Armee im Kalten Krieg – Armee der Einheit – Armee im Einsatz
25 Jahre Deutsche Einheit und der Sanitätsdienst
Fast auf den Tag genau vor 25 Jahren, mit Wirkung zum 3. Oktober 1990, erfolgte auf der Grundlage des „Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag)“ durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland die deutsche Wiedervereinigung.
Fast auf den Tag genau vor 25 Jahren, mit Wirkung zum 3. Oktober 1990, erfolgte auf der Grundlage des „Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag)“ durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland die deutsche Wiedervereinigung. Dies hatte, ebenso wie die Veränderung der weltpolitischen Lage, deutliche Auswirkungen für die Außen- und Sicherheitspolitik der neuen, um fünf Bundesländer erweiterten Bundesrepublik Deutschland und damit auch auf die Bundeswehr und den Sanitätsdienst. Im folgenden Essay wird versucht, einige Aspekte zu beleuchten, die das innere Gefüge und das Selbstverständnis des Sanitätsdienstes betreffen und auch für künftige Wertediskussionen von Bedeutung sein können.
Das weltweite sicherheits- und verteidigungspolitische Szenario war seit den Nachkriegsjahren bis zur 1989 beginnenden Erosion und zum schlussendlichen Zusammenbruch des Ostblocks vom Kalten Krieg geprägt. Dabei standen sich die beiden großen sicherheitspolitischen und militärischen Bündnissysteme NATO und Warschauer Pakt mit ihrem Droh- und Abschreckungspotenzial gegenüber. Zahlreiche Stellvertreterkriege wie auch der Rüstungswettlauf zwischen Ost und West mit den damit einhergehenden politischen Krisen zeigten den Menschen allerdings die Fragilität und Anfälligkeit dieses Konstrukts.
Besonders schmerzlich kam dies an der knapp 1400 km langen innerdeutschen Grenze zum Ausdruck, an der sich seit der Gründung der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee (NVA) Mitte der 1950er Jahre deutsche Soldaten aus Ost und West gegenüberstanden und für den Fall des Versagens eines zerbrechlichen Abschreckungsgleichgewichtes der beiden Blöcke damit zu rechnen hatten, aufeinander schießen zu müssen.
Aus Feinden werden Kameraden
Mit der Wiedervereinigung änderte sich die Lage und aus den ehemaligen Feinden wurden per Gesetz Kameraden: Im Einigungsvertrag vom 31. August 1990 waren auch die „Rechtsverhältnisse der Soldaten der ehemaligen Nationalen Volksarmee“ geregelt, wonach es in § 1 der Bestimmungen einführend hieß: „Die Soldaten der ehemaligen Nationalen Volksarmee sind mit dem Wirksamwerden des Beitritts Soldaten der Bundeswehr“. – So einfach, wie es in dieser Formulierung erscheinen mag, waren die Verhältnisse freilich nicht. Die detaillierten Regelungen in den folgenden Paragraphen bedeuteten für viele Angehörige der NVA das Ende ihrer bisherigen beruflichen Laufbahn und persönliche Umwälzungen, für andere einen Neuanfang in der Armee des ehemaligen Klassenfeindes, oftmals unter Herabstufung des Dienstgrades aus der NVA. Es liegt auf der Hand, dass hiermit vielfache und unterschiedlichste Sinnfragen verbunden waren, wie auch bei manchen Ostdeutschen das Gefühl entstand, aus der deutschen Einheit als Verlierer hervorgegangen zu sein.
Dennoch, bei allen Problemen, die zu lösen waren, gilt gerade der Vereinigungsprozess innerhalb der Bundeswehr als beispielhaft und vorbildlich, auch für andere gesellschaftliche Bereiche. So stellte Frau Generalstabsarzt Dr. Erika Franke (seinerzeit Generalarzt) in einem Beitrag zum zwanzigjährigen Jubiläum der Deutschen Einheit 2010 unter anderem resümierend fest:
„Die Art, wie es die Bundeswehr verstand, das Zusammenwachsen von Ost und West zu fördern, muss retrospektiv als vorbildlich betrachtet werden. Damit hat die ‚Armee der Einheit‘ eine wichtige Funktion als Vorreiter für andere gesellschaftliche Institutionen übernommen.“ (Wehrmedizin und Wehrpharmazie, H. 1/2010, S. 52).
