16.08.2018 •

    Zur deutschen Militärpharmazie im Ersten Weltkrieg

    Aus dem Versorgungs- und Instandsetzungszentrum Sanitätsmaterial Quakenbrück (Leiter: Flottenapotheker W. Fellmann)

    On the History of German Military Pharmacy in World War I

    Frederik Vongehr

    Zusammenfassung

    Der Erste Weltkrieg 1914/18, in dem nahezu 3 800 Apotheker Dienst leisteten, war eine große Herausforderung für die militärische Pharmazie. Neben der Logistik im Heimatland mussten Feldapotheken betrieben und die Truppen an der Front und in der Etappe versorgt werden. Hinzu traten zahlreiche technische Untersuchungen, wie die Analytik von Treibstoffen und Betriebsflüssigkeiten, sowie auch forensische Gutachten. Überdies gab es im Krieg keine Erleichterung beim umfangreichen Rechnungswesen – selbst an der Front mussten die Korpsstabsapotheker anhand der Verordnungsbücher sämtliche Arzneiverordnungen auf rechnerische und sachliche Richtigkeit überprüfen.

    Daneben waren Innovationen in die Sanitätsmaterialwirtschaft zu integrieren, wie neue Arzneimittel, moderne Arzneiformen oder Röntgengeräte, und an vielen Stellen mussten Apotheker improvisieren bei aus Übersee nicht mehr erhältlichen Grundstoffen für Sanitätsmaterial, wie etwa dem Kautschuk. In den besetzten Gebieten traten weitere Aufgaben hinzu: In Belgien führten die deutschen Militärapotheker die Aufsicht über das Zivilapothekenwesen und die Nahrungsmittelfabriken und waren betraut mit der Versorgung der Zivilbevölkerung mit Arzneimitteln.

    Die Apotheker spielten außerdem eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von Gassanitätsmitteln. Zwar war das Gas als Waffe von deutscher Seite in den Krieg eingeführt worden, doch bemächtigten sich auch die Kriegsgegner schnell dieser furchtbaren Waffe. Rasch mussten wirksame Gegenmaßnahmen zur Verfügung stehen. Hier waren es die Apotheker, die die ersten Schutzmittel entwickelten und auch verschiedene Varianten gegen die unterschiedlichen eingesetzten Gase ausbrachten.

    Schlagworte: Militärpharmazie, Erster Weltkrieg, Sanitätsmaterial, Militärapotheker, Sanitätsdepots, Feldsanitätsausrüstung, Logistik, Gaskrieg

    Summary

    The first World War 1914/18 was a great challenge in military pharmacy for the almost 3.800 pharmacists serving in uniform. In addition to the logistics in the home country also field dispensaries had to be maintained and the troops at the front needed to be provided for. Other technical assistance in areas such as analytics of fuels and propellants as well as forensic surveys were as well required. Moreover, war did not allow for any facilitation of the substantial book keeping. Even at the front the corps pharmacists were accountable for the mathematically and factually correctness in accordance with the drug prescription directions. 

    Innovations in medical material logistics such as the usage of new remedies or field x-ray vehicles during war had to be implemented. Often the pharmacist had to improvise since medical supplies from overseas, i.e. caoutchouc, were non-longer available. The occupied territories introduced new duties: In Belgium the German Military Pharmacists had oversight over the civilian pharmaceutical system, the food factories and they were also responsible for the general supply of medication to the civilian population. 

    Pharmacists played a vital role in the development of gas paramedical drugs. Germany had introduced the usage of gas as a weapon of war, but with only short delay the adversaries likewise made us of these dreadful weapons. Soon the need for effective countermeasures arose. It was the pharmacists who developed the first and then various means of protection against the different deployed gases. 

    Keywords: military pharmacy, World War I, medical supplies, military pharmacists, medical depots, logistics, chemical warfare


    Einleitung

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    Abb. 1: Provisorischer Sanitätsunterstand inmitten eines Schlachtfeldes in Frankreich [18, S. 86]
    „Wir wurden dann zirka 40 Minuten hinter dem ersten Graben unterirdisch eingesetzt, und da erlebte ich den Krieg erst einmal gründlich. Wir wurden dauernd, Tag und Nacht, beschossen, und oftmals habe ich, auf dem Bauche liegend, 8 - 10 Granaten über mich ergehen lassen müssen. Schließlich kamen wir 2 Kilometer weiter zurück, aber die feindliche Einwirkung blieb gleich stark. Mein Sanitätswagen ist mir durch Volltreffer dermaßen zerstört worden, daß manche seiner Gegenstände in Atome zerstäubt sind. Und jede Nacht gab es Granaten und Fliegerbomben.“ [18]

    Diese Zeilen aus dem Feldpostbrief eines unbekannten Ober-apothekers offenbaren, dass die Militärpharmazie im Ersten Weltkrieg keineswegs nur aus einer verhältnismäßig kommoden Sanitätsmaterialverwaltung in der Heimat oder der Etappe bestand, sondern auch die deutschen Militärapotheker der Front so nahekommen konnten wie jeder andere Soldat.

