VON KAMBODSCHA BIS AFGHANISTAN – 20 JAHRE ZAHNÄRTZLICHER DIENST DER BUNDESWEHR IM AUSLANDSEINSATZ
From Cambodia to Afghanistan - 20 Years Dental Service of the German Federal Armed Forces abroad
Aus dem Fachbereich Oralchirurgie der Zahnarztgruppe München im Fachsanitätszentrum München (Leiter: Oberstarzt Dr. R. Süß)
Joachim Häupl
WMM; 57. Jahrgang (Ausgabe 2-3/2013: S. 50-56)
Zusammenfassung
Hintergrund: Seit über 20 Jahren sind Zahnärztinnen und Zahnärzte der Bundeswehr zu Wasser und zu Lande in unterschiedlichsten Einsätzen mit NATO-, EU- oder UN-Mandat im Ausland tätig. Seither wurden die Behandlungskonzepte und -einrichtungen für die Auslandseinsätze kontinuierlich den Gegebenheiten angepasst. Die zahnärztlichen Behandlungseinrichtungen der Bundeswehr im Einsatz befinden sich international auf hohem Niveau und erfreuen sich großer Wertschätzung.
Dabei haben sie häufig das höchste Patientenaufkommen aller Disziplinen innerhalb des Feldlazarettes und sind somit essenzieller Bestandteil der medizinischen Einsatzversorgung. Der Autor war als Zahnarzt und Oralchirurg in zehn Auslandseinsätzen an sieben Standorten weltweit tätig und stellt im vorliegenden Artikel die Entwicklung der zahnärztlichen Versorgung im Einsatz sowie einsatzspezifische Herausforderungen und Besonderheiten fernab der Heimat dar.
Schlussfolgerungen: Die zahnärztliche und traumatologische Einsatzversorgung erfordert einen Paradigmenwechsel im zahnärztlichen Dienst. Die „Combat Readiness“ unserer Soldatinnen und Soldaten bedarf im Unterschied zur zivilen Kassenzahnmedizin einer kompromisslosen Behandlung nach militärzahnärztlichen Kriterien. Die Sanitätsstabsoffiziere Zahnarzt beziehungsweise Oralchirurg der Bundeswehr benötigen im Auslandseinsatz ein deutlich erweitertes Fähigkeitsspektrum wie es die Universitäten bei Weitem nicht anbieten. Darüber hinaus ist die Zahnheilkunde, als material- und geräteabhängiger Fachbereich, überdurchschnittlich logistikabhängig. Gewisse Redundanzen bei Geräteausfall sind notwendig.
Schlagworte: Zahnärztlicher Dienst der Bundeswehr, Einsatzzahnmedizin, Oralchirurgie im Einsatz.
Summary
Background: For the last 20 years German military dentists have been taking part in very many different missions with NATO-, EU- or UN-mandate, by land and sea. Today the dental clinics of the German armed forces in mission are internationally at a high quality level, usually with the biggest number of patients treated in field hospitals. They have internationally gained much respect on every mission and are an essential part of medical care in military hospitals.
The author has worked so far as a dentist and oral surgeon on ten foreign missions in seven locations worldwide. In summary, he points out the developments of the dental services on missions and concentrates on specific challenges and specialties of dental surgery practiced far away from home.
Conclusions: Dental and trauma treatment on missions demands a paradigm shift in dental service. In contrast to civilian dental care, the „combat readiness“ of soldiers requires an uncompromising treatment based on military criteria. The dentists and oral surgeons of the German armed forces working abroad need significantly expanded abilities, by far not offered by universities. Nowadays, dental surgery is heavily dependent on logistics due to extensive materials and devices. Certain redundancies are necessary in case important devices fail.
Keywords: Dental Service of the German armed forces, dental surgery on missions, oral surgery on missions.
Einführung
Nach Gründung der Bundeswehr im Jahr 1955 war der Sanitätsdienst der Bundeswehr grundsätzlich auf nationales Territorium beschränkt. Ausnahmen waren der Marinesanitätsdienst (mit der Bordzahnstation) und die NATO-Einsätze innerhalb der AMF (Allied Command Europe Mobile Force). Hier stand die Sanitätskompanie AMF (2./Sanitätslehrbataillon 851) zur Verfügung und beinhaltete unter anderem einen Zahnarzttrupp (ZahnarztTrp) mit der Feldzahnstation. Diese Kompanie war als Lehr- und Versuchstruppe der Akademie des Sanitäts- und Gesundheitswesens der Bundeswehr unterstellt, nahm an NATO-Übungen teil und unterstützte bei humanitären Einsätzen auch außerhalb des NATO-Gebietes.
