23.12.2019 •

    „… die Einsatzrealität hat sich signifikant verändert“

    Interview mit dem Befehlshaber Einsatzführungskommando der Bundeswehr, Herrn Generalleutnant Erich Pfeffer

    WM: Herr General, Sie waren als Kommandeur der deutschen Einsatzkontingente in Bosnien, in Kosovo und in Afghanistan eingesetzt. Sie kennen zudem alle Einsatzgebiete durch wiederholte Dienstaufsichtsbesuche. Welche Veränderungen haben Sie hinsichtlich Bindung an internationale Formate, hinsichtlich Auftrag und Struktur der Einsätze über die Zeitspanne feststellen können? 

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    Generalleutnant Erich Pfeffer (Abb.: Bundeswehr/Denny Schneider)
    Generalleutnant Pfeffer: Der Blick auf die vergangenen Jahre zeigt sehr deutlich, dass sich für uns die Einsatzrealität signifikant verändert hat, letztlich eine Konsequenz aus dem sich stetig und komplex verändernden sicherheitspolitischen Umfeld unseres Landes. Wir kommen aus einer langen, über 20 Jahre anhaltenden Phase großer Einsätze aus zwei Einsatzgebieten, dem Balkan und Afghanistan. Spätestens seit 2014 hat hier eine Veränderung stattgefunden, die durch drei Trends gekennzeichnet ist. Diese lassen sich mit den Schlagworten Vielzahl, Vielfalt und Kurzfristigkeit beschreiben. Derzeit führen wir im Kommando 13 Einsätze und Missionen. Das spricht eine sehr deutliche Sprache mit Blick auf die Veränderung in der Zahl. Dabei hat sich auch die Größenordnung verändert. Der größte Einsatz umfasst etwa 1.300 deutsche Soldatinnen und Soldaten, in kleineren Missionen dienen heute nur wenige Dutzend. Gleichzeitig stellen wir uns einer hohen Vielfalt, beispielsweise in der Art der Einsätze. Wir beteiligen uns an Beobachtermission über Ausbildungsmission, Stabilisierungsmission, Beratungsmission, Anti-Terror-Mission bis hin zum Thema Eventualfallplanung in der Landes- und Bündnisverteidigung. Ebenso spiegelt sich die Vielfalt auch in der Form der jeweiligen multinationalen Einbindung wider. Die von mir angesprochenen früheren großen Einsatzgebiete Balkan und Afghanistan waren NATO-Einsätze. Heute werden die meisten Einsätze unter Führung der Vereinten Nationen oder der Europäischen Union durchgeführt, in einem Fall beteiligen wir uns sogar an einem Einsatz, der unter der Führung einer Koalition stattfindet. Auf neue Herausforderungen und Lageänderungen müssen wir zudem kurzfristig reagieren, während wir früher doch deutlich längere Planungsvorläufe für einen Einsatz hatten. Dies hat natürlich erhebliche Auswirkungen auch auf die persönliche Betroffenheit der Soldatinnen und Soldaten. Letztlich bedeutet es in der Konsequenz, dass wir uns zukünftig noch breiter aufstellen und uns an die zukünftigen Herausforderungen anpassen müssen.

    WM: Gibt es in diesem Zusammenhang in Anbetracht zunehmender Gewalt internationaler Akteure, aber auch der immer schwierigeren Entscheidungsfindung innerhalb politischer Organisationen Trends, wie künftige Auslandseinsätze der Bundeswehr aussehen könnten und wie wir dafür unsere Soldatinnen und Soldaten vorbereiten und ausbilden sollten? 

