Lothar de Maiziere (CDU) mit dem Ostberliner Pfarrer und Aktivisten der Friedensbewegung Rainer Eppelmann (Demokratischer Aufbruch später CDU) als Minister für Abrüstung und Verteidigung wurden im Kontext der Vorbereitung der Deutschen Einheit bereits im April 1990 Kontakte zwischen den Verteidigungsministerien beider deutscher Staaten hergestellt. Bei einem der ersten gemeinsamen Treffen unterzeichneten der damalige Bundesverteidigungsminister Stoltenberg und der Abrüstungsminister Eppelmann die „Rahmenrichtlinie über dienstliche und außerdienstliche Kontakte zwischen Soldaten der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee“ und vereinbarten die Aufnahme von umfassenden offiziellen Beziehungen und die Bildung von zwei Arbeitsgruppen zum Meinungsaustausch über gemeinsam interessierende Themen. Die erste Arbeitsgruppe bearbeitete die Themen: Personal, Haushalt und Soziales; die zweite Arbeitsgruppe die Themen Material- und Beschaffungsfragen.

Der Minister für Abrüstung und Verteidigung R. Eppelmann ging aufgrund der engen Einbindung der NVA in den Warschauer Pakt noch von einer parallelen Existenz zweier Armeen auf deutschem Boden über einen längeren Zeitraum aus, aber durch die sich überstürzenden politischen Ereignisse wurde nicht nur er von der politischen Realität überholt. Mit der Zustimmung Michael Gorbatschows zu einer NATO - Mitgliedschaft des wiedervereinten Deutschlands und der Unterzeichnung des 2+4 Vertrages am 12. September 1990 in Moskau war klar, dass es künftig nur eine Armee im wiedervereinten Deutschland - die Bundeswehr geben werde.

Somit konnten ab dem 01. Juni 1990, Monate vor der offiziellen Wiedervereinigung, erste Kontakte zwischen Vorkommandos der Bundeswehr und Offizieren auf Arbeitsebene in Stäben von Truppenteilen und Verbänden der ehemaligen NVA stattfinden. Vor den Soldaten beider deutscher Armeen stand in diesen Tagen der historisch einzigartige Auftrag, bei Fortsetzung eines geordneten Dienstbetriebes in den Einheiten und Truppenteilen der ehemaligen NVA, die vorhandene Bewaffnung, Ausrüstung und Munition vor unkontrolliertem Zugriff zu sichern und eine sachgerechte Entsorgung sowie Delaborierung der vorhandenen Technik, Ausrüstung und Munition vorzubereiten. Darunter insgesamt 1,7 Millionen Waffen, 300.000 t Munition, 440 Kampfflugzeuge und Hubschrauber, 2300 Kampfpanzer, 70 Schiffe der Volksmarine, 7850 gepanzerte Fahrzeuge, 3400 Geschütze und 10.600 Boden- Luft-Raketen. Darüber hinaus wurden 2.285 militärische Liegenschaften der NVA und Sowjetarmee übernommen bzw. einer zivilen Nutzung zugeführt. Von den ehemals 62 Truppenübungsplätzen im Beitrittsgebiet werden heute noch 9 militärisch genutzt.

Bei der Übernahme der Truppenteile/Dienststellen wurden 3 Kategorien unterschieden:

A: Truppenteile, aus denen Formationen der Bundeswehr gebildet werden sollten.
B: Truppenteile, die für eine Übergangsfrist noch benötigt wurden, nach Nutzungsende aber so schnell wie möglich aufgelöst werden sollten.
C: NVA-Einheiten, die sofort aufgelöst werden sollten.

Vor dem Hintergrund der Zusage von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl an Michael Gorbatschow, dass die Personalstärke der gesamtdeutschen Streitkräfte die Obergrenze von 370.000 nicht übersteigen werde, musste bis Ende 1994 Personal im Umfang 230.000 Männer und Frauen abgebaut werden. Damit stand die Bundeswehr alt vor der Herausforderung, den Zeit- und Berufssoldaten sowie zivilen Mitarbeitern der ehemaligen NVA neue berufliche Perspektiven in der Bundeswehr bzw. in der freien Wirtschaft aufzuzeigen und gleichzeitig die eigene Personalgenerierung zu reduzieren bzw. auf der Zeitachse zu strecken.