Unmittelbar nach der Wiedervereinigung begann eine heftige Debatte über den Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Vertrags. Als Folge der veränderten Sicherheitslage wurde die Bundeswehr nun auch zu friedenserhaltenden und friedenssichernden Maßnahmen außerhalb der Bundesrepublik Deutschland eingesetzt. Die ersten derartigen Einsätze waren 1991 nach dem zweiten Golfkrieg die Operation Südflanke zur Räumung von Minen im Persischen Golf und 1992 die Entsendung eines Feldlazaretts (einschließlich eines ZahnarztTrp/Oralchirurgie) nach Phnom Penh zur humanitären Unterstützung des UN-Einsatzes in Kambodscha. Erst nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 über die Auslandseinsätze der Bundeswehr waren jedoch die Voraussetzungen gegeben, den Sanitätsdienst und damit auch den zahnärztlichen Dienst der Bundeswehr gezielt auf derartige Aufgaben auszurichten. Zu den friedenserhaltenden und friedenssichernden Einsätzen kam infolge des Anschlags vom 11. September 2001 die Terrorbekämpfung hinzu.
Als Folge dieser politischen Veränderungen sind Angehörige des zahnärztlichen Dienstes der Bundeswehr seit über 20 Jahren regelmäßig weltweit im Einsatz:
- 1990 Iran Erdbebenhilfe,
- 1991 Kurdenhilfe Iran,
- 1992 - 1993 UNTAC Kambodscha (Phnom Penh),
- 1993 - 1994 UNOSOM Somalia (Beletuen),
- 1995 - 1996 IFOR Kroatien (Trogir),
- 1997 - 2008 SFOR/EUFOR Bosnien (Railovac),
- seit 1999 KFOR Kosovo (Prizren),
- 1999 - 2002 KVM/TFF Mazedonien (Tetovo),
- 2002 - 2010 OEF Horn von Afrika (Marine/Einsatzgruppenversorger),
- 2002 - 2007 ISAF Afghanistan (Kabul),
- seit 2003 ISAF Afghanistan (Kunduz),
- 2004 - 2012 ISAF Afghanistan (Feyzabad),
- seit 2007 ISAF Afghanistan (Mazar e Sharif),
- seit 2008 ATALANTA Horn von Afrika (Marine/Fregatte).
Da die Zahl der Sanitätsstabsoffiziere (SanStOffz) Oralchirurg in der Bundeswehr limitiert ist, werden sie vor allem dann eingesetzt, wenn mit erhöhtem Versorgungsbedarf an Mund-, Kiefer- und Gesichtsverletzungen zu rechnen ist, in der Regel während der „heißen Phase“ zu Beginn eines Einsatzes. Neben dem zahnärztlichen Tagesgeschäft stellen sie, zusammen mit den anderen chirurgischen Fächern, die Erstversorgung und Transportfähigkeit von Kopfverletzten sicher. Je nach Auftragslage erfolgt in ausgewählten Fällen eine operative Behandlung Einheimischer. Eine definitive chirurgische Versorgung deutscher und verbündeter Soldaten findet nur statt, wenn es medizinisch sinnvoll und möglich ist. Regelmäßig erfolgt aber unmittelbar nach der chirurgischen Intervention die Repatriierung ins Heimatland zur weiteren, definitiven Versorgung im Kopfzentrum eines Bundeswehrkrankenhauses. Derzeit ist die Oralchirurgie in Mazar-e-Sharif durchgehend vertreten, die anderen Einsatzorte werden durch SanStOffz Zahnarzt versorgt. Ihre Auswahl erfolgt nach deren Berufserfahrung im Hinblick auf das zu erwartende Behandlungsprofil im Einsatzland.
Einsätze
UNTAC … und wie alles begann (1992 – 93)
45 Bundeswehrsanitätssoldaten mit hellblauem UN-Barrett betreten zum ersten Mal den Boden Kambodschas. Sie sind Teil einer 140 Mann starken Sanitätstruppe, die in diesem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land ein Lazarett der United Nations Transitional Authority in Cambodia betreiben soll. Deutschlands Beteiligung an der UN-Mission war erst wenige Wochen vorher vom Bundestag beschlossen worden. Damit blieb allen Beteiligten nur wenig Vorbereitungszeit. 32 deutsche Sanitätsstabsoffiziere aller Fachrichtungen darunter ein Fachzahnarzt für Oralchirurgie sollten nun in einem Entwicklungsland, in dem nur 50 Ärzte, ein Apotheker und ein Zahnarzt das Pol Pot-Regime überlebt hatten, humanitäre Hilfe leisten. Durch den Ausfall von mehr als der Hälfte der seitens der UN gecharterten Aeroflot-Maschinen kam unser Material wie auch sämtliches persönliches Gepäck erst ein bis zwei Wochen nach uns an.