    Generalleutnant Pfeffer: Die Dynamik und die Komplexität des sicherheitspolitischen Umfelds, die wir jetzt seit wenigen Jahren erleben, wird nach meiner Einschätzung erst einmal anhalten und sich nicht grundsätzlich verändern. Das bedeutet, dass die von mir genannten Schlagworte Vielzahl, Vielfalt und Kurzfristigkeit auch weiter unsere Einsatzrealität prägen werden. Wenn ich bei den Aufgaben, die wir als Kommando hier verantworten, das Thema Führungsfähigkeit von Evakuierungen mit dazu nehme, dann decken wir ein enorm breites Spektrum in der Bundeswehr insgesamt ab. Das erfordert in Hinsicht unseres begrenzten Personalkörpers auch eine breite Aufstellung unserer Ausbildung bei gleichzeitiger Spezialisierung auf das absolut Notwendige. Nur dann sind wir in der Lage, flexibel zu reagieren. Außerdem ist es wichtig, neben den allgemeinen soldatischen Grundfertigkeiten, einer hohen physischen und psychischen Belastbarkeit der Soldatinnen und Soldaten, sich weiterhin intensiv mit den Besonderheiten des jeweiligen Einsatzlandes auseinanderzusetzen. 

    WM: Haben sich aus Ihrer Sicht die psychischen und physischen Belastungen in den Einsätzen für unsere Soldatinnen und Soldaten verändert? Welche Instrumente stehen dem Einsatzführungskommando zur Verfügung, um solche Belastungen möglichst niedrig zu halten? 

    Generalleutnant Pfeffer: Zunächst einmal glaube ich, dass es grundlegende Belastungen im Einsatz gibt, die prinzipiell gleich sind. Dazu gehören die Trennung von Familie und sozialem Umfeld oder auch der durchgehende Dienst. Abhängig vom jeweiligen Einsatzgebiet und von der Lage vor Ort kommen dann in jedem Einsatz spezifische Belastungen hinzu: Bedrohungen durch den Gegner, klimatische Belastungen oder auch Gefährdungen durch Krankheiten. Auch der Faktor „Häufigkeit eines Einsatzes“ darf man nicht aus den Augen verlieren. Solchen Belastungen vorzubeugen, ist Aufgabe der gesamten Bundeswehr. Für die Einsatzvorbereitung und Nachbereitung tragen die Truppensteller die Verantwortung, denen verschiedene Instrumente zur Reduktion von Einsatzbelastungen zur Verfügung stehen. Das beginnt schon mit einer guten Ausbildung und einer genauso guten Ausstattung. Die Stärkung physischer und psychischer Fitness bis hin zu spezifischen Maßnahmen wie Einsatznachbereitungsseminare oder Präventivkuren gehören ebenfalls dazu. In meinem Verantwortungsbereich liegt die Aufgabe, während des Einsatzes auftretende Belastungen über die Kontingente frühzeitig zu erkennen und wenn nötig, Maßnahmen zur Reduzierung oder zur Bewältigung der Belastungen zu veranlassen. Hierfür stehen auch die Truppenpsychologen vor Ort bereit, die gemeinsam mit unseren Ärzten, Militärseelsorgern und dem Sozialdienst der Bundeswehr das Psychosoziale Netzwerk im Einsatz und auch in der Heimat bilden. 

    WM: Die sanitätsdienstliche Versorgung im Einsatz ist neben vielen anderen Elementen von besonderer Bedeutung für die Sicherstellung der Auslandseinsätze. Wie erleben Sie den Sanitätsdienst der Bundeswehr im Einsatz und welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht die Integration mit den anderen Anteilen der Kontingente? 

    Generalleutnant Pfeffer: Die sanitätsdienstliche Versorgung ist ein zentrales Rückgrat im Einsatz. Für mich ist ein Einsatz ohne eine angemessene Rettungskette vor dem Hintergrund der Verantwortung gegenüber den Soldatinnen und Soldaten nicht vorstellbar. Zwar kann eine Rettungskette in verschiedenen Szenarien unterschiedlich ausgeprägt sein, sie ist aber eine Conditio sine qua non für einen Einsatz. Von daher ergibt sich eine ganz zentrale Bedeutung der Fähigkeiten des Sanitätsdienstes. Ich erlebe zum einen ausgesprochen motivierte und engagierte Angehörige des Sanitätsdienstes, die aber gleichzeitig auch noch professionell wie hochqualifiziert sind und die mit Stolz auf ihren Dienst bestens in den Einsatzkontingenten integriert sind. 

    WM: Nahezu alle Auslandseinsätze sind heute multinational geprägt. Welchen Eindruck haben Sie von dem Zusammenspiel deutscher Sanitätskräfte mit ihren multinationalen Counterparts? 

