EINER FÜR ALLE – ALLE FÜR EINEN: INTERDISZIPLINÄRE ZUSAMMENARBEIT IM KOPFZENTRUM

Die Inzidenz, Diagnostik und Versorgung von Schädelverletzungen hat in den letzten Jahrzehnten deutliche Veränderungen erfahren.

Dies liegt unter anderem an der Zunahme der Freizeitaktivitäten, der Geschwindigkeitszunahme im Straßenverkehr und tätlichen Auseinandersetzungen im Inland sowie der veränderten Schutzausrüstung von Soldaten im Ausland. Gerade im Einsatz ist der Bereich des Gesichtes im Gegensatz zum Rumpf oder dem Neurocranium nicht von einer Splitterschutzweste oder einem Helm geschützt. So kommt es zu einer überproportionalen Zunahme der Gesichtsschädelverletzungen [1].

Die Therapie dieser Verletzungen erfordert häufig ein Teamwork der Kopffächer, um nach primär lebenserhaltenden Maßnahmen die endgültige Wiederherstellung von Funktion und Ästhetik zu gewährleisten. Zur optimalen Versorgung von Patienten mit Schädelverletzungen wurden daher in zivilen Versorgungseinrichtungen und erstmals auch am Bundeswehrkrankenhaus Ulm Kopfzentren initiiert.

Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss der Fächer Neurochirurgie, Neurologie, Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Neuroradiologie, Augenheilkunde und den verschiedenen Disziplinen der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, welche fachübergreifende Diagnostik und Therapiepläne erarbeiten und umsetzen. Insbesondere Rekonstruktionen mit Wiederherstellung im Zahn-, Mund- und Kieferbereich haben für die Lebensqualität der Patienten eine zentrale Bedeutung. Sowohl aus ästhetischen wie auch aus funktionellen Aspekten ist eine frühzeitige Einbindung insbesondere der Zahnmedizin in die Therapie sinnvoll und notwendig.

Durch standardisierte Rettungsabläufe wie zum Beispiel das TCCC im Einsatz konnte die Prognose von schwer verletzten Patienten mit Schädelverletzungen deutlich verbessert werden. Bei vielen dieser Patienten kommt es gerade in militärischen Auseinandersetzungen zu multiplen Verletzungen, die ohnehin eine interdisziplinäre Diagnostik und Therapie notwendig machen. Dabei steht die Sicherung der Atemwege bei der Erstversorgung im Vordergrund. Hier können Zahnfragmente, Fremdkörper und Prothesen den Atemweg verlegen und so eine mögliche Komplikation darstellen.

Deshalb sollte bei der klinischen Untersuchung eine orientierende Inspektion intraoral auf die Anzahl und Vollständigkeit der Zähne sowie deren Stabilität durchgeführt werden. Im Zweifel sollte eine röntgenologische Thoraxübersichtaufnahme angefertigt werden, um eine mögliche Aspiration von Zähnen oder Zahnfragmenten auszuschließen. Darüber hinaus können auch sichtbare Blutungen aus Mund- und Nasenraum zu einer Aspiration oder eine Schwellung der Halsweichteile infolge innerer Blutungen zu einer Verlegung der Atemwege führen. Eine genaue Diagnostik von intraoralen Blutungen am Verletzungsort ist häufig nicht möglich. Daher sollte die Primärversorgung darauf abzielen, die Blutungen mittels geblockten Kathetern oder Tamponaden zum Stehen zu bringen.

Zur weiteren Diagnostik bei Schädelverletzungen stellt die radiologische dreidimensionale Bildgebung ein zentrales Element zur Visualisierung der Unfallfolgen dar. Mittels multiplanarer und dreidimensionaler Rekonstruktionen ist es darüber hinaus auch dem weniger erfahrenen Kollegen möglich, komplexe Verletzungsmuster schnell und sicher zu erfassen. Dieses bietet vor allem in der Kommunikation via Telemedizin einen entscheidenden Vorteil gegenüber der zweidimensionalen Bildgebung. So kann bei Vorliegen einer komplexen Schädelverletzung über Therapiemöglichkeiten mit Fachspezialisten eines Kopfzentrums auch bei weiter örtlicher Trennung von Patient und spezialisiertem Facharzt dennoch der Behandler effektiv beraten werden. Dabei stellt das internationale DICOM (Digital Imaging and Communications in Medicine) Format einen weltweit anerkannten Standard dar, der einen radiologischen Datentransfer unabhängig von der Visualisierungssoftware oder Sprachbarrieren ermöglicht.