Ausschlaggebend hierfür war sicherlich eine multikausale Gemengelage: So kam es beispielsweise durch die Ableistung des Wehrdienstes zu starken Durchmischungen von Wehrpflichtigen aus Ost und West, ähnliches gilt für Versetzungen von Zeit- und Berufssoldaten im Zuge des Umbaus der Bundeswehr und deren Aufbau in den neuen Bundesländern. Soldaten und Zivilbeschäftigte unterschiedlicher Provenienz hatten die Möglichkeit – und waren im militärischen Alltag (der oftmals lokale Veränderungen mit sich brachte) auch dazu gezwungen –, sich mit ihrem Umfeld, ihrer Geschichte und ihren Kameraden auseinanderzusetzen.
Ein weiterer, ganz zentraler Grund liegt meines Erachtens darin, dass alle Soldaten unabhängig von ihrer Herkunft eine große gemeinsame Aufgabe zu bewältigen hatten – die massive Reduzierung der deutschen Streitkräfte bei einem gleichzeitigen Zuwachs an Aufgaben und Fähigkeiten.
Am 12. September 1990 wurde in Moskau der sogenannte „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ („Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“) zwischen den beiden deutschen Staaten sowie den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges – also Frankreich, Großbritannien und Nordirland, der Sowjetunion und den USA – unterzeichnet, auf dessen Grundlage die deutsche Wiedervereinigung erst möglich wurde und der unter anderem die staatliche Souveränität Deutschlands herstellte.Ein wesentlicher Punkt dieses Regelungsvertrags bestand in der deutschen Zusage, die Personalstärke der Streitkräfte im vereinten Deutschland innerhalb weniger Jahre auf 370 000 Mann zu reduzieren (siehe Abb. 1). Ausgehend von den ca. 495 000 Soldaten der Bundeswehr und den zur Zeit des Beitritts der DDR immerhin noch etwa 90 000 Soldaten der NVA bedingte dies eine Reduzierung des Umfangs um mehr als ein Drittel. Hinzu kamen Umstrukturierungen und Reduzierungen im Bereich der Zivilbeschäftigten, Schließungen von Dienststellen und Standorten, gewaltige Anstrengungen in der Materialbewirtschaftung und vieles mehr. Einen Höhepunkt in diesen Strukturveränderungen – wie auch in der Geschichte des deutschen Militärsanitätswesens – stellte zu Beginn des neuen Jahrhunderts zweifelsfrei die Aufstellung des eigenständigen Organisationsbereiches Zentraler Sanitätsdienst der Bundeswehr dar.
Weitere Strukturreformen und Reduzierungen bis zur heutigen Truppenstärke von rund 180 000 Soldatinnen und Soldaten sollten während der folgenden zwei Jahrzehnte, schließlich gar unter Aussetzung der Wehrpflicht im Juli 2011, in mehreren Stufen folgen.
Für den Sanitätsdienst bedeutete und bedeutet dies auch heute noch eine größere Herausforderung als für viele andere Truppengattungen und Organisationsbereiche, da selbstredend die Realversorgung der Soldaten in den Standorten und in den Einsätzen auch während gravierender Umstrukturierungsmaßnahmen nicht ausgesetzt werden konnte. Zudem belasteten die Einsatzszenarien gerade in den Anfangsjahren des internationalen Engagements der Bundeswehr den Sanitätsdienst in besonders hohem Maße.
Insgesamt stellten diese derartig umfassenden und umwälzenden Reduzierungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen der Bundeswehr bei gleichzeitig zunehmenden Aufgaben und Fähigkeitsforderungen eine Leistung dar, die ihresgleichen sucht. Es ist wohl nicht übertrieben, dieser Zeit der Einschmelzung auch den Effekt der Verschmelzung zuzuschreiben. Der gemeinsame Ab- und Umbau der alten Bundeswehr von einer Armee des Kalten Krieges sowie der Aufbau zur neuen Bundeswehr als Armee der Einheit und zur Einsatzarmee hat eine starke integrative Wirkung sowohl in der Bundeswehr insgesamt als auch im Sanitätsdienst im Speziellen gezeigt.
