Einleitung
Durch den angestrebten Paradigmenwechsel in der Zahnmedizin, weg von Ästhetik, Kosmetik und Wellness, hin zu oral-medizinischen Zusammenhängen, nimmt der Zahnarzt verschiedenste Rollen als Oralmediziner ein. Neben Aufgaben aus der Prothetik und der konservierenden Zahnheilkunde gilt er als „Entzündungsmanager“, „Hüter der oralen Immunkompetenz“ und auch als früher „Detektor“ verschiedenster pathologischer Veränderungen in erster Linie in der Mundhöhle aber auch im kompletten Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich.
Den seltenen Tumoren der Speicheldrüsen (vor allem der kleinen Speicheldrüsen) als pathologischer Befund in der Mundhöhle wird hierbei oftmals zu wenig Beachtung geschenkt, was sich negativ auf die Prognose und Therapie auswirken kann. Tumoren der Speicheldrüsen sind in ihrem histologischen Bild sehr vielfältig (die Weltgesundheitsorganisation sprach 2022 von 15 benignen und 21 malignen Entitäten), was häufig zu erheblichen histologischen Überlappungen und Abgrenzungsproblemen zwischen verschiedenen Tumorentitäten aber auch unterschiedlicher Dignität (benigne vs. maligne) führt.
Tumore der kleinen (hauptsächlich intraoralen) Speicheldrüsen umfassen nur ca. 20 % aller Speicheldrüsentumore, z. T. in Form von sehr seltenen Entitäten und in ungewöhnlichen Lokalisationen. Durch diese Seltenheit liegen sowohl in der Klinik als auch in der Pathologie allgemein wenig Erfahrung vor und das therapeutische Prozedere ist häufig unterschiedlich. So besteht in diesem Zusammenhang der Eindruck einer wesentlich größeren „diagnostischen Schwierigkeit“ bzw. einer geringeren Sicherheit im Umgang mit Tumoren der kleinen Speicheldrüsen im Vergleich zu Tumoren der großen Speicheldrüsen, was sich offenbar in häufigeren histologischen Fehldiagnosen manifestiert, auch die Dignität betreffend. Dies kann in der Konsequenz einerseits eine ungenügende Therapie mit konsekutiver Tumorprogression, andererseits eine Übertherapie mit unnötig starker Morbidität bedingen.
Da in der Literatur zwar von einer „größeren diagnostischen Schwierigkeit“ gesprochen wird, es aber zu dieser Frage und zu den potentiellen Gründen keine umfassenden Untersuchungen, speziell keine statistischen Belege gibt, wurde diese Thematik im Rahmen einer Doktorarbeit durch den Verfasser untersucht. Wesentliche Teile des vorliegenden Artikels beruhen auf dieser Promotionsschrift.
Material und Methoden
In der Gegenüberstellung einer Konsilserie (S. I., mit bewusstem Bias wegen grundsätzlich „schwieriger“ Fälle: n = 809) und einem kumulativen Normalkollektiv (aus nicht-selektionierten Serien der Literatur: n = 6 380) erfolgte ein statistischer Vergleich zwischen Tumoren von kleinen und großen Speicheldrüsen hinsichtlich zahlreicher potentieller Ursachen und Konsequenzen einer schwierigeren Diagnostik von Tumoren der kleinen Speicheldrüsen. Die dabei gewonnenen Ergebnisse wurden durch subjektive Kriterien, gewonnen im Rahmen von Routine- und Konsil-Diagnostik (S. I.) und aus der Literatur, ergänzt.
Ergebnisse und Diskussion
Tumore der kleinen Speicheldrüsen umfassen im Normalkollektiv 21,6 % aller Speicheldrüsentumore. Dies bedeutet in allen Aspekten der Klinik und Pathologie geringere Erfahrung und weniger sichere wissenschaftliche Erkenntnisse als bei Tumoren der großen Speicheldrüsen. Dagegen umfassen Tumore der kleinen Speicheldrüsen in der eigenen Konsilserie 46,7 % aller Speicheldrüsenfälle (im Vergleich signifikant überpräsentiert). Da in aller Regel nur diagnostisch schwierige bzw. unklare Tumore zu einer konsiliarischen Mitbeurteilung versandt werden, war bereits dies ein erster klarer statistischer Hinweis auf eine größere diagnostische Schwierigkeit bei Tumoren der kleinen Speicheldrüsen.