Nach der Stabilisierungsphase des Patienten und akuter Primärversorgung hat sich in den letzten Jahren aufgrund der besseren Behandlungsergebnisse der Trend zu einer zeitlich verzögerten Primärversorgung durchgesetzt. Die verzögerte Primärversorgung erfolgt dann meist im Heimatland unter Einbeziehung der entsprechenden Fachdisziplinen. Dabei wird in einer individuellen Planung innerhalb eines Kopfzentrums erörtert, ob zum Beispiel eine Rekonstruktion mit körpereigenem Gewebe vorgenommen werden kann oder mittels einer Epithese ein Defektverschluss erreicht werden soll. Hier ist neben der Machbarkeit die psychische Rehabilitation des Patienten, der häufig vor allem durch Gesichtsverletzungen traumatisiert ist, zu berücksichtigen.

Obwohl sich häufig sehr gute ästhetische epithetische Versorgungen von Gesichtsdefekten durchführen lassen [2], ist die Patientenakzeptanz aufgrund des Fremdkörpergefühls dennoch eher niedrig. Außerdem können jahreszeitlich bedingte Veränderungen der Hautfarbe zu einem unbefriedigenden ästhetischen Ergebnis beitragen. Daher wird heute meist eine Rekonstruktion mit körpereigenem Gewebe angestrebt. Dabei ist die besondere Situation des Gesichtsschädels mit einem sehr engen Zusammenspiel von Hart- und Weichgeweben, wie sie sonst nirgendwo am Körper auftritt, zu berücksichtigen.

Für eine zahnärztlich prothetische oder epithetische Versorgung stellen enossal inserierte Implantate ein etabliertes Verfahren dar. Dabei stellen neben biomechanischen Kraftwirkungen vor allem die Durchtrittstellen des Implantates durch das Weichgewebe einen möglichen Schwachpunkt dar. Weiterhin ist ein ausreichendes Knochenangebot von entsprechend stabiler Qualität eine Grundvoraussetzung für eine langfristig erfolgreiche Versorgung. Häufig werden dazu gerade nach komplexen Gesichtsschädelrekonstruktionen autologe Knochenaugmentationen im späteren Implantatgebiet notwendig.

Patientenbeispiele

Patient 1

Nach traumatischer Schädelverletzung bei einem Fahrradunfall erfolgte die Erstversorgung des Patienten mit einer Stabilisierung der Unterkieferfraktur. Infolge des Traumas kam es zum Zahnverlust im anterioren Unterkiefer mit Verlust des Alveolarknochens. Zur definitiven Versorgung des Patienten wurde eine implantat-getragene prothetische Versorgung angestrebt. Da die defizitären Knochen- und Weichgewebe-verhältnisse im Implantationsgebiet eine direkte Implantation nicht ermöglichten (Abb. 1, 2), wurde zunächst ein Knochenaufbau durchgeführt. Nach einer Einheilzeit des Knochens von 6 Monaten konnte die Zahnimplantation durchgeführt werden (Abb. 3). Nach einer erneuten Einheilzeit von vier Monaten wurden die Implantate freigelegt und prothetisch versorgt (Abb. 4, 5). Da an den Implantaten keine keratinisierte Schleimhaut vorhanden war, wurde zusätzlich eine Mundbodenplastik mit einem Spalthauttransplantat aus dem Oberkiefer notwendig. Die fest verschraubte prothetische Arbeit stellt aus funktioneller und ästhetischer Sicht für den jungen Patienten die bestmögliche Rehabilitation dar (Abb. 6).

Patient 2

Die Patientin stellte sich mit einer progredienten Neubildung im Bereich des Oberkiefers vor (Abb. 7). Die angefertigte Probebiopsie sicherte die Diagnose eines Plattenepithelkarzinoms. In der anschließenden Planungskonferenz des Kopfzentrums wurde eine operative Tumorresektion der Patientin empfohlen. Nach erfolgreicher Tumorresektion sowie einem rezidivfreien Intervall erfolgte die Planung der oralen Rehabilitation, da die Patientin keine hinreichende Kaufunktion mehr ausüben konnte sowie über Schluckstörungen klagte (Abb. 8). Dieses lag vor allem daran, dass aufgrund der Tumorgröße große Teile des Oberkiefers reseziert werden mussten. Eine ausgedehnte Augmentation erschien auch aufgrund der Gesamtsituation der Patientin mit ausgeprägten Allgemeinleiden und der psychischen Belastung nicht adäquat. Daher wurden sogenannte Zygomaimplantate im Defektbereich (Abb. 9) und konventionelle Zahnimplantate nach lokaler Knochenaugmentation aus dem Unterkiefer in den Oberkiefer auf der kontralateralen Seite knöchern inseriert, auf denen die prothetische Oberkieferversorgung mittels eines individuellen Steges verankert wurde (Abb. 10, 11). So wurde die Versorgung mit einer suffizienten Defektprothese ermöglicht und die Lebensqualität der Patientin deutlich verbessert.