„Vom UN-Blauhelm zum Gefechtshelm Flecktarn“
Der Sanitätsdienst war bereits seit den Anfangsjahren der Bundeswehr wie kaum ein anderer Bereich in humanitäre Hilfsaktionen eingebunden und nahm von Beginn an in den Einsatzszenarien eine Vorreiterrolle ein. Angefangen mit der Erdbebenhilfe in Agadir/Marokko im Jahre 1960 zogen sich diese aufgrund ihrer humanitären Ausrichtung allgemein anerkannten Auslandseinsätze wie ein roter Faden durch die Geschichte der Bundeswehr und des Sanitätsdienstes: die Erdbebenhilfen 1976 in der Türkei, 1980/81 in Süditalien und 1990 im Iran, ferner die „Operation Kurdenhilfe“ 1991 nach dem irakisch-iranischen Krieg im Verbund mit anderen Truppenteilen mögen als Beispiele genügen.
Mit der Wiedervereinigung im Jahre 1990 hatte Deutschland seine volle staatliche Souveränität wiedererlangt und die neue, größere Bundesrepublik musste ihre Rolle innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft neu finden und definieren. Dies betraf naturgemäß auch die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die Bündnispartner in der NATO und der WEU, die Vereinten Nationen und die bundesdeutsche Regierung waren gleichermaßen daran interessiert, die internationale Verantwortung und die Verpflichtungen Deutschlands weiter auszubauen. An die Stelle einer vielfach kontrovers diskutierten „Scheckbuchdiplomatie“ trat eine verstärkte Einbindung in militärische Operationen und Einsatzszenarien, wie sich auch das Verständnis der Sicherheitsbedürfnisse unseres Landes deutlich wandelte. Hatte die Sicherheitspolitik in Zeiten des Ost-West-Konfliktes vor allem auf die Bündnis- und Landesverteidigung und damit den Schutz der territorialen Integrität der Bundesrepublik Deutschland und die Sicherung der innerdeutschen Grenze fokussiert, sind die deutschen Sicherheitsinteressen mittlerweile wesentlich weiter gefasst und an die Vorstellungen und Erfordernisse der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung angepasst. Wohl am bildhaftesten und sinnfälligsten kommen sie in dem Ausspruch des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck aus dem Jahre 2002 zum Ausdruck: „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird heute auch am Hindukusch verteidigt.“
Auch innerhalb dieses neuen Aufgabenspektrums der deutschen Streitkräfte im Rahmen ihrer Bündnisverpflichtungen und der internationalen Friedenssicherung hatte der Sanitätsdienst eine Vorreiterrolle. Schnell entwickelte er sich durch seine im In- wie im Ausland anerkannten Leistungen zum „Aktivposten“ bei der Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Einsätzen. Eine nicht unwesentliche Bedeutung kommt dabei der im September 1995 publizierten und bis heute unverändert gültigen „Maxime der sanitätsdienstlichen Auftragserfüllung“ zu, die erkrankten, verunfallten oder verletzten Soldaten eine medizinische Versorgung garantiert, „die im Ergebnis dem fachlichen Standard in Deutschland entspricht“ (vgl. Abb. 2). Hiermit wurde ein in Militär und Gesellschaft gleichermaßen konsensfähiger Anspruch formuliert, dem letztlich alle medizinisch-fachlichen wie auch sanitätsdienstlich-organisatorischen Standards zu folgen haben.
Die Bandbreite der Entwicklungen, die der Sanitätsdienst neben allen medizinischen, technologischen, strukturellen und organisatorischen Fortschritten mentalitär und im Hinblick auf das berufliche Selbstverständnis vollzogen hat, ist gewaltig. Der damalige Befehlshaber des Sanitätsführungskommandos Generaloberstabsarzt Dr. Jürgen Blätzinger fasste 2010 die Entwicklung vom ersten Blauhelmeinsatz „UNTAC“ in Kambodscha 1992/93 bis zum damaligen ISAF-Einsatz in einem in der „Wehrmedizin und Wehrpharmazie“ veröffentlichten Interview prägnant mit den Worten „Vom UN-Blauhelm zum Gefechtshelm Flecktarn“ zusammen. Einen Eindruck von der Komplexität dieser Problematik vermittelt ein vergleichender Blick auf den ersten Kontingenteinsatz der Bundeswehr in den frühen 1990er Jahren einerseits sowie die gerade endenden Afghanistan-Einsätze andererseits.
