Medizinischer Dienst der NVA - Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung heute noch aktuell und notwendig?
Im Jahre 2006 erschien Band 17 aus der Reihe „Beiträge Wehrmedizin und Wehrpharmazie“ mit dem Titel „Der Medizinische Dienst der NVA – Teil I“. Für 2009 ist beabsichtigt, diesem Teil II folgen zu lassen. Dieses Datum erinnert uns dann an das mittlerweile sechzig Jahre zurückliegende Jahr 1949 und an die Gründung der BRD und der DDR als ein für die deutsche Geschichte entscheidendes Resultat des Zweiten Weltkrieges. In Weiterführung dieser Erinnerung blicken wir aber auch zugleich auf das vierzig Jahre später folgende schicksalhafte Jahr 1989, welches mit dem einsetzenden Untergang der DDR die Teilung Deutschlands beendete.
In diesem vierzig Jahre umfassenden Zeitraum staatlicher Entwicklungen kam es zum Aufbau der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee, die sich durch ihre Einbindung in internationalen Blöcken konfrontiert sahen. Folgerichtig etablierten sich in diesen beiden deutschen Armeen Systeme zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit ihrer Soldaten – der Sanitätsdienst und der Medizinische Dienst, die damit objektiv zu Bestanteilen der Geschichte der deutschen Wehrmedizin im zwischen 1945 und 1990 geteilten Deutschland wurden. Während die fünfzigjährige Geschichte des Sanitätsdienstes inzwischen ihren öffentlichkeitswirksamen Niederschlag gefunden hat, liegt eine umfassende Darstellung zur Geschichte des Medizinischen Dienstes trotz einiger Einzelbeiträge bislang noch nicht vor. An Bemühungen hierzu hat es bereits unmittelbar nach der Wiedervereinigung nicht gefehlt, sie waren jedoch aus den unterschiedlichsten Gründen nicht erfolgreich.
Während des 34. Kongresses unserer Gesellschaft im Jahre 2003 in Amberg entstanden in deren Arbeitskreis „Geschichte der Wehrmedizin“ erneut ernsthafte Überlegungen, sich künftig auch der Geschichte des Medizinischen Dienstes zuzuwenden. Der Entschluss der Leitung des Arbeitskreises, dazu einen Workshop durchzuführen, fand im Präsidium der DGWMP Zustimmung und eine wirkungsvolle Unterstützung. Solcherart ermutigt, fand dann im April 2004 im Leipziger Dominikanerkloster „St. Albert“, bei besten Arbeitsbedingungen, dieser Workshop statt. Zwei Jahre später konnten dann auf dem 36. Kongress in Travemünde die auf dem Workshop gehaltenen Vorträge in dem eingangs genannten, von F.-J. Lemmens und W.G. Locher herausgegebenen Band 17 vorgestellt werden.
Bewusst wurde in diesem Band, neben der Darstellung von Strukturen und Besonderheiten der Militärmedizin in der DDR, zunächst die Aus- und Weiterbildung von Militärärzten, Militärzahnärzten, Militärapothekern und Feldscheren sowie die feldepidemiologische mikrobiologische Forschungsarbeit der Militärmedizinischen Sektion an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität (MMS) in Greifswald in den Mittelpunkt gestellt. Die Ausbildung der an der MMS Studierenden erfolgte nach den in der DDR geltenden „Studienplänen der Grundstudieneinrichtungen Medizin, Stomatologie und Pharmazie“, ergänzt durch militärische und militärmedizinische Spezialfächer. Auch die fachspezifischen Aus- und Weiterbildungsmerkmale des approbierten Personenkreises entsprachen denen der zivilen Kollegenschaft.
Dass es den Autoren, durchweg Spezialisten auf ihren Fachgebieten, gelungen ist, ihre Themen wissenschaftlich korrekt und frei von einengenden Ressentiments zu behandeln, verdient Anerkennung und Respekt. Eine derartige Herangehensweise erscheint auch bei einer weiteren Behandlung dieses durchaus als Forschungsgegenstand denkbaren Themenkomplexes ebenso nützlich wie unerlässlich zu sein.
Wendet man sich nun dem eingangs erwähnten denkbaren Teil II der Geschichte des Medizinischen Dienstes zu, dann erscheinen bei dessen Bearbeitung einige Gesichtspunkte besonders erwähnenswert.