    Ein zusammenhängender Bericht über die deutsche Militärpharmazie des Ersten Weltkrieges wurde durch die Militärbehörden nicht angefertigt, obgleich wenige Fragmente der pharmazeutischen Tätigkeiten in den Kriegssanitätsberichten enthalten sind. Gleichwohl verfassten mehrere Militärapotheker Kompendien über die wichtigen Belange für Pharmazeuten beim Militär. Diese Leitfäden wurden zwar nicht von den Militärbehörden herausgegeben und hatten daher keinen amtlichen Charakter. Jedoch gewährten die erfahrenen Autoren sehr präzise Einblicke und rekurrierten dabei auf die offiziellen Vorschriften, um den Lesern mit militärischen sowie pharmazeutisch--fachlichen Hinweisen die Vorbereitung für den Militärdienst zu erleichtern [4; 14; 19; 21]. Korrespondierend hierzu publizierten Militärapotheker verschiedene Aufsätze in pharmazeutischen Periodika und nach Kriegsende beteiligten sich die kriegsgedienten Apotheker an einer umfangreichen Auswertung der Erfahrungen. Besonders das unter Beteiligung zahlreicher kriegserfahrener Militärapotheker entstandene Werk von Gustav Devin fand internationale Beachtung, beispielsweise in den Vereinigten Staaten von Amerika, und wurde sogar ins Spanische übersetzt [1; 12, S. 948]. Trotz nicht umfänglich erhaltener Archivalien der Heerespharmazie kann so ein recht vollständiges Bild der pharmazeutischen Aufgaben und Tätigkeiten zwischen 1914 und 1918 gezeichnet werden [8; 22].

    Schon zuvor und besonders im Ersten Weltkrieg war der Dreiklang aus Pharmazie, Lebensmittelchemie und Sanitätsmateriallogistik klar zu erkennen, der auch im heutigen Sinne die Wehrpharmazie ausmacht. Allerdings fand der Begriff der Wehrpharmazie erst ab den 1920er Jahren Verwendung und eine definitorische Festlegung erfolgte nicht eher als 1984 durch die Bundeswehr [2; 3; 23].

    Personelle Ressourcen

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    Abb. 2: Preußischer Stabsapotheker im Jahre 1914 (Sammlung des Verfassers)
    Im Ersten Weltkrieg dienten 2 033 Militärapotheker im Felde und 1 711 in der Heimat. Fünf Apotheker fielen, 61 weitere starben an Krankheiten [1, S. 14f.; 7, S. 1516]. Die Einsatzorte der Apotheker waren fast über den gesamten Kriegsschauplatz verteilt und verliefen von Frankreich im Westen bis östlich nach Russland, Rumänien sowie Vorderasien – neben den über-seeischen Besitzungen in Afrika und Asien. Die unter den kriegsgedienten Pharmazeuten den größten Anteil ausmachenden Oberapotheker waren keine etatmäßigen Militärangehörigen, sondern rekrutierten sich im Fall der Mobilmachung aus sogenannten Einjährig-Freiwilligen respektive Apothekern des Beurlaubtenstandes. Für Pharmazeuten bot sich nämlich beim Heer die Möglichkeit, statt einer einjährigen Militärdienstzeit am Stück mit der Waffe, den zweiten Teil des Wehrdienstes berufsbezogen abzuleisten. Diese Militärbeamten mit einem dem Leutnant vergleichbaren Dienstgrad – der Status des Offiziers für Apotheker war noch lange nicht in Sicht – kamen im Krieg der kämpfenden Truppe durchgehend am nächsten [4; 9; 10, S. 1571; 13; 14; 15; 16, S. 796; 21]. Die im Dienstgrad den Hauptleuten vergleichbaren Stabs- und Korpsstabsapotheker hatten als zumeist etatmäßige Militärapotheker ab 1902 ein Studium als Lebensmittelchemiker vorzuweisen. Die Korpsstabsapotheker waren den Stabsapothekern fachlich vor-, rangmäßig jedoch gleichgesetzt und den Standorten der Armeekorps zugeordnet [10, S. 1570f.]. Im Kriegsministerium besetzte im Frieden wie im Krieg ein Oberstabsapotheker den Spitzendienstposten in der deutschen Heerespharmazie [18].

    In den genannten Zahlen sind diejenigen Apotheker nicht berücksichtigt, die als Angehörige des eigentlichen Soldatenstandes am Krieg teilnahmen, darunter Einjährig-Freiwillige im ersten Halbjahr, Reserve- und Landwehroffiziere sowie Kriegsfreiwillige. Manch Approbierter diente in nicht-pharmazeutischer Tätigkeit, etwa als Ausbilder für Handgranaten, Minenwerfer und Maschinengewehre. Mitunter beantragten während des Krieges Militärapotheker auch eine Überführung vom pharmazeutischen zum Waffendienst und gelangten so in die kämpfende Truppe [11, S. 372].

    Materielle Ressourcen und Logistik

    Zwei Jahre vor Ausbruch des Krieges hatte die Sanitätsausrüstung des Heeres eine Überarbeitung erfahren, die ihrer Gebrauchsfähigkeit im Felde zugutekam. Die Ausrüstung beinhaltete nunmehr ampullierte und sterilisierte Lösungen stark wirksamer Substanzen wie Morphin, Scopolamin, Coffein, Adrenalin, Procain und Strophanthin, zahlreiche Wirkstoffe in Tablettenform und auch Jod in Ampullen zur schnellen Bereitung einer gebrauchsfertigen Lösung. Ferner kamen die im Gegensatz zu den ursprünglichen Streichpflastern wesentlich einfacher zu handhabenden Kautschukpflaster in Gebrauch.

    Die in Friedenszeiten für die Behandlung der Soldaten zur Verfügung stehenden Mittel entsprachen im Wesentlichen der Kriegssanitätsausrüstung, was eine bessere Anwendungspraxis durch das Sanitätspersonal wie auch eine vereinfachte Lagerhaltung und Wälzbarkeit nach sich zog. Da eine erste Ausstattung mit der Kriegssanitätsausrüstung bereits auf die aufstellenden Standorte disloziert war, konnten die Truppen im Rahmen der Mobilmachung ohne Verzögerung mit der planmäßigen Sanitätsausrüstung in Marsch gesetzt werden [7, S. 1516].

