FRAKTURVERSORGUNG IN DER ABTEILUNG VIIB DES BUNDESWEHRKRANKENHAUSES HAMBURG

Die Entwicklung der Gesichtsschädeltraumatologie beginnt vor Jahrtausenden als Antwort auf ein elementares, den Menschen in seiner Integrität und Individualität tief treffendes Ereignis, nämlich die Verletzung seines Gesichtes. [1]

Die Frakturversorgung ist seit jeher ein Schwerpunkt der Fachdisziplin „Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie“. Schon im 4. Jahrhundert v. Chr. wird beschrieben, wie man einen gebrochenen Unterkiefer über Draht nach Reposition an den Oberkiefer schienen soll. [2]. Während des ersten Weltkrieges waren es zuerst qualifizierte Zahnärzte, die sich massenhaft mit ausgedehnten Gesichts- und Kopfverletzungen auseinandersetzen mussten.  Aus dieser Notwendigkeit heraus entstand nach dem ersten Weltkrieg der „Facharzt für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten“, 1935 wurde die Facharztordnung erlassen. Erhöhte Anforderungen für die Kiefer-, Gesichts- und plastische  Wiederherstellungschirurgie ergaben sich auch im und nach dem Zweiten Weltkrieg, was zu einem Ausbau entsprechender Einrichtungen in ganz Deutschland führte.

Die Häufigkeit von Verletzungen im Kopf-Hals-Bereich, insbesondere bei militärischen Konflikten, nimmt zu. Obwohl Kopf, Gesicht und Hals nur ca. 12 % der exponierten Körperoberfläche ausmachen, stellten Lew et al. fest, dass bei 29 % der von Oktober 2001 bis Dezember 2007 im Irak und in Afghanistan verwundeten Soldaten der US-Army Kopf-Hals-Verletzungen vorlagen, davon bei 27 % Frakturen [3]. Der verbesserte Schutz von Thorax und Abdomen spielt eine große Rolle, da diese Verletzungen zu 84 % von Sprengkörpern (explosive devices) verursacht wurden und nur zu 8 % durch Schüsse.
Für die Versorgung von Frakturen okklusionsbeteiligter Knochen (Mittelgesicht/Unterkiefer) ist die Wiederherstellung der Okklusion zwingende Voraussetzung und sollte dementsprechend in Fachabteilungen für Mund-Kiefer- und Gesichtschirurgie erfolgen. Derzeitig werden jedoch keine MKG-Chirurgen in den NATO-Ebenen Role 2 und Role 3 (Rettungszentren und Einsatzlazarette) vorgehalten, was eine behelfsmäßige Versorgung durch Kollegen anderer Fachrichtungen erforderlich macht, bis der betroffene Soldat ausgeflogen und definitiv versorgt werden kann.

Operative Frakturversorgung der Abteilung MKG-Chirurgie 2010 - 2012
Zu den Aufgaben der Bundeswehrkrankenhäuser zählt maßgeblich eine einsatzorientierte Aus- und Fortbildung des sanitätsdienstlichen Personals. Ob das Versorgungsspektrum der Abteilung MKG-Chirurgie am Bundeswehrkrankenhaus Hamburg den Bedarf an einsatzrelevanter Ausbildung abdeckt, soll durch die Untersuchung der Entwicklung der Fallzahlen von 2010 bis 2012 und der absoluten Verteilung der Frakturen verdeutlicht werden.
Bei der Betrachtung der Anzahl der versorgten Gesichtsschädelfrakturen (Diagramm 1) ist über die letzten drei Jahre für die einzelnen Lokalisationen eine kontinuierliche Zunahme der Fallzahlen ersichtlich. Kritisch anzumerken ist, dass hier nur die Fälle erfasst wurden, bei denen eine operative Revision durchgeführt wurde. Keine (z. B. nicht dislozierte Orbitafrakturen) oder konservative Versorgungen (z. B. durch intermaxilläre Verschnürungen) wurden nicht betrachtet, genauso wenig wie konsiliarische Tätigkeiten (externe Frakturversorgung an kooperierenden Krankenhäusern in Hamburg), insofern ist die absolute Fallzahl dementsprechend wesentlich höher.
Diagramm 2 gibt Aufschluss über die absolute Verteilung der operativ versorgten Frakturen. In über einem Drittel aller Fälle musste eine Unterkieferfraktur versorgt werden, zu einem Viertel lag eine versorgungsbedürftige Jochbein- oder Jochbogenfraktur vor. Obgleich nicht untersucht, ist empirisch über die Jahre eine Zunahme der Fallkomplexität (hinsichtlich Schwere der Verletzungen, aber auch bezüglich der Anzahl der Frakturen pro Patient) auffallend. Die Grundlagen für eine adäquate Frakturversorgung bilden eine exakte Planung und Durchführung der Operation, jedoch auch die prä- und postoperative interdisziplinäre Zusammenarbeit der einzelnen Fachdisziplinen wie auch das Management von Komplikationen. Nachfolgend werden zwei Kasuistiken hierzu dargestellt.