Von den ca. 90.000 Soldaten, darunter 394 Sanitätsoffiziere, die am 03.10.1990 Dienst in der ehemaligen NVA leisteten, traten auf der Grundlage der soldatenrechtlichen Bestimmungen des Einigungsvertrages ca. 51.000 Zeit- und Berufssoldaten als „Weiterverwender“ ihren Dienst nach dem 03.10.1990 in der "neuen" Bundeswehr an. Von diesen bewarben sich ca. 25.000 um die Übernahme in ein Dienstverhältnis als Soldat auf Zeit 2 Jahre, langfristig wurden als Zeitund Berufssoldaten 10.800 Soldaten der ehemaligen NVA weiterverwandt. 1998 leisteten noch 9.300 Soldaten mit Vordienstzeit in der NVA ihren Dienst in der Bundeswehr. 1562 Offiziere und Unteroffiziere wurden nach erfolgter Übernahme als Soldat auf Zeit oder Berufssoldat aufgrund von Hinweisen des Beauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit auf eine Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst der DDR oder auf verschwiegene Kontakte wegen Einstellungsbetruges entlassen.

Mit dem 04.10.1990 übernahm das Bundeswehrkommando Ost unter der Führung von General Schönbohm das Kommando und damit die Verantwortung über die gesamte militärische Infrastruktur und das Personal der ehemaligen NVA. [2], [5] In den Tagen zu Beginn des Monats Oktober 1990 begann für die Soldaten der "neuen Bundeswehr" -unabhängig von ihrem Geburtsort in den östlichen neuen Bundesländern - eine höchst spannende und für alle unmittelbar Beteiligten unvergessliche Arbeitsperiode, die durch viele historische Einmaligkeiten geprägt war, wie z.B.:

  • Euphorie der deutschen Wiedervereinigung.
  • Einmaligkeit der historischen Aufgabe der Auflösung einer modernen, konventionell ausgerüsteten Armee, die ehemals einem konträren Militärblock angehörte.
  • Überführung einer großen Anzahl von militärischem Gerät und Liegenschaften in eine zivile Nutzung.
  • Weite Handlungs- und Entscheidungsfeiräume für Vorgesetzte aller Ebenen, da historische Prallelen bzw. anwendbare Vorschriften und Richtlinien oft nicht existierten.

Dabei konnte die Ausgangssituation der Soldaten beider deutscher Streitkräfte für das Zusammentreffen kaum unterschiedlicher sein. Da war einerseits der Zeit- und Berufssoldat aus den alten Bundesländern, der sich von einer gesicherten sozialen Position aus dem Abenteuer "wilder Osten" stellte und andererseits der ehemalige NVA-Soldat, im Status SaZ-2, mit höchst ungewissen Zukunftsaussichten, dessen gesamtes berufliches, privates und oft auch familiäres Umfeld einem völligen Wertewandel unterzogen wurde.

Für das medizinisch tätige Personal ging es vorrangig darum, die Arbeitsfähigkeit der verschiedenen medizinischen Einrichtungen der ehemaligen NVA und damit die Erfüllung des medizinischen Versorgungsauftrages für die ca. 90.000 Soldaten, darunter ca. 39.000 Grundwehrdienstleistende, in den Truppenteilen und Einheiten weiter zu gewährleisten, die vorhandenen Arznei- und Verbandmittel sowie Ausrüstungsgegenstände sachgerecht weiter zu bewirtschaften und vorhandene Patientenunterlagen bestimmungsgemäß zu archivieren. Dabei erfolgte zunächst die Versorgung in den alten bestehenden medizinischen Einrichtungen der Standorte.

Die Herausforderungen für das Personal bestanden vor allem darin, möglichst ohne größere Verwerfungen die neuen Bestimmungen und Festlegungen auf dem Gebiet der unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung und der Heilfürsorge zur Anwendung zu bringen. Limitierende Faktoren waren dabei völlig fehlende Vorschriftenkenntnisse bei dem Sanitätspersonal der ehemaligen NVA, fehlende Dienstvorschriften in den medizinischen Einrichtungen, fehlendes erfahrenes Personal für die Vordermannausbildung bzw. Ausbildung am Arbeitsplatz sowie rasch wechselndes Personal durch Zuversetzung, Versetzung bzw. Kommandierung zu Ausbildungsabschnitten in das Altbundesgebiet zu lehrgangsgebundenen Ausbildungsabschnitten oder Ausscheiden aus dem Dienst.