    Die Kriegssanitätsausrüstung enthielt auch einen überarbeiteten „Reagentienkasten“, um die gegebenenfalls im Felde zu requirierenden Arzneimittel gemäß der 5. Ausgabe des Deutschen Arzneibuches auf Identität und Reinheit überprüfen zu können [1, S. 16f.].

    Die Kriegs- bzw. Feldsanitätsausrüstung unterlag auch während des Krieges einer laufenden Überarbeitung, um dem aktuellen wissenschaftlichem Stand und praktischen Anforderungen gerecht zu werden. Das hierfür maßgebliche „Heeresarzneiheft“ beinhaltete mehrere hundert Präparate. Für die in Friedenszeiten nicht vorhergesehenen Einsätze in den Tropen erhielten die Soldaten überdies eine Taschenapotheke mit Chinin, Tannalbin und Wasserdesinfektionsmitteln [1, S. 19 - 23].

    Die Abschneidung von überseeischen Versorgungswegen schränkte im Kriegsverlauf die Sanitätsmaterialversorgung zunehmend ein. Bis zum Jahr 1916 waren die meisten aus Friedenszeiten bekannten Artikel gut verfügbar, bis sich schließlich die versiegenden Einfuhrwege bemerkbar machten und die Heeresverwaltung, um den militärischen Bedarf an Arzneimitteln und deren Rohstoffe sicherzustellen, einen Teil der importierten Arzneimittel beschlagnahmte [1, S. 45]. Da man die zu importierende Rohbaumwolle auch zur Herstellung von Kleidung und Schießbaumwolle heranzog, wurde die Versorgung mit Verbandmitteln besonders merklich eingeschränkt. Zur Rationierung der knappen Ressourcen gründete man im Kaiserreich sogenannte Kriegsgesellschaften, jeweils zuständig für unterschiedliche Güter wie Fette, Metalle oder auch Säuren. Zivil und militärisch war auf vielen Gebieten eine materielle Vorbereitung hinsichtlich der Bevorratung kritischer Güter unzureichend, da man die tatsächliche Ausdehnung und Dauer des Krieges falsch eingeschätzt hatte [7, S. 1515; 5]. Für die Beschaffung der Arznei- und Verbandmittel existierten jedoch bereits im Frieden abgeschlossene Verträge mit den Lieferanten, die eine Belieferung auch im Mobilmachungs- und Kriegsfall regelten [1, S. 24 - 27].

    In der Heimat spielte neben mehreren Sanitätsdepots vor allem das Hauptsanitätsdepot Berlin eine wichtige Rolle. Dieses wurde im Laufe des Krieges umfangreich erweitert und umfasste statt ursprünglichen 1 500 m² schließlich 54 000 m² Lagerfläche, wozu man auch die Räume von Kaufhäusern nutzte. Im letzten Kriegsjahr zählten 1 500 Personen zur Belegschaft, die sich auf 13 Abteilungen verteilten. Hier verarbeitete man neben anderen Erzeugnissen pro Jahr über 100 000 km Verbandmull und gegen Ende des Krieges auch 44 000 km Zellstoffgewebe, als ersterer zum Mangelartikel wurde [7, S. 1517]. Im Hauptsanitätsdepot Berlin existierte zudem eine Sauerstoffabteilung, zuständig für die Beschaffung und Befüllung von Sauerstoffgeräten [1, S. 172f.].

    Wagonweise erfolgte für jedes Sanitätsdepot – diese Dienststellen waren bereits ab 1909 unter selbstständiger Leitung von Militärapothekern [12, S. 1572] – in den ersten Kriegswochen eine Anlieferung von zehntausenden Thermometern, hunderttausenden Spritzen, Schienen und allerlei weiterem Sanitätsmaterial [1, S. 99f.]. Die Sanitätsdepots, gewöhnlich in örtlicher Nähe der Stellvertretenden Generalkommandos aufgestellt, waren indes nicht nur logistische Einrichtungen; in diesen fand auch eine umfangreiche Herstellung von Sanitätsmaterial statt. Sie umfasste beispielsweise Tabletten, sterile Ampullen sowie Pflaster; eine eigene Verbandmittelabteilung produzierte Binden, Watte, Mull und Gipsbinden, die allesamt versandbereit hergerichtet wurden. Die ebenfalls von Stabsapothekern geleiteten heimatlichen Gütersammelstellen, aus denen das Sanitätsmaterial schließlich in die Etappensanitätsdepots verbracht wurde, kauften Waren freihändig ein oder bezogen sie zentral aus den Sanitätsdepots [18]. Die Apotheker in den Depots verbesserten im laufenden Betrieb ständig die Prozesse und ersannen beispielsweise Verfahren zur Massenabfüllung von Ampullen, über die zu Anfang des Krieges auch pharmazeutische Fachzeitschriften berichteten [17; 18].

    Etappe und Operationsgebiet

    Etappensanitätsdepots

    Die Etappensanitätsdepots bildeten die großen Reservoirs, aus denen die frontwärts liegenden Sanitätseinrichtungen versorgt wurden. Sie lagen oft in der Nähe zu Bahnhöfen, was eine gewisse Gefahr bei Luftangriffen mit sich brachte, und hatten aus logistischen Gründen meist kleine Teilableger zwischen Front und Etappe. Vorgeschobene Gruppen-Sanitätsspeicher gewährleisteten so die Versorgung der Front, wenn das vorderste Etappensanitätsdepot zu weit zurück lag. Sogenannte Gasschutzspeicher fungierten analog. Die größeren Etappensanitätsdepots selbst wurden von Stabsapothekern geleitet. Diesen fachlich übergeordnet leitete ein Korpsstabsapotheker das angegliederte Untersuchungslaboratorium und beriet den Etappenarzt. Dem Korpsstabsapotheker unterstanden fachlich ferner die Oberapotheker der im Etappengebiet aufgestellten Kriegslazarette [18]. Militärapotheker der Etappensanitätsdepots erkundeten regulär die besetzten Gebiete im Hinblick auf Wiederinbetriebnahme von Fabriken als Ergänzung des heimatlichen Nachschubes und die Verwendbarkeit der vorzufindenden Bestände [1, S. 189 und 192].