Wenige Tage nach Ankunft der letzten Kisten waren wir einsatzbereit (Abb. 1). Die mitgelieferte Feldzahnstation gab Grund zum Schmunzeln: Im Kieferchirurgie-Kasten fanden wir beispielsweise Glasampullenspritzen, schärfbare Skalpelle mit Schleifstein sowie wiederverwendbare Nadeln und auf manchen Instrumenten war noch der Reichsadler der Wehrmacht zu sehen! Glücklicherweise hatten wir zusätzlich zur Feldzahnstation den bereits im Iran erprobten Bush Ranger-Behandlungsstuhl dabei. Er war wesentlich besser zu handhaben als der in die Jahre gekommene Feldbehandlungsstuhl, der bei großen Patienten mitunter rückwärts umfiel.
Der ursprüngliche Auftrag, 140 Angehörige der Sanitätstruppe und 80 Beamte des Bundesgrenzschutzes (BGS) zahnärztlich zu versorgen, wurde sofort nach unserer Ankunft von der UN revidiert. Es stellte sich heraus, dass in Phnom Penh und Umgebung mehrere Tausend UN-Angehörige ohne Zahnarzt waren. Zwar waren 16 weitere UN-Zahnärzte über Kambodscha verteilt, doch aufgrund lokaler Gegebenheiten und des sehr unterschiedlichen Qualitätsstandards betreuten wir letztendlich mehr als ein Drittel der 22 000 Mann starken UN-Truppe.
Ohne einen Augenarzt und HNO-Arzt waren wir die ersten Monate landesweit für jegliche Erkrankungen und Verletzungen im Mund-Kiefer-Gesichtsbereich zuständig. Die Zahl der Patienten stieg rasch an. Auch an den Wochenenden wurde durchbehandelt. An Tagen, an denen zusätzlich zur zahnärztlichen Versorgung Patienten mit schweren Kopfverletzungen eingeliefert wurden, blieb kaum Zeit zum Schlafen. Behandlungszeiten von über 100 Stunden pro Woche waren nicht selten. Pro Monat wurden mehr als 400 Patienten behandelt. Deshalb verstärkte uns nach zwei Monaten ein Truppenzahnarzt mit Assistenz.
Es dominierte die konservierend-chirurgische Behandlung. Bedingt durch den teils miserablen Zahnzustand unserer Patienten mussten viele Zähne extrahiert werden. Bei Behandlungen von Einheimischen ohne UN-Status beschränkten wir uns ressourcenbedingt meist auf jene mit lebensbedrohlichen Erkrankungen oder Verletzungen. Hier gab es zwischenzeitlich äußerst kritische Interferenzen mit der UN, die anfänglich die Behandlung von Einheimischen nicht duldeten. Erst nachdem Deutschland die Behandlungskosten für diese Patienten übernahm und das „Haus der Engel“ (so bezeichneten die Kambodschaner inzwischen unser UN-Lazarett) allerhöchstes Ansehen gewonnen hatte, wurde uns diese humanitäre Hilfe gestattet, trug sie doch entscheidend zu einem positiven Image der UN bei. Monatlich wurden durchschnittlich 70 chirurgische Eingriffe durchgeführt, davon circa zehn größere Eingriffe in Intubationsnarkose im OP-Container. Hier dominierten Gesichtsschädelverletzungen durch Verkehrsunfälle und Minenverletzungen mit Operationszeiten von bis zu 10 Stunden (Abb. 2).
UNOSOM Somalia (1993 – 94)
Gerüstet mit den Erfahrungen aus Kambodscha beschloss man, in Somalia einen Doppelcontainer mit zuhause nicht mehr benötigten Behandlungsschränken sowie einem neuen Busch Ranger-Stuhl auszurüsten. Größtes Problem war anfänglich die Staubbelastung, welche die Dichtungen der Hand- und Winkelstücke angriff und ein Bohren innerhalb kürzester Zeit unmöglich machte. Mit dem Anschluss an eine Klimaanlage und dem Montieren von Staubfiltern konnte dieses Problem gelöst werden.