Derartige Tumore sind mehr als doppelt so häufig maligne (54,1 %) wie Tumore der großen Speicheldrüsen. Eine derart größere relative Häufigkeit von Malignität in kleinen Speicheldrüsen bedeutet für die Patienten eine größere prognostische und therapeutische Relevanz und für die Pathologie eine starke Konzentration auf schwierigere Fälle.
Die Karzinome der kleinen Speicheldrüsen waren in der eigenen Konsilserie signifikant häufiger gut differenziert (93,7 %) als die der großen Speicheldrüsen (72,9 %; Literaturdaten hierzu fehlen überwiegend). Gut differenzierte Karzinome der Speicheldrüsen zeigen häufig nur geringe oder fehlende Zellatypien, keine gesteigerte proliferative Aktivität und in bestimmten Konstellationen (v. a. bei Biopsien) keine eindeutige Infiltration. Somit liegen oftmals keine sicheren klassischen histologischen Kriterien für Malignität vor und daher ist die Abgrenzung von benignen Adenomen häufiger schwieriger (oder gar nicht möglich) als bei Tumoren der großen Speicheldrüsen.
Es ist in der Pathologie allgemein anerkannt, dass bei kleinen und/oder oberflächlichen Probebiopsien eine eindeutige Diagnosestellung schwieriger und damit weniger sicher ist als an einem kompletten Tumorresektat. Gründe sind u. a. die Einschränkung der Repräsentativität für den Gesamttumor, ein fehlender oder nicht möglicher Nachweis von Invasion, der mangelnde Bezug zum Oberflächenepithel sowie assoziierte artifizielle Veränderungen (beispielsweise Quetschungen oder Fragmentierungen). Die folgende, häufig grundlegend unterschiedliche operative Strategie bei Tumoren der kleinen Speicheldrüsen spielt hier eine wichtige, aber zu wenig beachtete Rolle.
Die in der Konsilserie etwa achtmal höhere Rate an initialen Probebiopsien bei Tumoren der kleinen Speicheldrüsen (54,5 %) im Vergleich zu Tumoren der großen Speicheldrüsen (6,8 %; signifikant; dazu kaum Daten in der Literatur) dürfte nach Einschätzung des Verfassers im Vergleich zu allen anderen Gründen den wichtigsten Faktor für eine größere diagnostische Schwierigkeit bei Tumoren der kleinen Speicheldrüsen darstellen.
Es kommt noch eine weitere Herausforderung dazu: Während Tumore der großen Speicheldrüsen in der Regel von in der Speicheldrüsenchirurgie erfahrenen Operateuren (meist in größeren Zentren tätige Fachärzte für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde oder Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie) komplett reseziert werden, erfolgen Probebiopsien von mukosalen tumorösen Läsionen durch eine potentiell große Zahl häufig operativ weniger befähigten (Zahn-)Ärzten. Eine mangelnde Erfahrung mit Tumoren der Speicheldrüsen (mitunter bedingt durch die Seltenheit) kann in dieser Konstellation häufiger zu sehr kleinen und/oder oberflächlichen, mithin schwierig oder nicht histologisch diagnostizierbaren Biopsaten führen.
Der Gaumen, als häufigste Lokalisation von Tumoren der kleinen Speicheldrüsen, spielt hierbei eine besondere Rolle. Auf Grund beengter Platzverhältnisse vor allem an der speziellen anatomischen Lokalisation des harten Gaumens ist die unabdingbare Tumorexpansion stark eingeschränkt. Konsekutive Durchblutungsstörungen führen hier häufig zu Tumornekrose, Ulzeration und entzündlichen Überlagerungen mit möglichen sekundären Veränderungen wie Plattenepithelmetaplasie. Zusätzlich erschwerend kommt hinzu, dass Tumore am harten Gaumen oft nicht bekapselt sind und so das Bild einer Pseudoinfiltration entstehen kann. Der sehr enge Raum am harten Gaumen bedingt ein weiteres Phänomen: Die Nähe zum Gaumenknochen kann zu einer frühen Knocheninfiltration von z. T. noch kleinen Karzinomen (pathognomonisch beim adenoidzystischen Karzinom) und damit zu operativen Problemen und massiver Verschlechterung der Prognose führen. Ein nach dem TNM-System als „pT1“ klassifizierter Tumor – was die Infiltration unter die Schleimhaut (subepitheliales Bindegewebe) bedeutet – kann somit unmittelbar als „pT4“ – Infiltration in Nachbarorgane – eingeordnet werden. Auch gutartige Adenome können den eng benachbarten Knochen arrodieren und damit einen radiologisch malignitätsverdächtigen Befund verursachen.