    In den Etappensanitätsdepots hielt man große personelle und materielle Ressourcen wie Instrumentenmacher und Krankenzelte, tragbare Röntgeneinrichtungen sowie einen beträchtlichen Fuhrpark bereit, darunter in einem Fall fünf Badewagen, zehn vierspännige Feldröntgenwagen, über 70 fahrbare Trinkwasseraufbereiter mit einer Leistung von 500 l/h neben fast 100 Dampfdesinfektionswagen und 400 Pferden [4, S. 17 und 22; 1, S. 180f. und 195; 7, S. 1517].

    Im Jahr 1917 unterstellte man die vormals von einem Kommandeur geleiteten Etappensanitätsdepots den Stabsapothekern, die jedoch als Militärbeamte keine unmittelbare Disziplinargewalt ausüben konnten – hier traten die Nachteile der Zwitterstellung der Apotheker als Militärbeamte besonders hervor [1, S. 12 und 195; 16, S. 810f; 24].

    Hauptsanitätsdepot Antwerpen

    Das Heer errichtete Ende 1914 kurzfristig in Belgien unmittelbar hinter der Front ein ursprünglich nicht geplantes Hauptsanitätsdepot mit paraindustrieller Herstellung, welches zu einer von zahlreichen Sanitätsoffizieren und Militärapothekern – sogar von verbündeten Armeen und neutralen Staaten – wiederholt besichtigten Mustereinrichtung avancierte [1, S. 295].

    Im besetzten Antwerpen konnte man die Räume und Geräte der „Pharmacie centrale“ respektive „Hooft Apothek“ nutzbar machen, aus der vormals die belgischen Sanitätsdepots Sanitätsmaterial bezogen. Bereits drei Wochen nach der Einnahme von Antwerpen im Oktober 1914 setzte sich das vorgesehene Personal dorthin in Marsch, darunter ein Chefarzt als Dienststellenleiter, fünf Apotheker, mehrere Verwaltungsbeamte und weiteres Hilfspersonal. Aufgrund der logistisch günstigen Lage wurde auf Bestreben des fachtechnischen Leiters, eines Korpsstabsapothekers, hier eine Fabrikationsstätte eingerichtet, um den Bedürfnissen der Front besonders gut Rechnung tragen zu können. Pharmazeutische und technische Gerätschaften aus der Heimat und Eigenanfertigungen ergänzten den vorhandenen Maschinenpark, der aus Dampfsterilisatoren, Tablettenpressen, Perkolatoren und verschiedenen weiteren Geräten bestand. Schon kurz nach Aufstellung stellte man weiteres Personal ein und bis zur Auflösung des Depots nach drei Jahren Betriebszeit fanden dort 200 Arbeiterinnen aus der besetzten Stadt eine Verdienstmöglichkeit [1, S. 285 - 287].

    Die vier eingerichteten Abteilungen, darunter das Laboratorium, die Tabletten- und Ampullenherstellung, die Verbandmittel-abteilung und eine vierte für Versand und Buchführung, unterstanden Oberapothekern. Zur Herstellung gelangten Salben, Tinkturen, essigsaure Tonerde, Fluidextrakte und Protein-Silber-Zubereitungen. Letztere wurden, da als Proteinquelle lediglich Bluteiweiß verfügbar war, unter großem Aufwand aus Pferde- und Rinderblut hergestellt und erfüllten sogar die Anforderungen des Arzneibuches. Monatlich verließ über eine Tonne dieser Präparate die flämische Stadt, wodurch die Forderung des Kriegsministeriums, den gesamten Heeresbedarf in Antwerpen herzustellen, erfüllt werden konnte [1, S. 288f.].

    Neben Arznei- und Verbandmitteln produzierte man auch Nahrungsmittel für die Kriegs- und Feldlazarette in großem Stil, darunter 40 t Marmelade, 20 t Kunsthonig und Fleischsaftersatz für Schwerkranke. In Nähstuben entstanden Bettlaken, Kopfkissenbezüge, Krankenbekleidung und Totenhemden. Zwei Werkstätten setzten medizinische Instrumente instand, darunter auch etliche Rekordspritzen, die von fast der gesamten Westfront zu diesem Zweck nach Antwerpen gelangten. Alleine die Buchführung der Werkstatt für chirurgische Instrumente beanspruchte schließlich zwei Mann [1, S. 290 - 293].

    Tätigkeiten bei den Kompanien und Lazaretten 

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    Abb. 4: Apothekenwagen [18, S. 74]
    „Nun kam der Rest zurück, fast ohne Offiziere, Musik an der Spitze, die Maroden auf Wagen zum Schlusse. Auch die Marschierenden gingen nur langsam, alle auf Stöcke gestützt. Aus unseren Beifallsrufen machten sie sich nicht viel. Heroischer Gleichmut war den bärtigen Gesichtern aufgeprägt, die soeben den Untergang so vieler lieber Kameraden mit erlebt, aber auch dazu beigetragen hatten, den Durchbruch der Franzosen zu vereiteln.“ [18]

    So erlebte ein Militärapotheker den Rückmarsch einer Kompanie aus einer verlustreichen Schlacht in der Champagne mit – ein sich in diesem Krieg an vielen Stellen wiederholender Eindruck.