Zwar hatte die Bundeswehr schon vorher internationale Militärmissionen unterstützt, so beispielsweise mit einer Minenabwehraktion der deutschen Marine im Rahmen der „Operation Südflanke“ von August 1990 bis September 1991, erst im Mittelmeer, später im Arabischen Golf. Den ersten über humanitäre Hilfe hinausgehenden Kontingenteinsatz der Bundeswehr bildete aber im Rahmen der Peacekeeping Mission UNTAC (United Nations Transitional Authority in Cambodia) 1992/93 der Aufbau und Betrieb eines Feldlazaretts in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh mit dem Auftrag der medizinischen Versorgung der UNTAC-Angehörigen. Die Behandlung der kambodschanischen Zivilbevölkerung war nach den Vorgaben der UN nur bei Vorliegen vitaler Indikationen vorgesehen.
Indessen war dieser erste, rein sanitätsdienstliche UN-Einsatz der Bundeswehr aufgrund der rechtlichen Unsicherheit – erst am 12. Juli 1994 wurde die Verfassungsmäßigkeit von bewaffneten Einsätzen unter einem Mandat der UN bzw. der NATO durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt – vom Parlament als „humanitäre Unterstützungsmaßnahme“ gebilligt und der Öffentlichkeit so vermittelt worden. Dies prägte auch das Selbstverständnis im Feldlazarett, wo entgegen der Vorgaben der UN zeitweise die Versorgung kambodschanischer Patienten dominierte und die auftragsgemäße Behandlung der UNTAC-Angehörigen in den Hintergrund rückte. Während die UNTAC-Führung auf der Erfüllung des eigentlichen Auftrags beharrte, sahen sich die Sanitätsoffiziere vor Ort in ihrem (fälschlicherweise als solchen vermittelten) humanitären Auftrag behindert. So schrieb der spätere Generalstabsarzt und damalige Chief Medical Officer und Oberstarzt Dr. Peter Fraps im Jahr 2000 rückblickend in einem Buchbeitrag mit dem Titel „Unter dem Blauen Barett“, „dass ein nicht geringer Anteil der Sanitätsoffiziere und auch des sonstigen Sanitätspersonals den Auftrag des deutschen VN-Kontingentes tatsächlich in erster Linie als ‚humanitäre Unterstützungsmaßnahme’ für die kambodschanische Zivilbevölkerung verstand. [...]. Die mehrfachen Aufforderungen an die Ärzteschaft, eine vernünftige Basis für humanitäre Hilfsmaßnahmen zu finden, wurden als Befehle zur Missachtung ärztlicher Ethik interpretiert und konstant boykottiert.“
Es waren also vor allem humanitäre Ideale und das ärztliche Berufsethos, die das Denken eines Großteils des Sanitätspersonals dieses Feldlazaretts dominierten, das zeitgenössisch oft medienwirksam als „Haus der Engel“ bezeichnet wurde. Die Erfüllung des militärischen Auftrags war demgegenüber – zweifellos auch aufgrund der politisch motivierten Sprachregelung „humanitäre Unterstützungsmaßnahme“ und einer verfehlten Informationspolitik – anfangs in den Hintergrund getreten, was beinahe zur Ablösung des deutschen Kontingents geführt hätte.
In den folgenden zwei Jahrzehnten ist es dem Sanitätsdienst der Bundeswehr gelungen, sich immer angepasst an die jeweils neuen Erfordernisse der unterschiedlichen und vielfältigen Einsätze und Einsatzszenarien (Abb. 4) weiterzuentwickeln. Dies führte auch zu einem – gerade im Vergleich zu Kambodscha – veränderten Selbstverständnis. Eine besondere Herausforderung bildete in jeder Hinsicht der Einsatz in Afghanistan mit seinen Eigentümlichkeiten einer asymmetrischen Kriegsführung und einer völkerrechtlich umstrittenen Ausgangslage. Der Gegner steht dort, ungeachtet der formaljuristischen Bewertung des Konflikts, durch sein Handeln offenkundig außerhalb des humanitären Völkerrechts. Der Sanitätsdienst geriet in die Dilemmasituation, sich einerseits schützen zu müssen, ohne andererseits in eine ethisch-rechtliche Grauzone abzugleiten. So war es notwendig, das Rote Kreuz auf den Sanitätsfahrzeugen als Vorsichtsmaßnahme gegen gezielten Beschuss abzutarnen. Diese Maß-
nahme ist völkerrechtlich vollkommen zulässig, allerdings mag durch diesen Verzicht auf das Schutzzeichen zuweilen der falsche Eindruck entstanden sein, dass damit auch der Nichtkombattantenstatus aufgegeben werde. Das Sanitätspersonal drohte aufgrund dieser asymmetrischen Gefährdungslage immer mehr in allgemeine militärische Aufgaben eingebunden zu werden. Es entwickelte sich – vollkommen konträr zur Lage in Kambodscha zu Beginn der 1990er Jahre – in Teilen ein Selbstverständnis, das mehr vom militärischen Auftrag und der Bedrohungslage in Afghanistan geprägt war als von den Maximen des humanitären Völkerrechts und dem Rollenverständnis als Nichtkombattant. Immer mehr Angehörige des Sanitätsdienstes sahen sich durchaus in der Pflicht, für das Wohl ihrer Kameraden im Kombattantenstatus notfalls auch mit Waffengewalt einzutreten.