Unmittelbar nach dem 03.10.1990 wurden auch medizinische Einrichtungen der ehemaligen NVA, für die kein Weiterführungskonzept bestand abgewickelt. Dazu gehörten:

  • die Militärmedizinische Akademie Bad Saarow heute ein ziviles Klinikum der Regelversorgung,
  • die Militärmedizinische Sektion an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswalddie Liegenschaft wird heute durch die im Gesundheitsbereich tätige Medigreif Unternehmensgruppe genutzt,
  • die Lazarette der NVA Dresden, Potsdam und Ückermünde - heute teilweise noch als zivile Gesundheitseinrichtungen bzw. als Verwaltungsgebäude genutzt,
  • das Lazarett der Volksmarine Stralsund, heute Bestandteil des Hanse Klinikum Stralsund,
  • das Lazarett der Luftstreitkräfte Cottbus.

Kurz vor der deutschen Wiedervereinigung am 30. September 1990 übergab das Ministerium des Inneren der ehemaligen DDR sein Zentralkrankenhaus an das Ministerium für Abrüstung und Verteidigung als »Lazarett Berlin-Mitte der Nationalen Volksarmee«. Am 3. Oktober 1990 übernahm die Bundeswehr das Haus und begann es für ihre Zwecke umzubauen. Den Titel Bundeswehrkrankenhaus erhielt es am 1. Januar 1991. Die ehemaligen NV-Lazarette Leipzig, Neustadt-Glewe und Gotha wurden als Bundeswehrkrankenhaus Leipzig bzw. als Facharztuntersuchungsstellen durch die Bundeswehr zunächst noch weitergenutzt.

Bis Dezember 1990 wurden die alten Dienststellenbezeichnungen weitergeführt. Mit der Einführung der Heersstruktur V ab Dezember 1990 begann man schrittweise mit der Umgliederung der Truppenteile der Kategorien A und B und dem Aufbau einer territorialen Wehrstruktur mit Heimatschutzverbänden.[5] Damit wurde den Forderungen des 2+4 Vertrages entsprochen, der in Artikel 5 die Festlegung enthielt, dass bis zum endgültigen Abzug der Verbände der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland ausschließlich deutsche Verbände der Territorialverteidigung ohne NATO-Einbindung stationiert sein dürfen. Nach der Auflösung des Bundeswehrkommandos Ost am 30. Juni 1991 wurden die Heimatschutzverbände durch das Korps- und Territorialkommando Ost geführt, das seit dem 16. April durch Umgliederung des Heereskommandos Ost aufgebaut worden war.

So wurden die beiden Kommandos der Militärbezirke III und V in Leipzig und Neubrandenburg zu Stab Militärbezirk / Wehrbereichskommando umgegliedert. Am 01. Juli1991 erfolgte dann die Umbenennung in Division/ Wehrbereichskommando VII und VIII. Die Fusionierung von Territorial- und Feldheer war ursprünglich auch für die drei anderen Korps im Westteil vorgesehen, wurde aber nicht mehr umgesetzt. Stattdessen wurden die nationalen Korpsstäbe in multinationale Korpsbzw. Einsatzstäbe umgewandelt. Mit der Unterstellung des Korps- und Territorialkommandos Ost unter das neu geschaffene Heeresführungskommando am 30. September 1994 wurden die Truppenteile im Osten in das Feldheer eingegliedert und die Einbindung in die NATO-Kommandostrukturen vollzogen.

Mit Wirkung vom 01. Januar 1995 wurde das KTK Ost defusioniert und in das IV. Korps umgegliedert, das bis zu seiner Enthebung von der Führungsverantwortung und Außerdienststellung am 31.03.2002 die Verbände und Truppenteile in den neuen Bundesländern führte. Sichtbarer Ausdruck dieser NATO-Einbindung war z.B. die Umbenennung des Stabes Div/ WBK VII in Wehrbereichskommando VII/ 13. Panzergrenadierdivision mit den unterstellten Panzer- bzw. Panzergrenadierbrigaden. Diese Fusionierung blieb bis Oktober 2001 bestehen, dann erfolgte die Defusionierung in die Stäbe der 13. Panzergrenadierdivision Leipzig und des Wehrbereichskommando III in Erfurt.