Zusammenfassung und Empfehlungen
Zusammengefasst erlaubt dieser Ansatz mit vielfältigen und sehr heterogenen statistischen Belegen zunächst den zweifelsfreien Beweis der bisherigen Hypothese, dass die histologische Diagnostik von Tumoren der kleinen Speicheldrüsen im Durchschnitt in der Tat wesentlich schwieriger ist als die der großen Speicheldrüsen. Dies bedeutet, dass die Gefahr einer Fehlinterpretation, gerade auch hinsichtlich der Dignität, deutlich größer ist. Es konnten 14 sehr unterschiedliche Ursachen identifiziert und in einem Teil der Aspekte statistisch belegt werden, die in einem komplexen Zusammenspiel für diesen Unterschied bei Tumoren der kleinen Speicheldrüsen verantwortlich sind. Die drei offenkundig wichtigsten Gründe sind eine sehr häufige initiale Probebiopsie, die fast immer vorliegende gute Differenzierung bei Karzinomen (ohne Malignitätskriterien) und eine häufig ungenügende klinisch-pathologische Zusammenarbeit. Bei Lokalisation am harten Gaumen kommen noch Besonderheiten und Komplikationen, bedingt durch eingeschränktes Tumorwachstum in diesem engen anatomischen Raum, hinzu.
Rolle der Zahnmedizin
Aus klinischer Sicht sehr bedeutungsvoll ist die Tatsache, dass die genannten Erkenntnisse eine Reihe von Empfehlungen für die Praxis erlauben, die nicht alle gänzlich neu sind, aber jetzt auf einer statistisch belastbaren Grundlage beruhen: Wenn immer möglich, ist bei Verdacht auf Tumoren der kleinen Speicheldrüsen eine primäre Exzision einer Inzisionsbiopsie vorzuziehen. Bei der Notwendigkeit einer Inzisionsbiopsie sollte diese ausreichend groß und atraumatisch erfolgen. Ergibt sie eine unklarer Histologie, sollte wenn möglich eine komplette Resektion anstatt einer zweiten Biopsie durchgeführt werden. Anzustreben ist ein interdisziplinärer Austausch bei Vorlage einer unklaren Histologie und der histologischen Diagnose früherer Biopsie/Resektion sowie einer Befunddiskrepanz zwischen Biopsie und Resektat oder Klinik und Histologie. Um mögliche, die Diagnostik erschwerende Komplikationen zu verhindern, kann eine primäre Überweisung an Zentren (mit höheren Fallzahlen und dadurch größerer Erfahrung in der Speicheldrüsenchirurgie) durchaus sinnvoll sein.
Der Entscheidung zur Biopsie muss zunächst das Erkennen dieser womöglich kleinsten Primärtumoren (z. B. Adenoidzystisches Karzinom an der Lippe mit einem Durchmesser von 3 mm; aus untersuchter Serie) vorausgehen. Die gründliche Untersuchung der Mundhöhle (meist jährlich durchgeführt), welche Bestandteil jeder „eingehenden Untersuchung zur Feststellung von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten“ – so die Vorgabe des Einheitlichen Bewertungsmaßstab für zahnärztliche Leistungen für die Abrechnung der Position „01“ bzw. die zentrale Leistung des zahnmedizinischen Beitrages zu wehrmedizinischen Begutachtungen wie beispielsweise der Allgemeinen Verwendungsfähigkeitsuntersuchung-Individuelle Grundfertigkeiten (AVU-IGF) – sein sollte, ermöglicht ein frühes Erkennen derartiger kleiner Tumore. Vor diesem Hintergrund und wegen der vielfältigen und heterogenen Besonderheiten ist bei Tumoren der kleinen Speicheldrüsen eine optimale klinisch-pathologische Zusammenarbeit äußerst wichtig.
Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2/2023
Verfasser:
Stabsarzt Dr. L. Greber
Sanitätsversorgungszentrum Bad Reichenhall
Nonner Straße 23–27
83435 Bad Reichenhall
E-Mail: LukasGreber@bundeswehr.org