    Generalleutnant Pfeffer: Die multinationale Zusammenarbeit im sanitätsdienstlichen Kontext im Einsatz ist beispielgebend. Ich möchte hier exemplarisch unsere OP-Gruppen erwähnen. Diese unterstützen in verschiedenen Einsätzen die Sanitätseinrichtungen unserer Partner. Umgekehrt stützen wir uns genauso auf die Sanitätseinrichtungen unserer Verbündeten ab, wie beispielsweise auf die französische Role 2 in Gao, oder nutzen deren Unterstützung in eigenen Sanitätseinrichtungen. Multinationalität gehört somit sehr deutlich zum Sanitätsdienst und hat daher sogar eine militärpolitische Ebene, die sich aus meiner Sicht ausgesprochen positiv in der Zusammenarbeit auswirkt. 

    WM: Für frühere Einsätze waren vergleichsweise große Sanitätseinsatzverbände mit Einsatzlazaretten bzw. Role 2 Einrichtungen in den Stützpunkten typisch. Heute spielen Airmedevac und schnellverlegbare kleine chirurgische Versorgungseinrichtungen eine wesentliche Rolle bei der sanitätsdienstlichen Versorgung. Die sanitätsdienstliche Versorgung wird für jeden Einsatz individuell ausgeplant. Ist aus Ihrer Sicht der Sanitätsdienst der Bundeswehr gut auf solche komplexen Aufgaben vorbereitet? In welche Richtung könnten Verbesserungspotentiale gehen? 

    Generalleutnant Pfeffer: Zunächst einmal bin ich der festen Überzeugung, dass der Sanitätsdienst ausgesprochen gut aufgestellt ist und in den Einsätzen hervorragende Leistungen abliefert. In Anbetracht des veränderten sicherheitspolitischen Umfelds darf natürlich die Weiterentwicklung des Sanitätsdienstes, wie aller Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche, nicht vernachlässigt werden. Mein besonderer Blickwinkel gilt im Moment den Fähigkeiten der leichten Verlegbarkeit kleinerer sanitätsdienstlicher Elemente, die auch in umschriebenen militärischen Operationen eine medizinische Mindestbefähigung ermöglichen. Ebenso ist es wichtig, jetzt perspektivisch das entsprechende Augenmerk auf die Entwicklung der Fähigkeiten im Kontext der Landes- und Bündnisverteidigung zu legen. Ich weiß, dass sich der Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr mit ganzer Kraft dieser Aufgabe stellt. 

    WM: Die Einsatzbelastung vieler Soldatinnen und Soldaten ist sehr hoch, so dass in verschiedenen Bereichen der Einsatzkontingente Vakanzen hingenommen werden müssen. Was sollten die Teilstreitkräfte bzw. Organisationsbereiche tun, um die Einsatzbereitschaft der Soldatinnen und Soldaten zu erhöhen? 

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    Generalleutnant Erich Pfeffer (Abb.: Bundeswehr / Marc Tessensohn)
    Generalleutnant Pfeffer: Die Themen „Belastungsreduzierung“ oder „Erhöhung der Einsatzbereitschaft“ erfordern eine ganze Palette von Maßnahmen, darunter auch den Punkt der Stärkung der physischen und psychischen Fitness. Übrigens glaube ich, dass auch eine deutlichere Würdigung von Einsätzen zur Stärkung der Einsatzbereitschaft beitragen kann. Aus meiner Sicht gilt es aber organisatorisch zu gewährleisten, die Einsatzbelastung auf möglichst viele Schultern zu verteilen. Dies betrifft die Bundeswehr insgesamt. Unsere umfassende Planungsgrundlage ermöglicht es grundsätzlich, den Truppenstellern ihr Personal koordiniert, frühzeitig und abgestimmt auf die Einsätze vorzubereiten. Dabei müssen wir in den Einsätzen für gewisse Grundaufgaben überall nationale Fähigkeiten vorhalten, wie zum Beispiel administrative, logistische oder auch sanitätsdienstliche Fachexpertise. Gerade wenn in Einzelfällen zu wenig Fachpersonal zur Verfügung steht, können durchaus bei der Vielzahl der Einsätze – auch durch unvorhergesehene Ereignisse – kurzfristige Vakanzen entstehen. 