    Nach der für die Organisation des Sanitätsdienstes maßgeblichen Vorschrift, der Kriegssanitätsordnung aus dem Jahr 1907, gehörte zu jedem Armeekorps ein Sanitätsbataillon, bestehend aus drei Sanitätskompanien und zwölf Feldlazaretten [4, S. 6]. Bei den Sanitätskompanien verwalteten Oberapotheker das für die Truppenverbandplätze, Hauptverbandplätze und Revierstuben bestimmte Sanitätsmaterial und stellten aus ihren Sanitäts-, vulgo Apothekenwagen, Ersatz für das weiter an der Front Verbrauchte. Darunter waren Äther, Chloroform, Morphin, Tetanusserum, des Weiteren auch Rizinusöl, Tannalbintabletten, Salicyltalg und Kresolpuder sowie ärztliche Instrumente. Auch führten sie vor Ort Wasseruntersuchungen bzw. laborchemische Untersuchungen auf ärztliche Anweisung durch. Während großer Kämpfe mit zahlreichen Verwundeten hatten sie am Hauptverbandplatz alle Hände voll zu tun: Verbandmaterial und Arzneimittel mussten verausgabt, Kochsalz- und Glucoselösung bereitet und sterilisiert sowie Nachschub aus den Depots, notfalls auch aus Feldlazaretten rechtzeitig organisiert werden. Einige Militärapotheker haben darüber hinaus auch bei Operationen assistiert, in den Kampfphasen setzte man sie gelegentlich sogar bei der Sichtung von Verwundeten ein [1, S. 261; 18].

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    Abb. 5: Apotheke auf einem Hauptverbandplatz [18, S. 54]
    In den Feldlazaretten hatten die Oberapotheker im Gegensatz zur Sanitätskompanie fachkundiges Personal zur Hand, das zum Teil zum sogenannten Apothekenhandarbeiter pharmazeutisch ausgebildet war. So standen zur Durchführung von physiologisch--chemischen (Harn und Mageninhalt), aber auch bakteriologischen (Blut und Sputum) und Lebensmittel-Untersuchungen höhere Kapazitäten zur Verfügung; zusätzlich fertigte man auch Rezepturen in größerem Maßstab an [1, S. 108; 10, S. 93f.].

    Ein besonderes Dokument in diesem Zusammenhang sind die anonym veröffentlichten persönlichen Kriegserinnerungen und lebhaften Schilderungen von Leopold Rosenthaler (1875 - 1962), der in Deutschland als Kind einer jüdischen Familie geboren wurde und am Pharmazeutischen Institut der Universität Bern wirkte. Kurz nach seiner Ernennung zum außerordentlicher Professor dort zog man ihn als deutschen Militärapotheker im Rahmen der Mobilmachung ein [25]. Obgleich pharmazeutische Kriegserfahrungen in den zwanziger und dreißiger Jahren in den deutschen pharmazeutischen Periodika regelmäßig veröffentlicht wurden [z. B. 7; 6; 9 - 13; 15; 16], findet sich zu Rosenthaler nichts. Dies korreliert mit der Nichtveröffentlichung seiner wissenschaftlichen Beiträge, die die vom Nationalsozialismus gleichgeschaltete Fachpresse ablehnte. Vermutlich entschied sich Rosenthaler aus diesen Gründen für eine anonyme Veröffentlichung. Seine pharmaziehistorisch bislang wenig beachteten Erfahrungen im besetzten Frankreich oszillieren zwischen völlig friedvollen Ereignissen in idyllischen Dörfern – anfangs wurde selbst Artilleriebeschuss nicht als allzu bedrohlich empfunden – und später auch prägenden Ereignissen an der Front.

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    Abb. 6. Apotheke eines Feldlazarettes mit Chefarzt (links) und Oberapotheker [18, S. 49]
    Kurz nach der Mobilmachung in Deutschland angelangt, meldete sich Rosenthaler beim Sanitätsamt, „natürlich glühend vor Eifer, meine Dienste bis zum letzten Atemzug dem Vaterland zu widmen“ [18].

    Rosenthalers Dienstposten als Korpsstabsapotheker befand sich zunächst in der Straßburger Festung. Da Ende 1914 deutsche Erfolge auf ein vermeintlich schnelles Ende des Krieges hindeuteten, schien es Rosenthaler „unleidlich und ungehörig, nicht im Felde gewesen zu sein“ [18], und er erwirkte eine Versetzung an die Westfront, die im darauffolgenden Frühjahr erfolgte.

    Die mit zahlreichen Verwaltungsaufgaben betrauten Korpsstabs-apotheker unterlagen durch die Bewegungen ihrer Generalkommandos einer regen Reisetätigkeit und waren beritten oder motorisiert für ihre Außendiensttätigkeiten bei diversen Inspizierungen. Durch diese Mobilität und eine relativ eigenständige Diensteinteilung erlebten sie den Krieg zum Teil in schärfsten Kontrasten, wie Rosenthaler berichtet:

    „In einem der Krankenwagen sah ich ein eigenartiges Bild, das treffend die bunte Gegnerschaft zeigte, die sich im Weltkrieg gegen uns vereinigt hatte. Die vier darin beisammen liegenden Verwundeten waren: ein Russe, ein Algerer, ein Marokkaner und ein Engländer. Von diesen weniger erhebenden Eindrücken konnte man sich im Museum erholen, in dem besonders die vortrefflichen Pastelle La Tour´s durch ihre Ausführung unsere Bewunderung, durch die dargestellten Personen, darunter viele Berühmtheiten des 18. Jahrhunderts unser Interesse erregten.“

    „Ich konnte nachmittags wissenschaftliche Arbeiten in einem Laboratorium ausführen, konnte dann Abends in dem schönen von den Deutschen fertiggestellten Liller Theater eine Glanzvorstellung eines deutschen Hoftheaters genießen und wenige Stunden später im Schützengraben auftauchen.“

