13.01.2009 •

    125 JAHRE KRANKENVERSICHERUNG

    Das Krankenversicherungsgesetz von 1883

    Kaum ein sozialpolitisches Thema erregte in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer wieder so sehr die Gemüter wie die Krankenversicherung und deren Finanzierung – und dies sowohl auf Seiten der Patienten wie auch der Ärzte, Zahnärzte, Apotheker und anderer Heilberufe, unterschiedlicher Industriezweige sowie der Krankenkassen, Kostenträger und Sozialpolitiker. Im folgenden Beitrag sollen die Anfänge der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland skizziert und vor allem das grundlegende „Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ vorgestellt werden, das im Jahre 1883 verabschiedet wurde und ab 1. Dezember 1884 in Kraft trat. Vor 125 Jahren wurden mit dieser Gesetzgebung und ihrer Inkraftsetzung Vorgaben und Grundlinien geschaffen, die noch unsere heutigen Strukturen des zivilen Gesundheitswesens beeinflussen und auch in den militärmedizinischen Bereich hineinwirken.

    Photo
    Die herausragende deutsche Politikerpersönlichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war zweifellos Otto von Bismarck (1815-1898). Vor allem dem Machtbewusstsein und dem diplomatischen Geschick des preußischen Ministerpräsidenten war zunächst die Gründung des Norddeutschen Bundes (1867) und schließlich 1871 des Deutschen Reiches unter preußischer Führung zuzuschreiben, in dem er die mächtige Position des Reichskanzlers einnahm. Bismarck sicherte außenpolitisch durch eine planvolle und ausgeklügelte Bündnispolitik die neue Großmachtstellung des Deutschen Reiches ab, wie er auch die Innenpolitik dominierte und wie kein anderer prägte.

    Kulturkampf und Sozialistengesetz

    Teil dieser Innenpolitik des konservativ-monarchistischen Machtpolitikers Bismarck (Abb. 1) war auch die Bekämpfung politischer Strömungen, die seinen Vorstellungen zuwider liefen. So richtete sich der 1871 beginnende Kulturkampf gegen die katholische Kirche und besonders den politischen Katholizismus, wie Bismarck auch gegen liberale Strömungen und vor allem die Sozialdemokratie vorging, die sich in den 1860er und 1870er Jahren organisiert hatte. Ein wichtiges Instrument Bismarcks bildete das Sozialistengesetz des Jahres 1878, das es erlaubte, die Anhänger sozialdemokratischer Organisationen wie der Sozialistischen Arbeiterpartei SAP und der Gewerkschaftsbewegungen politisch auszugrenzen und zu unterdrücken. Parallel hierzu setzte Bismarck jedoch noch auf eine andere Strategie, indem er versuchte, die Lebenssituation und die soziale Lage der Arbeiter „von oben“ zu verbessern, um sie wieder stärker an das Reich zu binden, ihre Begehrlichkeiten zu befriedigen und damit schlussendlich die sozialistische bzw. sozialdemokratische Bewegung und deren Organisationen zu unterlaufen.

    Der Beginn der Sozialversicherung

    Photo
    Wesentliches Element dieser staatlichen Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensumstände war eine neuartige, im internationalen Vergleich beispiellose Sozialgesetzgebung, die in den 1880er Jahren eingeführt wurde und bis heute nachwirkt. Die Ankündigung der Sozialgesetze erfolgte in der Eröffnungssitzung des Reichstags am 17. November 1881 in einer „Kaiserlichen Botschaft“ Wilhelms I., die durch den Reichskanzler – also Fürst Bismarck, der auch als Initiator der Sozialgesetzgebung anzusehen ist – verlesen wurde. In den folgenden Jahren wurden drei tragende Säulen beschlossen und in Kraft gesetzt: Zuerst wurde 1883 das Krankenversicherungsgesetz verabschiedet, es folgten 1884 die gesetzliche Regelung der Unfallversicherung und 1889 die Verabschiedung eines Gesetzes zur Invaliden- und Altersversicherung (Abb. 2).

    Das Krankenversicherungs gesetz von 1883

    Das „Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ vom 15. Juni 1883 umfasste 88 Paragraphen und stellt den Vorläufer unserer modernen gesetzlichen Krankenversicherung dar. Zwar hatte es bereits zuvor Hilfskassen, Selbsthilfeeinrichtungen wie etwa die Knappschaftskassen der Bergleute oder Betriebskrankenkassen gegeben; eine umfassende Zwangs-Krankenversicherung für breitere Bevölkerungskreise war jedoch ein Novum nicht nur der deutschen Sozialgeschichte. Dieses Gesetz bildete den Anfang des weltweit ersten umfassenden Sozialversicherungssystems, das – trotz mancher Schwächen, Unzulänglichkeiten und Reformbedürftigkeit – für viele Länder beispielgebend war und vielfach noch ist.