IFOR Kroatien (1995 – 96)
Entgegen ursprünglich anders lautender Statements entschied der Deutsche Bundestag kurzfristig die Teilnahme der Bundeswehr an der Friedensmission in Ex-Jugoslawien. Es war Eile geboten, und man beschloss kurzerhand, den UNOSOM-Container nach Trogir in Kroatien zu verschiffen (Abb. 3). Jetzt war zum ersten Mal ein größeres deutsches Kontingent mit circa
2 600 Soldatinnen und Soldaten zu versorgen. Man behielt die in Kambodscha bewährte Personalstruktur (Zahnarzt und Oralchirurg mit Assistenzpersonal bei). Auch hier lag der Schwerpunkt der Behandlung in der konservierenden Zahnheilkunde.
Schwachpunkt des Containers war vor allem im Winter die kritische hygienische Situation, bedingt durch die schlechte Belüftung, die Enge und den nun höheren Patientendurchlauf. Das zahnärztliche Personal kämpfte regelmäßig mit Erkältungen und Lungenerkrankungen, die wir erst nach Umbauten am Container in den Griff bekamen. Eine große Herausforderung war im Frühjahr 1997 der Umzug nach Bosnien.
SFOR Bosnien (1997 – 2008)
Nach den Erfahrungen von IFOR betrat man nun einen anderen Weg und installierte die Ausstattung des UNOSOM-Containers in einem festen Gebäude. Inzwischen steigerte sich das Behandlungsspektrum deutlich: Es wurden durchschnittlich pro Monat circa 500 Patientenbehandlungen durchgeführt und mehr als 30 Nationen betreut (Tab. 1). Das chirurgische Spektrum beschränkte sich auf entzündliche Erkrankungen (Abb. 4), Traumata wurden kaum behandelt. Sowohl die Inzidenz als auch die Schwere der Erkrankungen nahmen während der einzelnen Einsatzkontingente zu (Abb. 5).
Am deutlichsten fällt dies bei der Betrachtung der durchgeführten operativen Eingriffe sowie der akuten Parodontopathie (PAR)-Fälle im Kontingentverlauf auf (Abb. 6). Ähnliches konnte auch bei späteren Einsätzen immer wieder beobachtet werden.
Die beiden Bush Ranger-Behandlungsstühle waren zwar robust, aber nicht für jahrelangen Dauereinsatz konzipiert und inzwischen wöchentlich defekt. Da diese Einheiten einfach aufgebaut waren, gelang es unseren Medizintechnikern meist, sie kurzfristig zu reparieren. Hier war häufig Improvisationsgeschick gefragt. Die Ausfälle waren aber letztendlich nicht mehr tolerabel. Deshalb änderte man die Konzeption und wechselte nach den notwendigen Umbaumaßnahmen zu handelsüblichen zahnärztlichen Behandlungsstühlen, die für Dauerbelastungen ausgelegt waren. Nun wurde zum ersten Mal eine mit zuhause vergleichbare Behandlung ermöglicht. Für unsere schmerzgeplagten Patientinnen und Patienten verkürzten sich nicht nur die Behandlungszeiten, es war für sie auch in psychologischer Hinsicht eine große Erleichterung.
KFOR Kosovo (seit 1999)
Im Kosovo kamen erstmals die neuen Container der Modularen Sanitäts-Einheiten (MSE) zum Einsatz. Im Einfachcontainer befanden sich ein kleines Zahnlabor, die Hygienezeile und das zahnärztliche Röntgen einschließlich Panoramaschichtaufnahme (PSA). Der Behandlungscontainer war ein ausziehbarer Doppelcontainer, in dem auch kleinere chirurgische Eingriffe ohne weiteres durchführbar waren (Abb. 7). Die niedrige Bauhöhe erschwerte zuweilen die Handhabung der Behandlungsleuchte, ansonsten handelt es sich um ein ausgeklügeltes System.
Der MSE-Behandlungscontainer ist eine äußerst komplexe Einheit. Die einzelnen Komponenten lassen sich teilweise nur sehr schwierig austauschen und Ersatzteile sind auch nur im Ausnahmefall im Einsatzland vorrätig. Dies erfordert dringend eine Redundanz der wichtigsten Komponenten. Ein durchschnittlicher täglicher Patientendurchsatz von über 20 Patienten ist ohne zweiten Behandlungsplatz unter Einsatzbedingungen auf Dauer ohnehin grenzwertig. 2007 zog die zahnärztliche/oralchirurgische Versorgung in das neu erbaute Einsatzlazarett um. Hier sind, wie schon vorher in Bosnien, handelsübliche Zahnbehandlungsstühle eingebaut, auf denen auch heute noch zwischen 20 und 30 Patienten täglich behandelt werden.