In den annähernd eineinhalb Jahrzehnten des deutschen Engagements in Afghanistan wurde eine ganze Generation von Soldaten – und damit ebenso von Angehörigen des Sanitätsdienstes und von Sanitätsoffizieren – durch Einsatzszenarien und eine Form der Kriegsführung geprägt, die trotz ihrer Dominanz nicht typisch für Auslandseinsätze und kriegerische Konflikte im Sinne des Kriegsvölkerrechts bzw. humanitären Völkerrechts gewesen sind.
„Unser Leitbild“
Bereits seit einigen Jahren bewog diese Problematik die Führung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr zu intensiven Reflektionen und Diskussionen über das berufliche Selbstverständnis im Sanitätsdienst, die rechtlichen und ethischen Grenzen des Waffengebrauchs und die Bedeutung des humanitären Völkerrechts für die Angehörigen des Sanitätsdienstes der Bundeswehr.
Nach ersten Veranstaltungen, wie etwa auf Weisung des Inspekteurs des Sanitätsdienstes einem Seminar zum beruflichen Selbstverständnis im Sanitätsdienst im November 2011 und der breiten Diskussion der Thematik im Rahmen der „Tagung für Sanitätsoffiziere in höheren Führungsverwendungen und Leitende Medizinalbeamtinnen/Medizinalbeamte“ („LSO Tagung“) im Dezember des gleichen Jahres, kam die Debatte um das Rollenverständnis im Sanitätsdienst nicht mehr zum Erliegen. Vorläufiger Höhepunkt ist die Erarbeitung eines Erlasses zum beruflichen Selbstverständnis des Sanitätsdienstes mit einem daraus destillierten Leitbild, das der Inspekteur des Sanitätsdienstes am 8. Juli 2015 in Kraft setzte (Abb. 3).
In diesem Erlass und im Leitbild kommt nicht nur die Verpflichtung auf die aktuellen wissenschaftlichen Standards, auf den Schutz und die Erhaltung der Gesundheit der anvertrauten Patienten, auf das partnerschaftliche Miteinander innerhalb des Sanitätsdienstes und mit zivilen und militärischen Partnern sowie auf ein Traditionsbild zum Ausdruck, das auf der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und den Leistungen des Sanitätsdienstes der Bundeswehr beruht. Vielmehr werden gleich in mehreren Punkten der Stellenwert, die Bedeutung und der normative Rahmen des humanitären Völkerrechts und ethisch-moralischer Werte betont, und die Textfassung des Erlasses trägt den programmatischen Untertitel „Der Menschlichkeit verpflichtet“.
Beständigkeit im Wandel
Am Ende dieses Rückblicks auf einige Schlaglichter der Geschichte des Sanitätsdienstes der Bundeswehr anlässlich des 25. Jubiläums der deutschen Einheit kann und soll kein abschließendes Resümee stehen, denn viele der angesprochenen Entwicklungen sind noch nicht abgeschlossen, ja teils noch in vollem Gange. Viel wichtiger scheint mir indessen die fortwährende Analyse und kritische Reflexion des eigenen Handelns und der zu Grunde liegenden Rahmenbedingungen, um für künftige Wertediskussionen gut vorbereitet zu sein und das berufliche Selbstverständnis im Sanitätsdienst der Bundeswehr unter veränderten Einflüssen und Herausforderungen ausgestalten und festigen zu können.
Datum: 12.11.2015
Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2015/3