Die in den ehemaligen Kommandos der Militärbezirke vorhandenen Abteilungen des Medizinischen Dienstes der NVA wurden schrittweise durch Zuversetzung von Sanitätsoffizieren und Sanitätsunteroffizieren aus den alten Bundesländern zu Abteilungen Wehrbereichsarzt umgebaut. Dabei gliederte sich die Abteilung Wehrbereichsarzt in fünf Dezernate:

  • 1 Hygiene, Heilfürsorge, Arbeitsmedizin,
  • 2 Sanitätsdienstlicher Einsatz, Ausbildung, 3 Wehrpharmazie, Sanitätsmaterial,
  • 4 Veterinärwesen,
  • 5 Zahnärztlicher Dienst.

Der Auftrag der Abteilung Wehrbereichsarzt umfasste:

  • die Sicherstellung der unentgeltlichen truppenärztlichen und truppenzahnärztlichen Versorgung,
  • die sanitätsdienstliche Beratung der truppendienstlichen Führung des Divisions- und Wehrbereichskommandos,
  • die fachlichen Führung der nachgeordneten Sanitätseinrichtungen und der Leitenden / Beratenden Sanitätsoffiziere auf der Ebene der Verteidigungsbezirkskommandos und der Brigadeärzte,
  • die Ausbildung und Inübunghaltung des Sanitätspersonals,
  • die Überwachung der Hygiene- und Arbeits- sowie Tierschutzbestimmungen in den Verpflegungseinrichtungen, Unterkünften und Arbeitsbereichen teilstreitkraftund organisationsbereichsübergreifend im jeweiligen Zuständigkeitsbereich.

Dem Wehrbereichsarzt waren fachdienstlich ein Lazarettregiment mit Sanitätsbataillon und eine Reservelazarettgruppe unterstellt. Die ambulante sanitätsdienstliche Betreuung wurde in Standortsanitätszentren Ost mit dazugehörigen Außenstellen und den Facharztuntersuchungsstellen der Bundeswehrkrankenhäuser durchgeführt. Die stationäre Betreuung war durch die Bundeswehrkrankenhäuser unter zusätzlicher Abstützung auf zivile Kapazitäten in Notfällen gewährleistet. Mit Übernahme der Führungsverantwortung durch die Bundeswehr begann in den Bundeswehrliegenschaften im Osten ein umfangreiches Infrastrukturprogramm, das schrittweise zur Rekonstruktion und Modernisierung der kompletten sanitätsdienstlichen Infrastruktur führte. Dieses Programm konnte bisher noch nicht vollständig abgeschlossen werden. (Abb. 1 und 2)

Mit der weiteren Ausrichtung der Bundeswehr auf die Teilnahme an internationalen friedenssichernden Missionen Mitte der 90ziger Jahre unter dem Mandat der Vereinten Nationen, Stichwort "Neues Heer für Neue Aufgaben", traten die Aufgabenschwerpunkte Ausbildung, Inübunghaltung und Lazarettorganisation deutlicher als bisher in den Focus sanitätsdienstlicher Betrachtungen. Daher erfolgte folgerichtig eine Umgliederung innerhalb der Abteilung Wehrbereichsarzt, die bereits in der Nummerierung der Dezernate augenfällig wurde. Unentgeltliche truppenärztliche und truppenzahnärztliche Versorgung, Einsatz, Ausbildung und Lazarettorganisation standen mit ihrer unmittelbaren Einsatzrelevanz im Brennpunkt und bildeten daher die Dezernate 1 und 2.)