In Prizren häuften sich zum ersten Mal deutsche Patienten mit zerstörten Gebissen. Mit einem jeweiligen Behandlungsaufwand von bis zu 100 Stunden sprengten diese jedoch die Kapazität der zahnmedizinischen Einsatzversorgung und mussten repatriiert werden. Laut Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Zahn- Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) gelten 20 % der bundesdeutschen Bevölkerung, was Zahnbehandlungen anbelangt, als hoch ängstlich. Fünf Prozent verzichten grundsätzlich auf Zahnarztbesuche, da sie unter einer Zahnbehandlungsphobie (ICD 10, 40.2) leiden. Es bestand deshalb die dringende Notwendigkeit für ein System, welches sicherstellte, dass möglichst jede Soldatin beziehungsweise jeder Soldat mit einem weitgehend sanierten Gebiss in den Einsatz geht.
Die logische Konsequenz war die Einführung der Dental Fitness Classification (DFC) und die Sicherstellung einer rechtzeitigen Vorstellung der Soldaten vor dem Einsatz bei ihrem Truppenzahnarzt. Deutschland hat 2008 das NATO Standardisation Agreement (STANAG) 2466 – „Dental Fitness Standards and Classification System” – , ratifiziert und in den Streitkräften implementiert. Im Einsatz zeigt sich leider immer wieder, dass der Umsetzungsgrad bei den anderen Nationen weit differiert [1].
KVM/TFF Mazedonien (1999 – 2002)
In Mazedonien kam erstmals der 1:1-MSE-Zahnarzt-Container zum Einsatz. In Tetovo wurden etwa 1 500 Soldatinnen und Soldaten zahnärztlich betreut. Die oralchirurgischen Behandlungen wurden in Prizren durchgeführt. Der 1:1-MSE-Container ist vergleichsweise eng und kommt mit 10 bis 15 Behandlungen pro Tag an seine Grenzen (Abb. 8). Die MSE-Container sind nicht gehärtet, was eine Behandlung unter Beschuss, wie er im Frühjahr 2002 durch die albanische UCK erfolgte, unmöglich machte.
OEF Horn von Afrika (2002 – 10)
Die Marinepräsenz am Horn von Afrika war Teil der Terrorismusbekämpfung und wurde durch einen Sanitätsstabsoffizier Zahnarzt mit oder ohne oralchirurgische Qualifikation auf dem Einsatzgruppenversorger unterstützt. Dort ist innerhalb des Marine-Rettungszentrums ein 1:1-MSE-Container mit zahnärztlicher und oralchirurgischer Ausstattung verfügbar. Da sich die zahnärztlichen Notfälle an Bord täglich eher im einstelligen Bereich bewegen, ist die Enge des Einzelcontainers akzeptabel.
ATALANTA Horn von Afrika (seit 2008)
Noch enger geht es auf den Fregatten zu, die die Seewege vor Afrika überwachen. Hier teilen sich der SanStOffz Zahnarzt und Arzt einen kleinen Behandlungsraum, der jeweils umgebaut werden muss (Abb. 9). Die Zahnbehandlung ist hier definitiv eine Notbehandlung, die aufgrund der Gegebenheiten wesentlich zeitintensiver ist und insbesondere bei Seegang für das Behandlungsteam zur Herausforderung werden kann.
ISAF Afghanistan, Kabul (2002 – 07)
Da anfangs die Dauer des Einsatzes nicht absehbar war, stattete man die Fachuntersuchung-Stellen (FUSt) des Feldlazaretts im Camp Warehouse mit MSE-Containern aus. Der Zahnmedizin standen zwei Doppel-Behandlungscontainer und ein Röntgen- und Laborcontainer zur Verfügung. Der zweite Behandlungs-Container war im Nachhinein essenziell, da des Öfteren einzelne Gerätschaften ausfielen, deren Ersatz oder Reparatur nachschubbedingt mitunter Wochen dauerte.
Die Zusammenarbeit mit den zahlreichen anderen Nationen gestaltete sich grundsätzlich unproblematisch. Allerdings bestanden wie auch schon in den Einsätzen zuvor häufig Sprachprobleme. Außerhalb des Headquarters sprachen viele unserer Patienten weder englisch noch deutsch oder französisch. Die Fremdsprachenkenntnisse der mitgebrachten Dolmetscher waren häufig ebenfalls nur rudimentär.