    WM: Landes- und Bündnisverteidigung rücken immer weiter in den Vordergrund. Ist das Einsatzführungskommando der Bundeswehr vorbereitet, auch die Führung deutscher Einsatzkontingente im Rahmen Landes- und Bündnisverteidigung national zu führen, so wie wir es von den bisherigen Auslandseinsätzen kennen?

    Generalleutnant Pfeffer: Die Rückbesinnung auf die Verteidigung Deutschlands und seiner Bündnispartner spiegelt sich auch im Einsatzführungskommando wider. Dies geschieht gleichberechtigt neben den Auslandseinsätzen im Rahmen des internationalen Krisenmanagements. Dabei ist uns klar, dass die Einsatzführung in einem Landes- bzw. Bündnisszenario besonders herausgefordert sein wird. Dies betrifft die Komplexität als auch die Dimension der Aufgabe. Dafür haben wir einen eigenen Führungsstab aufgestellt, mit dem wir in der Lage sind, kurzfristig nach Aktivierung eines deutschen Kräftebeitrags tatsächlich ein durchhaltefähiges Führungselement für Planung und Einsatz­führung vorzuhalten. Dieser Führungsstab wurde im Rahmen von Übungen bereits erfolgreich eingesetzt. Wir werden diese ­Fähigkeit in den kommenden Monaten weiter ausbauen und verfeinern. Damit machen wir deutlich, dass wir auch in der Lage sind, im Kontext dieser Even­tualfallplanung tatsächlich zu führen. 

    WM: Zum Abschluss eine persönliche Frage: Verwundung und auch Tod von Soldaten begleitet unsere Einsätze seit jeher. Wie gehen Sie als verantwortlicher Befehlshaber mit solchen Schicksalen um? Und wie rechtfertigt man Opfer in langwierigen Einsätzen mit schwer überschaubaren Fortschritten, die auch noch gesellschaftlich umstritten sind, vor den Angehörigen, aber auch vor sich selbst?

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    Wald der Erinnerung: Teil der Gedenkstätte des OP North aus Afghanistan (Abb.: V. Hartmann)
    Generalleutnant Pfeffer: Das Thema spricht ja genau das Spannungsfeld zwischen Auftragsdurchführung und Risiken an, die dem Einsatz von Streitkräften innewohnen. Der Auftrag von Streitkräften beinhaltet inhärent das Risiko von Tod und Verwundung. Als Befehlshaber des Einsatzführungskommandos stehe ich in engem Kontakt mit unseren Einsatzkontingenten und übernehme somit eine unteilbare Verantwortung für diese. Dieser Verantwortung – und das ist meine ganz klare Erwartungshaltung – haben sich alle Angehörigen dieses Kommandos jeden Tag bewusst zu sein. Unsere Kontingente müssen jederzeit auf unsere Planung und Führung vertrauen können. Bei aller Fürsorge und planerischem Geschick wird jedoch immer ein Restrisiko für Leib und Leben unserer Kameradinnen und Kameraden in den Einsatzgebieten bleiben. Auch wenn es mein Auftrag ist, dieses Risiko so gering wie möglich zu halten, muss ich letztlich jederzeit auch mit dem Schlimmsten rechnen – was leider auch vorkommt. Wenn dann tatsächlich das Risiko Realität geworden ist, im Sinne von Tod oder Verwundung, dann geht es für uns vor allem darum, in würdiger und angemessener Form damit umzugehen. Denn im Einsatz ums Leben gekommene Soldaten haben in besonderer Weise Verantwortung für unsere Gesellschaft übernommen und ihr Engagement für unsere Werte, wie Frieden, Freiheit und Sicherheit, mit ihrem höchsten Gut bezahlt. 

    WM: Herr General, wir bedanken uns herzlich für dieses Interview und die Einblicke, die Sie unseren Leserinnen und Lesern gewähren. 

    Datum: 23.12.2019

    Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 4/2019

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