Auf der Grundlage der Empfehlungen der Kommission »Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr« (Weizäcker-Kommission) und anderer Grundlagendokumente wurde im Jahr 2000 mit der grundlegenden Erneuerung der Bundeswehr begonnen. Neben einer deutlichen Umfangsreduzierung der Kräfte wurde zur Optimierung eine Zusammenfassung all jener Kräfte und Mittel beschlossen, die Querschnittsaufgaben für alle Teilstreitkräfte erbringen. Diese Aufgaben sollten durch die Streitkräftebasis (SKB), den Zentralen Sanitätsdienst (ZSanDstBw) und im Rüstungsbereich wahrgenommen werden. Der neu geschaffene Organisationsbereich des Zentralen Sanitätsdienstes unter der Führung des Inspekteurs des Sanitätsdienstes der Bundeswehr bündelte alle teilstreitkräfteund organisationsbereichsübergreifenden sanitätsdienstlichen Aufgaben.

Zu den Kernaufgaben des ZSanDstBw gehören:

  • die präklinische und klinische Versorgung im Einsatz und im Friedensbetrieb sowie die Bereitstellung der hierfür erforderlichen Mittel,
  • die präventivmedizinische Versorgung im Einsatz und im Grundbetrieb,
  • der medizinische ABC- Schutz,
  • die Bereitstellung von Medical Intelligence als Betrag zur Nachrichtengewinnung und Aufklärung der Streitkräfte,
  • die Zusammenarbeit mit zivilen Gesundheits- und Forschungseinrichtungen in Deutschland sowie den Einsatzgebieten,
  • die zentrale Bewirtschaftung von Sanitätsmaterial,
  • große Teile der sanitätsdienstlichen Ausund Fortbildung sowie Inübunghaltung von Fachpersonal,
  • die Durchführung von öffentlich- rechtlichen Aufgaben im Rahmen der Eigenvollzugskompetenz der Bundeswehr, vergleichbar mit der Aufgabenwahrnehmung durch zivile Gesundheitsämter, staatliche Gewerbeärzte, Untersuchungsämter, Inspektionsstellen und Fachinstitute im zivilen Bereich,
  • Evakuierung per Luft, See. und Straße in Zusammenarbeit mit den Luftwaffe, Heer und Marine sowie der Streitkräftebasis. (Abb. 2)

Der neu geschaffene Organisationsbereich des ZsanDBw entsprach in seiner Führungsstruktur grundsätzlich den TSK und der SKB. Mit der Indienststellung des Sanitätsführungskommandos am 03. Juli 2001 und dem umstrukturierten Sanitätsamt in München wurden die beiden tragenden Säulen des ZSanDstBw geschaffen. In den Folgemonaten wurden die 4 regionalen Sanitätskommandos (SanKdo) aufgestellt.)

Mit der Indienststellung des Sanitätskommando III am Standort Weißenfels, wo außerdem das Sanitätsregiment 32 und Sanitätszentrum Weißenfels stationiert sind, wurde der Grundstein für die Schaffung des größten Sanitätsstandortes der Bundeswehr gelegt. (Abb. 3 und 4)

Mit der Aufstellung des Kommandos Schnelle Einsatzkräfte Sanitätsdienst am 01.03.2003 wurde eine weitere Voraussetzung geschaffen, die Reaktionsfähigkeit des Sanitätsdienstes deutlich zu erhöhen und bedeutete einen weiteren konsequenten Schritt in Richtung des Einsatz orientierten Fähigkeitsaufbaues. Zu den spezifischen Aufträgen des KSES gehören unter anderem:

  • Funktion als Leitverband für den Einsatz der SanKp bewegl. Einsatz zur sanitätsdienstlichen Unterstützung des Deutschen QRFVerbandes,
  • sandstl. Unterstützung von Versorgungsund Rettungsoperationen,
  • Unterstützung von Operationen der Division Spezielle Operationen (DSO),
  • Unterstützung von Operationen der Division Luftbewegliche Operationen (DLO),
  • Abstellung von Kräftebeiträgen für NATOResponse Force und EU- Battlegroup
  • Durchführung von Soforthilfeeinsätzen in humanitären Not- und Katastrophensituationen,
  • Führung von sanitätsdienstlichen Einsatzverbänden.

In der Konzeption der Bundeswehr aus dem Jahr 2004 wurden die Anforderungen an die Streitkräfte hinsichtlich des zu erwartenden Aufgabenspektrums und Personalumfangs präzisiert. In den »Nationalen Zielvorgaben für Einsätze der Bundeswehr« wurden planerisch für friedensstabilisierende Einsätze bis zu 14.000 Soldatinnen und Soldaten zum Ansatz gebracht, möglicherweise auf bis zu fünf verschiedene Einsatzgebiete aufgeteilt. Für Frieden erzwingende Maßnahmen mit hoher Kampfintensität wurden bis zu 35.000 Soldatinnen und Soldaten geplant sowie bis zu weiteren 35.000 Soldatinnen und Soldaten entsprechend den Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland gegenüber NATO, EU und VN vorgesehen.