Zeitweise wurde die dortige Oralchirurgie durch einen weiteren SanStOffz Zahnarzt verstärkt. War der SanStOffz Oralchirurg jedoch allein für die Behandlung zuständig, dann wurde er mitunter durch die zusätzlich zu versorgenden Kopfverletzungen, Übungen oder Raketenbeschuss grenzwertig belastet. Wie die Tabelle 2 zeigt, wurden neben zeitaufwendigeren Gesichtsverletzungen im chirurgischen OP täglich an sieben Tagen pro Woche im Durchschnitt 15 zahnärztliche Behandlungen durchgeführt.
ISAF Afghanistan, Kunduz (seit 2003)
Nachdem sich in der Umgebung von Kunduz die militärische Situation in den letzten Jahren verschärft hatte, wurde das dortige Lager immer weiter ausgebaut und personell verstärkt. Somit erhöhte sich der Betreuungsumfang der dortigen SanStOffz Zahnarzt kontinuierlich. Wenn „Not am Mann“ ist, wird der Sanitätsstabsoffizier Zahnarzt auch im Schockraum eingesetzt oder beteiligt sich bei der Versorgung von Gesichtsverletzungen. Im gut ausgestatteten Zahnarzttrupp mit handelsüblichem Zahnarztstuhl werden grundsätzlich erfahrene SanStOffz Zahnarzt eingesetzt.
ISAF Afghanistan, Feyzabad (2004 – 2012)
Der östlichste Zahnarzttrupp im RC North betreute circa 500 Soldatinnen und Soldaten und wurde im Rahmen des Truppenabzugs inzwischen geschlossen. Da der Behandlungsbedarf bei etwa drei bis fünf Patienten pro Tag lag, konnte auf eine voll ausgestattete zahnärztliche Behandlungseinrichtung verzichtet werden. Die Ausstattung bestand aus einer OP-Leuchte und der Bordzahnstation „Amadeus“ ähnlich wie bei Seefahrten der Marine. Behandelt wurde auf einem OP-Tisch.
ISAF (Mazar-e-Sharif, seit 2007)
Mit Schließung des deutschen Feldlazaretts in Kabul verlegte man 2007 nach Mazar-e-Sharif. Da die Behandlungscontainer nach fünf Jahren Dauereinsatz in Kabul grundüberholt werden mussten, entschied man sich, das Feldlazarett einschließlich der zahnärztlich-oralchirurgischen Fachuntersuchungs (FU) stelle in gehärteten Fertigbauten aufzubauen. Diese Lösung ist langfristig nicht nur kostengünstiger, sondern erhöht auch den Patientendurchsatz und Behandlungskomfort. Die Schmutzproblematik der Container-Zelt-Variante kommt hier nicht mehr zum Tragen. Mit acht klimatisierten Funktionszimmern ist die Abteilung Zahnheilkunde die größte FU-Stelle im Camp Marmal. In den beiden großzügigen Behandlungsräumen können auch größere Eingriffe in Anästhesie-Standby und Sedierung durchgeführt werden (Abb. 11).
Die Behandlungszimmer besitzen eine zahnärztliche und oralchirurgische Komplett-Ausstattung, die alle notwendigen Therapien ermöglicht. Das digitale Zahnröntgen und Panoramaschichtgerät in Verbindung mit dem Computertomographen (CT) der Röntgenabteilung ermöglichen eine perfekte Röntgendiagnostik.
Problemzonen der Vergangenheit, wie Stuhlausfall durch wasserbedingte Korrosion der Behandlungseinheiten, Ausfall von Kompressor oder Absaugung etc. und daraus resultierende Reparaturzeiten von teils mehreren Wochen (Ersatzteilbeschaffung) konnten durch die zwei identischen und unabhängig voneinander ausgestatteten Behandlungszimmer mit entsprechender Flexibilität aufgefangen werden. Da der zahnärztliche Betreuungsumfang in Mazar-e-Sharif vergleichsweise hoch ist und von hier aus Nordafghanistan oralchirurgisch (einschließlich Mund-Kiefer-Gesichtsverletzungen) versorgt wird, unterstützt uns zukünftig ein belgischer Zahnarzttrupp.
Diskussion
Ausstattung
Begannen wir den ersten Auslandseinsatz noch mit archaischer Ausrüstung, so gelang dem zahnärztlichen Dienst der Bundeswehr in knapp 15 Jahren ein Quantensprung bei der Konzeption und Qualität der Einsatzausstattung. Unsere Ausrüstung muss auch zukünftig flexibel an die Anforderungen des jeweiligen Einsatzes angepasst werden. Dies richtet sich in erster Linie nach der Anzahl der zu behandelnden Patientinnen und Patienten, der Dauer des Einsatzes, den klimatischen Bedingungen und vor allem nach den Möglichkeiten der Instandsetzung und Sanitätsmaterial-Versorgung.