Zu den sich innerhalb des Medizinischen Dienstes entwickelten medizinischen Betreuungsebenen gehörten neben dem vorwiegenden truppenärztlichen Einsatzbereich auf Regiments- und Divisionsebene, die Lazarette der Militärbezirke, das Marinemedizinische Zentrum, das Institut für Luftfahrtmedizin, die bereits genannte MMS und die Militärmedizinische Akademie. In diesen Einrichtungen waren, dem jeweiligen Bedarf angepasst, die klinischen und theoretisch-experimentellen Fachrichtungen vertreten. Besondere Beachtung sollte die genannte truppen- bzw. auch die marineärztliche Arbeit in der NVA finden. Für Untersuchungen auf diesen Gebieten sollten in erster Linie jene noch in der Bundeswehr tätigen Sanitätsoffiziere gewonnen werden, die vorher Angehörige der NVA waren. Sie sollten ihre Erfahrungen aus dem Sanitätsdienst der Bundeswehr dabei durchaus mit einfließen lassen und so einen spezifischen Beitrag zur wehrmedizinischen Geschichtsschreibung leisten.
Ein antizipations- und tabufreies Herangehen wäre sehr wohl geeignet zu erfahren, welche der damals gewonnenen Erkenntnisse und praktischen Erfahrungen für die gegenwärtigen und künftigen Aufgaben des Sanitätsdienstes noch von Nutzen sein könnten. Als Beispiel dafür mag die Weiterentwicklung der mobilen Medizinischen Einrichtungen (Containertechnik!) ebenso stehen wie etwa die Fachkonzeption Medizinischer ABC-Schutz, die in die Einsatzkonzeption „Medizinischer ABC-Schutz – Task Force“ eingeflossen ist. Auch das weitere ableitbare differenzierte Themenspektrum sollte, zumal für den historisch interessierten wehrmedizinischen Nachwuchs bei einer anzustrebenden akademischen Graduierung durchaus reizvoll sein. Neben den rein fachlichen medizinischen und militärmedizinischen Themen des Wirkens des Medizinischen Dienstes gibt es weitere unerlässliche Untersuchungsaspekte, die sich aus der systemimmanent bedingten Vernetzung des Medizinischen Dienstes mit dem staatlichen Gesundheitswesen und anderen gesellschaftlichen Strukturen ableiten und die einer besonderen Betrachtungssorgfalt bedürfen. Auf einige dieser Forschungsrichtungen hat u.a. P. Kolmsee aus der Sicht des Historikers in dem genannten Band 17 bereits hingewiesen.
Die Quellenlage für das Vorhaben kann prinzipiell als günstig eingeschätzt werden, bietet sich doch mit dem Ende der staatlichen Existenz der DDR ein historisch abgeschlossener Forschungszeitraum an, der von den sonst üblichen Archivsperren weitgehend unbelastet ist. Ungeachtet des zu erwartenden umfangreichen Schriftgutes kann nicht auf die Aussagen von Zeitzeugen, insbesondere ehemaliger Verantwortungsträger im Medizinischen Dienst, verzichtet werden. Sie dürften unstreitig nicht unwesentlich dazu beitragen, die Trockenheit von Dokumenten zu beleben, Fehlinterpretationen zu vermeiden und Entwicklungsprozesse verständlicher werden zu lassen.
Abschließend seien einige wissenschaftsorganisatorische Überlegungen angefügt. Die Bearbeitung eines derart anspruchsvollen Forschungskomplexes verlangt im Interesse eines koordinierten und inhaltlich abgestimmten Vorgehens eine sehr engagierte Führung, möglicherweise und auch sehr sinnvoll durch die Leitung des Arbeitskreises. Ob jedoch die im Regelfall zeitlich wie individuell aufwändigen Betreuungen allein von dieser geleistet werden können, erscheint wegen der praktisch singulären Betreuungskapazität einigermaßen unsicher. Vielmehr wäre denkbar, dass der Kreis der Betreuer fachbezogener Themen durch die Einbeziehung entsprechender Hochschullehrer aus dem Bereich des Sanitätsdienstes Erweiterung erfährt. Das wäre auch ganz im Sinne der auf die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses gerichteten Satzung unserer Gesellschaft (§ 2 (1), d).
Schließlich müssen notwendige Forschungsvoraussetzungen bedacht und berücksichtigt werden, wie etwa dienstliche Freistellungen, die Absicherung von Archivnutzungen oder auch die Bereitstellung finanzieller Mittel.
Die Quintessenz der vorstehenden Überlegungen besteht darin, dieses interessante Kapitel der jüngeren deutschen Wehrmedizingeschichte angesichts der noch als günstig anzusehenden Bedingungen beherzt anzugehen und vor allem bald zu schreiben.
Datum: 30.06.2008
Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2008/2