    Ein wesentliches Merkmal der Krankenversicherung bildete der Versicherungszwang für Personen, „welche gegen Gehalt oder Lohn beschäftigt sind“, und dies in unterschiedlichsten Branchen von Industrie, Handwerk und Gewerbe, also de facto für alle gewerblich tätigen Arbeiter. Ferner konnte die Versicherungspflicht in den Bezirken auch auf andere Erwerbstätige ausgeweitet werden, wie etwa Forst- und Landarbeiter, Handelsgehilfen, Personen im Transportgewerbe, „selbständige Gewerbetreibende, welche in eigenen Betriebsstätten im Auftrage und für Rechnung anderer Gewerbetreibender mit der Herstellung oder Bearbeitung gewerblicher Erzeugnisse beschäftigt werden“ und andere mehr. Vorgesehen waren unterschiedliche Organisationsformen: So bestanden neben den Orts- Krankenkassen, den Betriebs- oder Fabrik- Krankenkassen, den Bau- und den Innungs- Krankenkassen sowie den Knappschafts- und Hilfskassen noch die Gemeinde-Krankenversicherungen für alle Versicherungspflichtigen, die nicht einer der anderen Kassen angehörten. Neben den Pflichtversicherten konnten der Gemeinde-Krankenversicherung auch weitere nicht versicherungspflichtige Personengruppen sowie Dienstboten beitreten. Die Gemeinde-Krankenversicherungen gewährten im Falle der Erkrankung „freie ärztliche Behandlung, Arznei, sowie Brillen, Bruchbänder und ähnliche Heilmittel“ sowie bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit „vom dritten Tage nach dem Tage der Erkrankung ab für jeden Arbeitstag ein Krankengeld in Höhe der Hälfte des ortsüblichen Tagelohnes gewöhnlicher Tagearbeiter“, dies jedoch nur bis zum Ablauf der 13. Woche nach Krankheitsbeginn. Die Gemeinden hatten die Möglichkeit, eine Einschränkung der Ansprüche auf Krankengeld bei Vorsatz oder Eigenverschulden, etwa durch schuldhafte Schlägereien, „Trunkfälligkeit“ oder „geschlechtliche Ausschweifungen“, zu beschließen. Auch für die freie Behandlung und Verpflegung im Krankenhaus sowie gegebenenfalls die Unterstützung unterhaltsberechtigter Angehöriger durch das dann halbierte Krankengeld war gesorgt. – Der (Regel-)Beitragssatz sollte bei eineinhalb Prozent des ortsüblichen Tagelohnes liegen. Überschüsse sollten in einem „Reservefonds“ angesammelt werden, bei Deckungslücken hatte die Gemeindekasse in Vorleistung zu treten, bis ein Ausgleich über den Fonds oder Beitragserhöhungen auf bis zu zwei Prozent möglich war.

    Die Orts-Krankenkassen

    Die berufsgenossenschaftlich organisierten Orts-Krankenkassen konnten hingegen für die „in einem Gewerbszweige oder in einer Betriebsart beschäftigten Personen“ errichtet werden, wobei die Leistungen mindestens den Katalog der Gemeinde-Krankenversicherung (dem somit der Rang einer Grundversorgung zukommt) zu umfassen hatten. Zusätzlich war die gleiche Unterstützung für Wöchnerinnen in den ersten drei Wochen nach Geburt vorgesehen, ebenso ein Sterbegeld in Höhe des 20fachen Satzes des ortsüblichen Tagelohnes. Auch darüber hinaus waren Erweiterungen des Leistungskatalogs, Ausweitungen der zeitlichen Beschränkungen und eine Einbeziehung von Familienmitgliedern in die Leistungspflicht möglich. Die Höhe des Beitragssatzes war ebenfalls gesetzlich geregelt, ferner der Mindestumfang der Rücklagen in Höhe einer durchschnittlichen Jahresausgabe. Neben anderen Modalitäten wie etwa der Meldepflicht durch den Arbeitgeber wurde in gemeinsamen Bestimmungen für die Gemeinde- Krankenversicherungen und die Orts- Krankenkassen der Arbeitgeberanteil am Beitrag auf ein Drittel festgelegt. Die Betriebs- bzw. Fabrik- sowie die Bau- und Innungs-Krankenkassen waren in ihren Grund strukturen und Leistungen im Wesentlichen den Orts-Krankenkassen vergleichbar. Mitglieder der Knappschaftskassen waren (bei entsprechend definiertem Leistungsumfang) von der Versicherungspflicht in einer der anderen gesetzlichen Krankenkassen befreit, wie auch Mitglieder von Hilfskassen nicht versicherungspflichtig waren, wenn die Leistungen wenigstens dem Niveau der Gemeinde- Krankenversicherung entsprachen (Abb. 3).

    Weitere Stationen der GKV

    Photo
    Im Jahre 1911 schließlich wurde die Reichsversicherungsordnung (RVO) verabschiedet. Sie wurde von 1911 bis 1914 sukzessive in Kraft gesetzt und stellte – über alle Staatsformen hinweg und natürlich mit vielfältigen Änderungen – das zentrale Gesetzeswerk zur Sozialversicherung und damit auch des Krankenversicherungsrechts im 20. Jahrhundert dar. Erst seit Mitte der 1970er Jahre wurde die RVO durch das Sozialgesetzbuch abgelöst, das heißt für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung mit Inkrafttreten des V. Teils des Sozialgesetzbuches zum 1. Januar 1989. Bei allen unterschiedlichen Anliegen der verschiedenen Interessengruppen – die es übrigens schon sehr früh gegeben hat und die zusammen mit den gesamtpolitischen und demographischen Entwicklungen zu vielfachen Anpassungs- und Reformbestrebungen führten – hat diese in vielen Kernpunkten bis heute gültige Gesetzgebung in hohem Maße zum Ausbau eines leistungsfähigen, solidarischen Gesundheitssystems beigetragen.

    Datum: 13.01.2009

    Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2009/1

    Meist gelesene Artikel