Diskussion

Verletzungen des Schädels stellen häufig eine lebensbedrohliche Situation dar. Obwohl der Kopf nur 12% der Körperoberfläche ausmacht, ist er gerade in militärischen Auseinandersetzungen überproportional von Verletzungen betroffen. Im zweiten Weltkrieg sowie dem Vietnam-Krieg waren über 40% der tödlichen Verletzungen auf Kopfverletzungen zurückzuführen. Die Verbesserungen der Helme in militärischen Konflikten haben zu einer Reduktion der tödlichen Kopfverletzungen geführt. Gerade die Wirkung von umherfliegenden Gegenständen und Splitter kann durch Kunststoffverbund-Helme zudem stark vermindert werden. Penetrierende Schädelverletzungen sind heute eher die Ausnahme [3]. In der Operation „Desert Storm“ trugen 80% der am Kopf verwundeten Soldaten zum Zeitpunkt der Verwundung einen Helm [4].

Trotzdem wiesen 61% der verwundeten Soldaten eine Kopfverletzung auf. Dies resultiert unter anderem aus der Zunahme der Anschläge mit IEDs (Improvised Explosive Devices), welche zu vermehrten Verletzungen von Kopf und Hals führen. Die durch IEDs entstehenden Verletzungsmuster betreffen signifikant häufiger den Kopf-Halsbereich und die oberen Extremitäten durch umherfliegende Teile [5]. Dabei handelte es sich bei fast der Hälfte aller Gesichtsverletzungen um offene Verletzungsmuster. Neben den Verletzungen im Zusammenhang mit Kampfhandlungen stellen Verkehrsunfälle, wie sie auch im Inland auftreten, die zweithäufigste Verletzungsursache dar.

Darüber hinaus kommt es bei einem Drittel der Verwundeten zu Mehrfachverletzungen und Fremdkörperein-sprengungen. Diese stellen eine besondere Herausforderung für die spätere Rekonstruktion gerade unter dem Aspekt der Wundkontamination und Wundheilungsstörung dar. Die Rehabilitation dieser Patienten erfordert fast immer ein interdisziplinäres Vorgehen [6]. Dabei nimmt die zahnmedizinische Versorgung der Patienten eine wichtige Rolle ein. Eine festsitzende prothetische Versorgung auf Implantaten führt zu einer höheren Patientenakzeptanz und stellt ein Optimum an Ästhetik und psychosozialem Verhalten sicher. Darüber hinaus kann so das Schlucken und die Sprachlautbildung und somit das Allgemeinbefinden des Patienten erheblich verbessert werden.

Gesichtsverletzungen führen neben den funktionellen Einschränkungen zu einer signifikant erhöhten psychischen Belastungsstörung aufgrund der ästhetischen Beeinträchtigung. So stellen Levine et al. in ihrer Untersuchung fest, dass in Folge von Gesichtsverletzungen mit sichtbarer Narbenbildungen die Inzidenz von PTSD und Alkoholismus gegenüber einer Kontrollgruppe signifikant erhöht ist [7]. Generell führen Verletzungen oder Fehlbildungen im Gesichtsbereich zu einer erhöhten negativen sozialen Antwort. Außerdem werden die Patienten durch die Defektsituation erneut an das traumatische Ereignis erinnert, was ebenfalls eine psychische Behandlung erforderlich machen kann [8]. Eine vollständige Rehabilitation ist daher auch gerade vor dem Hintergrund der sozialen Integration und Wiedereingliederung in den Arbeitsalltag notwendig.

Die moderne Bildanalyse ermöglicht heute eine exakte Planung von knöchernen Strukturen des Gesichtsschädels. Unter Einbeziehung aller Fachdisziplinen eines Kopfzentrums lassen sich so virtuelle Planungen anhand von Modellen durchführen. Dieses führt in der Konsequenz zu einer Optimierung der Behandlungsergebnisse im interdisziplinären Zusammenspiel der beteiligten Fachdisziplinen. Nur wenn die Kernkompetenz eines Kopfzentrums alle notwendigen Fachdisziplinen beinhaltet, ist ein vorhersagbares Rekonstruktionsergebnis bei diesen Patienten erreichbar.

Literaturverzeichnis beim Verfasser.

Datum: 16.08.2011

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2011/2

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