Die unterschiedlichen Einsatzoptionen, einschließlich präventivmedizinischer Maßnahmen, der Rettung, des qualifizierten Verwundetentransportes und präklinischer Therapie sind sanitätsdienstlich derart sicher zu stellen, dass das Ergebnis der Behandlungsmaßnahmen qualitativ den fachlichen Standards in Deutschland entspricht. Dieses erfordert einen modularen Aufbau sowie ein auf die vielfältigen Erfordernisse der Einsätze abgestimmtes System aus Behandlungseinrichtungen und Verwundetentransportmitteln, um auf unterschiedliche Auftragslagen flexibel reagieren zu können. In den jeweiligen Kräftekategorien eingesetzte Sanitätskräfte müssen zur Auftragserfüllung hinsichtlich Verfügbarkeit, Mobilität, Führungsfähigkeit, Überlebensfähigkeit und Durchhaltefähigkeit so ausgelegt sein, dass sie die Truppe im Einsatz wirkungsvoll unterstützen können.

Um den Erfordernissen der Konzeption der Bundeswehr nach einer durchhaltefähigen Besetzung mit klinischtätigem Fachärzten in den Modularensanitätseinrichtungen gewährleisten zu können, wurde die Anzahl der Bundeswehrkrankenhäuser von ursprünglich 8 auf 5 unter Konzentration auf einsatzrelevante Fähigkeitsprofile reduziert.

Das Fachpersonal des ZSanDstBw bewegt sich zunehmend im Spannungsfeld zwischen Einsatzbelastung, Anforderungen an Ausbildung und Inübunghaltung im Inland und Sicherstellung des Grundbetriebs. Die dauerhafte Sicherstellung der Einsatzfähigkeit des medizinischen Fachpersonals wird in immer höherem Maße durch individuelle Lösungen bestimmt. Langfristige und zentrale Planungen werden den Forderungen nach Flexibilität für den Einzelnen und damit der Implementierung optimaler spezifischer Lösungen nicht mehr in jedem Fall gerecht.

Auch der Forderung nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit vielfältigen und von beiden Geschlechtern gut angenommenen Modellen von Elternzeit und Teilzeit kann nur mit individuellen Lösungen entsprochen werden. Im Sanitätskommando III (hier exemplarisch für den ZSanDstBw genannt) ist derzeit über ein Drittel der Soldaten weiblich. Im Falle der Geburt eines Kindes ist höchstwahrscheinlich davon auszugehen, dass die Betreuung des Kindes zu Beginn überwiegend von der Mutter übernommen wird und dementsprechende Vakanzen entstehen. Derzeit sind 4 % der Soldaten (weiblich und männlich) im SanKdo III familienbedingt abwesend, d.h. sie befinden sich im Mutterschutz bzw. in Elternzeit oder Betreuungsurlaub. Weitere 2 % sind aufgrund einer Teilzeittätigkeit nur eingeschränkt und mit deutlich längerem Vorlauf und größerem organisatorischen Aufwand einsatzbereit.

Eine weitere große Herausforderung für den ZSanDstBw ist die Kooperation im Rahmen der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit. Konsequent gelebt wird diese Zivil-Militärische Zusammenarbeit (ZMZ) bereits am Bundeswehrkrankenhaus Westerstede, das 2008 durch Zusammenschluss des ehemaligen Bundeswehrkrankenhauses Bad Zwischenahn mit der Ammerland-Klinik aufgestellt wurde. Militärische und zivil geführte Abteilungen arbeiten hier im Sinne einer win-win-Situation für alle Beteiligten unter einem Dach zusammen.