Das Spektrum reicht von der vergleichsweise einfachen Marinebordausstattung bei geringem Patientenaufkommen bis zur voll ausgestatteten zahnärztlich/oralchirurgischen Abteilung mit dauerbelastbaren Behandlungsstühlen. Bei unverzichtbarem Gerät sollte vor Ort Ersatz zur Verfügung stehen. Unter Umständen kann es sinnvoll sein, einfacheren Geräten, die mit Bordmitteln reparabel sind, den Vorzug zu geben und dafür längere Behandlungszeiten in Kauf zu nehmen, zum Beispiel Luftmotoren anstatt Mikromotoren. Bei schwierigen klimatischen Bedingungen und Staubbelastung hat sich die Behandlung in abgeschlossenen und klimatisierten Räumen bewährt, da andernfalls der Geräteausfall oft unvermeidlich ist. Eine regelmäßige Wartung des zahnärztlichen Geräts ist im Ausland noch wichtiger als zuhause. Eine korrekte zahnärztliche Behandlung ist sehr materialintensiv und lässt sich leider nicht auf weniges Verbrauchsmaterial reduzieren. Die Zahnmedizin ist deshalb auf eine gute Logistik und ausreichende Lagerhaltung angewiesen, denn der Materialverbrauch ist nicht immer abschätzbar, sondern wird letztendlich durch unsere Patientinnen und Patienten gesteuert.
Behandlungsspektrum und Patientenschaft
Die Vergangenheit zeigt, dass die Betreuungszahlen im Einsatz oftmals höher sind als ursprünglich geplant. Die Belastung des einzelnen Zahnarzttrupps ist aber vor allem auch vom Sanierungsgrad der zu betreuenden Truppe abhängig. Dank der DFC und der dem Einsatz vorgeschalteten Behandlung nach militärzahnärztlichen Kriterien hat sich der Zahnzustand der deutschen Soldaten im Einsatz inzwischen erheblich gebessert. Meist werden aber gemäß Befehl der Führung im Einsatzland zu etwa 50 % andere Nationen mitbehandelt, deren Zahnzustand katastrophal sein kann. In vielen Ländern hat sich das STANAG 2466 noch nicht durchgesetzt. Die teils vorhandene Sprach- und Infektionsproblematik erfordert erhebliche Zeitzuschläge. Insbesondere die Behandlung der einheimischen Bevölkerung ist deshalb mitunter kritisch zu sehen und auf ein militärisch sinnvolles Minimum zu reduzieren (Force Protection).
Dem Paradigmenwechsel vom herausnehmbaren zum festsitzenden Zahnersatz ist es zu verdanken, dass der Zahntechniker für den Auslandseinsatz nicht mehr obligat ist. Die Problematik mit defektem oder verlorenem Zahnersatz, im Einsatz oft kaum oder nur sehr zeitaufwendig lösbar, ist heute in den Hintergrund getreten.
Therapeutische Besonderheiten
Je nach Einsatzort, Art und Charakter des Einsatzes und den beteiligten Nationen werden die SanStOffz Zahnarzt häufig mit unbekannten Schleimhautbefunden und reduzierter Immunabwehr ihrer Patienten konfrontiert. Da diese oftmals erst nach Tagen den Weg in die zahnärztliche Ambulanz finden, dominieren häufig ausgeprägte Beschwerdebilder, wie man sie von zuhause nicht gewöhnt ist. Die zunehmende Einsatzdauer lässt langjährige chronische Entzündungsherde im Mund-Kiefer-Gesichtsbereich häufig akut werden. Abszesse und akute PAR-Erkrankungen steigen überproportional. Proportional zur Stressbelastung treten vermehrt schwere Myoarthropathien auf.
Bei Minen- und Munitionsverletzungen müssen die Wunden intensiv gesäubert und von Fremdkörpern befreit werden (Abb. 12). Es genügt völlig, nur eindeutig nekrotisches Gewebe abzutragen. Ein Ausschneiden der Wundränder, wie in anderen Bereichen des Körpers üblich, ist im Gesicht dank der äußerst guten Durchblutung kontraindiziert.