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    Abb. 7: Korpsstabsapotheker waren zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben beritten [18, S. 33].
    „Es wird nicht immer leicht, daran zu glauben, daß man im Krieg und nur wenige Kilometer von der Front entfernt ist. Die Zivilbevölkerung ist noch zahlreich vorhanden, die Straßenbahnen verkehren bis weit hinaus, und in Lille kann man alles machen, was man in einer derartigen Großstadt machen kann, promenieren, flanieren, ins Theater gehen oder das Museum besuchen. Letzteres zeigt allerdings starke Spuren des Krieges.“ [18]

    Korpsstabsapotheker übernahmen die Revision der Truppensanitätsausrüstung, zum Beispiel Sanitätswagen und Sanitätskästen, besichtigten gemeinsam mit Hygienikern Sanitätsunterstände in den Schützengräben und inspizierten zusammen mit den Korpsärzten die Lazarette [18]. In den Schützengräben waren die berüchtigten Wetterverhältnisse an der Westfront zuweilen hinderlich:

    „Es war nicht feindliches Feuer, das mich von weiterem Vorgehen in dem Schützengraben abhielt, sondern der fürchterliche Schmutz. Ich war bis über die Kniee eingesunken, und der Weitermarsch durch den unergründlichen Schlamm des Schützengrabens war so mühsam und ermüdend, daß ich ihn einstellen musste.“ [18]

    Neben der Revision der Apotheken im Felde führten Korpsstabs-apotheker nicht nur chemisch-hygienische, sondern auch kriegstechnische Untersuchungen durch [18]. Sie vermittelten sogar bei der Beschaffung von Baustoffen für Lazarette und Genesungsheime [1, S. 179].

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    Abb. 8: In einem Waldlager eingerichtete Apotheke eines Hauptverbandplatzes [18, S. 63].
    Im Felde befassten sich die Korpsstabsapotheker außerdem mit der vorschriftsmäßigen Prüfung der Verbrauchsnachweise. Sanitätskompanien und Feldlazarette mussten diese Nachweise halbjährlich zum 1. April und 1. Oktober aufstellen, die sämtliche Ab- und Zugänge des Sanitätsmaterials enthielten – zum Teil über 10 000 einzelne Positionen. Hinzu kamen die Verordnungsbücher der Lazarette, meist tausende Rezepte enthaltend. Alle diese Positionen waren durch den Korpsstabsapotheker zu überprüfen, zu vergleichen und zu korrigieren. Bei Unstimmigkeiten wurden einzelne Belege zur Aufklärung an die Einheit übersandt und anschließend abermals geprüft, bevor das Konvolut als Ganzes wieder an die Einheit zurückging:

    „Zweifellos eine langweilige, trockene, undankbare Arbeit. Und hier und da mag ein Prüfender in der Verzweiflung sich zu dem verwegenen Gedanken verstiegen haben, eine segensreiche Fliegerbombe möchte – in seiner Abwesenheit natürlich – den ganzen Nachweisungskram in ein besseres Jenseits befördern.“ [18]

    Gasschutz 

    „War man zufällig gerade nach einem solchen Gasangriff in dem Lazarett, in das die Gaskranken befördert wurden, so bot sich ein trauriges Bild, wenn Wagen auf Wagen heranfuhr, und die Schwerkranken totenbleich, schweratmend oder röchelnd, z. T. in sterbendem Zustand, abgeladen wurden.“ [18]

    Mit Beginn des Gaskrieges ab April 1915 vermehrten sich die Aufgaben der Apotheker deutlich. Über die Etappensanitätsdepots verausgabte man zunächst erste behelfsmäßige Schutzmittel und im späteren Verlauf die entsprechend verbesserten Atemschützer, Selbstretter und Chemikalienlösungen. Die anfänglichen Schutzmaßnahmen gegen Giftgas bestanden aus nicht mehr als Mullkompressen, die mit einer von den Militärapothekern hergestellten Lösung zu tränken und vor Mund und Nase zu pressen waren. Später ausgebrachte Atemschützer verfügten über Tragebänder und ermöglichten mehr Trage-sicherheit und -komfort. Bei den Selbstrettern handelte es sich um tragbare Sauerstoffgeräte [1, S. 162, 194, 268, 270].

    Die Korpsstabsapotheker nahmen die Stellung der Gasschutz-offiziere beim jeweiligen Korpsbereich ein, ab 1916 errichtete man von Oberapothekern geleitete Instandsetzungswerkstätten. In der Schlacht um Verdun, beginnend im Frühjahr 1916, verausgabte ein typisches Etappensanitätsdepot unter anderem nahezu 500 000 Gasmasken, 4 300 Selbstretter und 2 000 000 l Sauerstoff [1, S. 196, 266, 272]. Ab dem Herbst des gleichen Jahres kommandierte man zudem Militärapotheker von der Front zu Gasschutzkursen nach Berlin und Lübeck, was auch Firmenbesichtigungen bei Herstellern von Masken und Sauerstoffgeräten inkludierte, zum Beispiel bei der Firma Dräger. Ungefähr 1 000 Apotheker nahmen an diesen Fortbildungen teil [1, S. 165f.; 6, S. 1422; 18]. In der Verantwortung der Militärapotheker waren ferner die heimatlichen Prüfungsstellen für Gasmasken, die am Orte der Maskenhersteller lagen und nach aufwändiger Prüfung die Abnahme durchführten, zuweilen bis zu 60 000 Stück am Tag. Als sogenannte Abnahmebeamte entsandte man Militärapotheker außerdem direkt zu den Herstellern von Maskenzubehör wie Filtereinsätzen, Taschen und Tragebändern. Ein Militärapotheker wirkte ferner als Lehrer an der Heeresgasschule in Berlin. Die Expertise der Pharmazeuten auf diesem Gebiet machten sich auch die Kriegsverbündeten zu Nutze, wie die Kommandierung mehrerer Oberapotheker dorthin zur Überwachung der Instandsetzung von Gasschutzmitteln zeigt [1, S. 162 - 169 und 278].