Mit der Aufstellung der ZMZ-Stützpunkte, beginnend am 02.September 2009 mit der Indienststellung des 1. ZMZ-Stützpunktes Sanitätsdienst in Weißenfels, wurde eine Struktur etabliert, die primär einsatzrelevante Fähigkeiten des Sanitätsdienstes der Bundeswehr den zivilen Bedarfsträgern im Rahmen von Katastrophen oder Großschadensereignissen zugänglich macht. (Abb. 6-8)

Die Regimenter des ZSanDstBw werden hier in die Lage versetzt, subsidiär Hilfe zu leisten und die Kräfte und Fähigkeiten des ZSanDstBw zum Schutz der Bevölkerung einzusetzen. Bereits seit 2007 findet flächendeckend eine Beratung der zivilen Bedarfsträger hinsichtlich Fähigkeiten und Fertigkeiten der Bundeswehr in der Hilfeleistung im Katastrophenfall durch die neu geschaffenen und nur durch Reservisten besetzten Bezirks- und Kreisverbindungskommandos (BVK/KVK) statt.

Resümee Die Bildung des ZSanDstBw mit einer Bündelung und Zentralisation der Kräfte und Mittel war der einzig gangbare Weg, um den steigenden Anforderungen aufgrund der Weiterentwicklung der Streitkräfte einerseits und den geänderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen andererseits gerecht zu werden. Der Zentrale Sanitätsdienst der Bundeswehr musste im Verlauf der letzten Jahre eine zunehmende Zahl von Einsätzen zeitgleich sicherstellen. Zusätzlich werden die Mandate robuster, die sanitätsdienstliche Betreuung der Kräfte vor Ort stellt an Personal und Material steigende Anforderungen hinsichtlich des medizinischen Sachverstands einerseits und der Einbindung in militärische Operationen mit entsprechendem Know-how andererseits. Die angepasste modulare sanitätsdienstliche Versorgung im gesamten Einsatzspektrum ist nur dank der einheitlichen stringenten Führung der Ausbildung sowie des Einsatzes von Kräften und Mitteln ermöglicht worden. Es ist zu bezweifeln, dass die ursprünglichen Sanitätsdienste der Teilstreitkräfte in der Lage gewesen wären, dieser Entwicklung zu folgen und die umfassenden Einsatzszenarien suffizient sicher zustellen.

Aktuelle Herausforderungen:

Nach Aufstellung des Zentralen Sanitätsdienstes liegen die Herausforderungen derzeit besonders in den Bereichen der Personalgewinnung, der dienstposten- und anforderungsgerechten Ausbildung sowie der Personalbindung. Im Zuge eines sich abzeichnenden Fachkräftemangels auf dem zivilen Arbeitsmarkt wird es für die Bundeswehr zunehmend schwieriger, gut ausgebildetes und motiviertes ärztliches Personal in ausreichender Zahl zu gewinnen und langfristig an die Bundeswehr zu binden. In geringerer Ausprägung, aber trotzdem sichtbar, ist dieses Problem auch bei spezialisiertem Assistenzpersonal (z.B. Rettungsassistenten, Medizinisch-Technische Assistenten oder Operationstechnische Assistenten) zu erwarten.

Bei der Ausbildung der Sanitätsoffiziere muss die bereits erfolgte und in der Fläche auch weitestgehend durchgesetzte Ausbildung der Humanmediziner zum Rettungsmediziner weiter forciert werden, um den Anforderungen an den Sanitätsdienst im Einsatz und der Maxime des Sanitätsdienstes - auch vor dem Hintergrund der Durchhaltefähigkeit und der individuellen Einsatzbelastung - auf Dauer gerecht werden zu können.

Das Fachpersonal des ZSanDstBw bewegt sich zunehmend im Spannungsfeld zwischen Einsatzbelastung, Anforderungen an Ausbildung und Inübunghaltung im Inland und Sicherstellung des Grundbetriebs. Die dauerhafte Sicherstellung der Einsatzfähigkeit des medizinischen Fachpersonals wird mehr und mehr durch individuelle Lösungen bestimmt, langfristige und starre zentrale Planungen werden den Forderungen nach Flexibilität für den Einzelnen und damit der Implementierung optimaler individueller Lösungen nicht mehr in jedem Fall gerecht. Auch der Forderung nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit vielfältigen und von beiden Geschlechtern gut angenommenen Modellen von Elternzeit und Teilzeit kann nur mit individuellen Lösungen entsprochen werden.

Datum: 10.10.2010

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2010/1

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