Personal
Unsere Sanitätsstabsoffiziere Zahnarzt im Einsatz haben meist keine Möglichkeiten, schwierige Fälle zu Fachzahnärzten oder Kieferchirurgen zu überweisen. Gleichzeitig ist die Inzidenz schwieriger Fälle im Einsatz aber deutlich höher. Nach Bedarf muss der SanStOffz Zahnarzt die Allgemeinchirurgie bei Kopfverletzungen unterstützen. Deshalb sollte er in den Disziplinen zahnärztliche Chirurgie, Oralchirurgie, Parodontologie, Endodontologie, Funktionstherapie und Notfallmedizin zusätzlich fortgebildet sein, da die universitäre Ausbildung das zahnärztliche Fähigkeitsspektrum im Einsatz bei weitem nicht ausfüllt.
Die Oralchirurgie benötigt für den Einsatz, zusätzlich zu den im Weiterbildungskatalog definierten Fähigkeiten, eine profunde traumatologische Ausbildung nach militärärztlichen Kriterien, wie sie am besten in den bundeswehrinternen MKG-Abteilungen vermittelt werden können.
Beim Assistenzpersonal ist darauf zu achten, dass es auch aktuell kurativ im Fachbereich tätig ist. Im Einsatz zeigt es sich immer wieder, dass Personal mit entsprechender Ausbildung in den Einsatz geht, aber seit vielen Jahren nicht mehr am Behandlungsstuhl gearbeitet hat. Sehr vorteilhaft sind eingespielte Teams (SanStOffz Zahnarzt oder Oralchirurg plus Assistenz), die gemeinsam in den Einsatz gehen. Verfahrensbedingt ist dies in der Realität leider selten umsetzbar.
Meist sind die Zahnarztteams sieben Tage pro Woche im Dauereinsatz. Teilweise kommt es zu Wochenbelastungen von über 100 Stunden. Dies führt je nach Patientenbelastung trotz Splittings häufig zur physischen und psychischen Erschöpfung von zahnärztlichem Personal, vor allem zu Wirbelsäulenproblemen (Abb. 13). Infektiöse Erkrankungen wie Gastroenteritiden und Erkrankungen des Atemtrakts sind bei zahnärztlichem Personal im Einsatz vergleichsweise häufig. Eine gewisse personelle Redundanz ist deshalb vor allem bei größerem Behandlungsbedarf sinnvoll und erlaubt eine Aufrechterhaltung der Patientenbehandlung auch bei Personalausfall.
Schlussfolgerungen
Während der Iraqi Freedom II-Operation erlitten 39 % der traumatisierten US-Soldaten Kopf-Hals-Verletzungen. Zwei Drittel dieser Verletzungen betrafen das Gesicht. Häufigste Ursache waren IED’s (Improvised Explosive Devices) [2]. Ähnliche Tendenzen werden auch bei deutschen Einsätzen beobachtet. Für die SanStOffz Zahnarzt und Oralchirurg der Bundeswehr sind deshalb die einsatznahe Ausbildung im Bereich Kopfchirurgie sowie zusätzliche Ausbildungen in der Erkennung von Mundschleimhauterkrankungen, Diagnostik seltener Erkrankungen im Mund-Kiefer-Gesichtsbereich, Notfallmedizin, Endodontie, PAR und funktionsanalytische Leistungen (FAL) notwendig. Bei der Personalauswahl für den Einsatz müssen das zu erwartende Behandlungsspektrum und die Fähigkeiten des Personals aufeinander abgestimmt werden. Ziel ist das Inmarschsetzen eingespielter Teams, die in alle im Einsatz befindlichen Geräte eingewiesen sind.
Der Umfang der Einsatzausstattung muss weiterhin flexibel an die Einsatzszenarien angepasst und nach den Kriterien Anfälligkeit, Reparaturfähigkeit vor Ort und Dauerbelastbarkeit überprüft werden. Redundanzen bei Material und Personal sind erforderlich. Der festsitzende Zahnersatz als Regelversorgung hat sich im Einsatz bewährt.
Literatur
- Hemme C: Die Arbeit des NATO COMEDS Dental Service Expert Panel. Wehrmedizin Wehrpharmazie 2010; 34 (2): 65 – 68.
- Wade A, Dye J et al.: Head, face, and neck injuries during Operation Iraqi Freedom II: results from the US Navy-Marine Corps Combat Trauma Registry. J. Trauma 2007 63(4): 836 – 840.
Bildquelle:
Foto 1 – 4, 7, 8, 10 – 13: Bildarchiv von Oberfeldarzt Dr. Häupl
Foto 9: Oberstabsarzt Jana Hintz, ZahnarztGrp MÜNCHEN
Datum: 02.04.2013
Quelle:
Wehrmedizinische Monatsschrift 2013/2-3
Wehrmedizinische Monatsschrift 2013/2-3