    Chemische Untersuchungen

    Den Sanitäts- bzw. Etappensanitätsdepots waren sogenannte chemische Untersuchungsstellen angegliedert, die zahlreiche Untersuchungen übernahmen – teils mehr als 1 000 monatlich [1, S. 281f.]. Hier analysierten die Apotheker Nahrungs- und Genussmittel, Zahn-, Mund- und Kopfwasser, Schmiermittel, Bremsflüssigkeiten, Reinigungsfette, Seifen, Waschmittel, Tierfutter, Decken, Bekleidung und Uniformreinigungsmittel [1, S. 38 - 40]. Hinzu kamen Brunnen und weitere Trinkwasserquellen sowie die Untersuchung von geeigneten Gegenständen aus Metall, um diese in die Heimat zu überführen [1, S. 258; 18].

    Zusätzlich fertigte man regelmäßig gerichtliche Gutachten an, etwa zum Aufklären von Vergiftungen mit Todesfolge, über Leichenteile, beschlagnahmte Arzneimittel, Sprengstoffe, Urkundenfälschungen, Geheimtinten und vieles andere mehr [1, S. 59 und 131]. Die physiologischen und toxikologischen Untersuchungen umfassten ferner Substanzen zum Vortäuschen von Krankheiten und gegen Ende des Krieges auch die Untersuchung des Harns von Malaria-Erkrankten oder Personen unter Prophylaxe, um die Einnahme des Chinins zu kontrollieren, das sich keiner großen Beliebtheit erfreute [1, S. 130f.]. Die chemischen Untersuchungsstellen betätigten sich sogar an der Präparierung von witterungsbedingt unlesbar gewordenen Inschriften auf hölzernen Grabkreuzen und konnten in vielen Fällen zur Aufklärung der Namen von Gefallenen beitragen [1, S. 133].

    Versorgung der Zivilbevölkerung

    In den besetzten Gebieten oblagen den Militärapothekern die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung und die Überwachung des Arzneimittelverkehrs [1, S. 227]. In Orten, in denen keine Zivilapotheke bestand oder eine solche nicht erreichbar war, übernahm das Militär die Arzneimittelversorgung auch für die Zivilbevölkerung; an Arme erfolgte die Abgabe kostenlos [18]. In Belgien führten die Militärapotheker zudem nicht nur die Aufsicht über die Zivilapotheken, sondern auch über die Nahrungsmittelproduktion [1, S. 283 - 285].

    Bei der Beschaffung von Sanitätsmaterial versuchte man weitgehend, die Zivilapotheken in den besetzten Gebieten nicht zu tangieren. Die Korpsstabsapotheker wirkten zusammen mit der Heeresverwaltung sogar vermittelnd bei der Erteilung von Ausfuhrbewilligungen, um diese Apotheken gegebenenfalls über die pharmazeutische Industrie oder Großhandlungen aus Deutschland beliefern zu lassen, was logistisch über das Etappensanitätsdepot geschah, das von den ortsansässigen Apothekern auch das Geld einzog. In dringenden Fällen konnten Zivilapotheken in den besetzten Ländern auch unmittelbar aus den Beständen der Etappensanitätsdepots beliefert werden [1, S. 183]. In den zivilen Apotheken mussten jedoch zum Teil Beschlagnahmungen von Venena vorgenommen werden, um mutmaßlichen Vergiftungen von deutschen Soldaten Einhalt zu gebieten, die indes meist auf deren Leichtsinn zurückzuführen waren [18].

    Das in vielen Fällen bestehende gute Verhältnis zur Bevölkerung der besetzten Gebiete konnte insbesondere durch sanitätsdienstliche Maßnahmen verfestigt werden:

    „Viel Verdienste haben sich unsere Ärzte um die Bevölkerung erworben. Sie behandelten völlig unentgeltlich, und auch die Arzneimittel wurden lange Zeit für alle, für die arme Bevölkerung immer, ohne Bezahlung abgegeben.“ [18]

    Rosenthaler bemerkte dazu weiter:

    „Niemals krümmten sie einem von uns auch nur ein Haar, auf dem Lande […] war man bei Tag und bei Nacht in Wald und Flur so sicher als je in Deutschland und niemandem von uns wäre es eingefallen auf Spaziergängen eine Waffe mitzunehmen.“ [18]

    Schutztruppe Deutsch-Ostafrika

    Ein besonderes Kapitel der deutschen Militärpharmazie eröffnete sich bei der Kaiserlichen Schutztruppe im damaligen Deutsch-Ostafrika bei der Verteidigung der deutschen Besitzungen unter Oberstleutnant Paul von Lettow-Vorbeck (1870 - 1964). Die medizinische und pharmazeutische Versorgung war für die englische wie auch die deutsche Seite essenziell, da beide Gegner vom regelhaften Nachschub aus der Heimat abgeschnitten waren. Mit großem Einfallsreichtum und Improvisationsvermögen gelang es Regierungsapotheker und Stabsapotheker d. R. Rudolf Schulze nach Aufzehrung der Vorräte mit örtlich vorhandenen und primitiv anmutenden Ressourcen Arznei- und Verbandmittel von relativ hoher Qualität herzustellen und so die Versorgung der Truppe zu sichern. Im Zuge einer autarken Versorgung betrieb die Schutztruppe in Daressalam (heute Tansania) Spinnereien, Färbereien und Webereien, ein Laboratorium zur Gummifabrikation, und sogar ein Benzinersatz aus Kokosöl wurde hergestellt. Doch die Autarkie umfasste längst auch Arznei- und Verbandmittel: Als Salbengrundlage verwendete man das Fett autochthoner Rinder und Elefanten, das Quecksilber für Salben gewann man durch Aufreinigung aus den Überschüssen von Goldminen. Unter Rückgriff auf örtliche Ressourcen produzierte man außerdem Seifen aus Nilpferdfett, essigsaure Tonerde, Strophanthus-Tinktur, Digitalis-Ersatz, Rizinusöl, Bolus alba, Borsalbe und Pasta Zinci mit Elefantenfett als Grundlage, ferner Zahnpflegemittel wie Pasten und Bürsten aus den Mähnen von Antilopen [1, S. 376f.; 20, S. 72].

    Als Rohstoff für Verbandwatte diente die örtlich vorhandene Rohbaumwolle, die aufwändig verarbeitet, entfettet und mit Kopierpressen zu entsprechenden Paketen konfektioniert wurde. Einheimische Bäume lieferten geeignete Fasern für Verbandmull. Sogar die Verwendung von Banknoten für der Not geschuldete Papierbandagen überprüfte Stabsapotheker Schulze, musste dies aber auf Befehl unterlassen – unter gleichzeitiger Wiederaufbereitung der Geldscheine [1, S. 377 - 379; 20, S. 73].

    Besonderer Aufwand kam der Erzeugung des in den Tropen wichtigen Chinins zu. Insgesamt betrug der Verbrauch der deutschen Truppen in Ostafrika etwa 1 000 kg, von denen die Hälfte importiert oder erbeutet werden konnte. Die andere Hälfte wurde durch die Militärapotheker der Schutztruppe erzeugt und ermöglichte durch die Erhaltung der Kopfstärke eine Fortführung der Kämpfe. Als zu Beginn des Jahres 1915 die Chinin-Vorräte der Schutztruppe zur Neige gingen, griff man auf die Bestände der Chinarinde zurück, gewonnen aus örtlichen Kulturen des Cinchona-Baumes. In einem kleinen Labor in Mpwapwa (Tansania) extrahierte man mit aus privaten Beständen gekauften Säuren und Kalk ein Alkaloidgemisch, allerdings nur mit einer geringen Ausbeute an Chinin selbst. Da auch größere Ansätze in Eichenfässern keinen größeren Erfolg brachten, verwendete Schulze folglich auch die gewonnenen Nebenalkaloide – stets einen Anteil Chinin enthaltend – unter der Bezeichnung Chinoidin in einer zehnprozentigen Lösung, die täglich einzunehmen war. Diese Zubereitung erwies sich als erfolgreich zur Malariaprophylaxe. Später konnten einige Tonnen Chinarinde erbeutet und aus dem gewonnenen Chinin auch die Zivilbevölkerung versorgt werden. Da mit dem Rückzug der deutschen Truppen die Herstellung eingestellt werden musste, wich man zur Versorgung der Soldaten auf eine flüssige Zubereitung aus, die die inoffizielle Bezeichnung „Lettowschnaps“ erhielt. In Ermangelung von Flaschen – diese bewährten sich inzwischen als Isolatoren von Feldtelegrafen-Leitungen – dienten zum Abfüllen sogar die ausgehölten Früchte des Affenbrotbaumes [1, S. 373 - 376; 20, S. 76].

    Schlussbemerkung

    Die Militärpharmazie der deutschen Landstreitkräfte war bereits für den Kriegsfall minutiös organisiert und nahm mit der Mobilmachung erhebliche Ausmaße an. Im Inland wie im Ausland unternahmen die deutschen Militärapotheker dabei große Anstrengungen zur Sicherstellung des Auftrages und zeigten an vielen Stellen ein bemerkenswertes Talent zur Organisation und Improvisation. Angesichts des großen im Ersten Weltkrieg betriebenen militärpharmazeutischen Aufwandes kommt der kriegsgediente Korpsstabsapotheker Leopold Rosenthaler, trotz zum Teil großer zu überwindender Schwierigkeiten, zu folgendem Schluss:

    „Dem deutschen Heer hat es, so lange auch der Krieg dauerte, nie an dem gefehlt, was die Pharmazie zu besorgen hatte.“ [18]

    Literatur

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    3. Dirks C, Müller B: Geschichte der Wehrpharmazie. Ausstellung. Deutsche Apotheker Zeitung 1995; 135: 1986 - 1988.
    4. Droste []: Für Militär-Apotheker. 100 wichtige Fragen und Antworten aus der Kriegs-Sanitäts-Ordnung. Berlin 1908.
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    8. Müller B: Militärpharmazie in Deutschland bis 1945. Stuttgart 1993                       (= Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, 68).
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    12. Proelss H: Die deutsche Militärpharmazie. IV. Teil. Früher, im Weltkrieg und jetzt. Apotheker-Zeitung 1932; 47: 947f.
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    17. Richter E: Ampullen. Apotheker-Zeitung 1926; 41: 147f.
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    Zitierweise:

    Vongehr F: Zur deutschen Militärpharmazie im Ersten Weltkrieg. Wehrmedizinische Monatsschrift 2018; 62(8): 276 - 283.

    Citation: 

    Vongehr F: On the History of German Military Pharmacy in World War I. Wehrmedizinische Monatsschrift 2018; 62(8):  276 - 283.


    Verfasser
    Oberstabsapotheker Dr. rer. nat. Frederik Vongehr
    Versorgungs- und Instandsetzungszentrum Sanitätsmaterial Quakenbrück
    Ostlandstraße 26, 49610 Quakenbrück
    E-Mail: frederikvongehr@bundeswehr.org 

    Datum: 16.08.2018

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