Kasuistik I
Auf einer Bundesautobahn fährt ein Kleintransporter ungebremst auf ein im Stau stehendes Fahrzeug auf. Dabei wird eine 20jährige Mitfahrerin auf dem Rücksitz sitzend schwer traumatisiert. Nach Intubation am Unfallort wird sie per Rettungshubschrauber ins Bundeswehrkrankenhaus Hamburg verlegt. Aufgrund einer konstanten Blutung aus Nase und Mittelgesicht wird noch im Schockraum eine vordere Nasentamponade gelegt (Abb. 1). In der im Anschluss durchgeführten Computertomografie des Kopfes wird deutlich, dass das Mittelgesicht der jungen Patientin komplett zertrümmert ist: Sie hat eine doppelseitige Le-Fort-I, Le-Fort-II und Le-Fort-III-Fraktur und zusätzlich eine Oberkiefersagittalfraktur (Abb. 2 und 3).
Vom CT wird sie direkt in den OP verlegt. Nach Schienung des Oberkiefers und Unterkiefers mit einer Drahtbogen-Kunststoffschiene nach Schuchardt wird während der insgesamt sechsstündigen Operation mit zehn Osteosyntheseplatten (Medartis Modus Trauma 2.0) das Mittelgesicht rekonstruiert und eine beidseitige Orbitabodenplastik durchgeführt (Abb. 4). Postoperativ kann die Patientin schon am Folgetag von der Intensivstation auf die Peripherie verlegt werden. Abbildung 5 zeigt die Patientin am 7. postoperativen Tag nach der extraoralen Nahtentfernung.

Kasuistik II
Ein 23-jähriger Patient wird vom Truppenzahnarzt in der fachärztlichen Untersuchungsstelle der Abteilung für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie des Bundeswehrkrankenhauses Hamburg mit Schmerzen im Bereich des rechten Kieferwinkels vorgestellt.
Anamnestisch war zu erfahren, dass der Soldat vor ca. vier Wochen Beteiligter eines Rohheitsdeliktes war und Schläge gegen den Unterkiefer erhalten hatte. In der damals angefertigten Röntgendiagnostik ergab sich eine doppelte Unterkieferfraktur (Kieferwinkel rechts und paramedian links), die noch am Tage des Ereignisses in einer zivilen Klinik osteosynthetisch versorgt wurden. Im Anschluss seien wöchentliche Vorstellungen beim behandelnden Arzt erfolgt, jedoch seien die Schmerzen im Bereich des rechten Kieferwinkels progredient und die Okklusion würde sich verschieben. Bis auf flüssige und breiige Nahrungsmittel könne er keine Kost zu sich nehmen.
Bei der klinischen Untersuchung imponierte im Bereich des rechten Kieferwinkels nach intraoral freiliegender Unterkieferknochen mit einsehbarem Frakturspalt, lokalem Druckschmerz und deutlichen Entzündungszeichen. Mesial 15/45 bestand eine komplette Nonokklusion, der Patient hatte eine ausgeprägte Hypästhesie der rechten Unterlippe.
In der durchgeführten Panoramaschichtaufnahme und Unterkiefer-Spezialaufnahme nach Clementschitsch (Abb. 6 und 7) sind eine osteosynthetisch versorgte Unterkiefer-Paramedianfraktur links und eine Kieferwinkelfraktur rechts ersichtlich. Die Fraktur paramedian steht achsgerecht. Im Bereich des rechten Kieferwinkels ist eine breite Osteolysezone um die Osteosyntheseplatte ersichtlich, die Frakturenden sind versetzt, es besteht eine deutliche Achsabweichung.
Wir nahmen den Soldaten noch am gleichen Tage stationär auf und er wurde mit einem Breitspektrumpenicillin intravenös antibiotisch abgeschirmt. Zur Kontrolle des Standes der Paramedianfraktur fertigten wir Oberkiefer- und Unterkiefer-Modelle an; mit diesen war die habituelle Okklusion problemlos einstellbar. Am darauf folgenden Tage erfolgte in Intubationsnarkose zuerst eine Schienung des Oberkiefers und Unterkiefers nach Schuchardt. Die insuffiziente Osteosyntheseplatte wurde entfernt und die partiell in Fehlstellung verknöcherte Fraktur osteotomiert. Dabei erfolgte eine vorsichtige Neurolyse und Dekompression des gequetschten Unterkiefernervs. Nach intermaxillärer Fixation und Neuzuordnung der Frakturenden erfolgte ausschließlich von intraoral eine winkelstabile Osteosynthese über zwei Osteosyntheseplatten (Medartis Modus Trilock 2.3 und Trauma 2.0). Nach Lösung der intermaxillären Fixation konnte die habituelle Okklusion zwanglos eingenommen werden. Die postoperative Röntgenkontrolle (Abb. 8 und 9) zeigt einen nun achsgerechten Stand der Kieferwinkelfraktur. Der Patient gab schon am ersten postoperativen Tag eine deutliche Besserung der Hypästhesie der rechten Unterlippe an.

Diskussion
Die Therapie von Knochen- und Weichteilverletzungen im Kopf-Hals-Bereich sollte durch qualifizierte Einrichtungen erfolgen – diese sind durch die Fachabteilungen für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Bundeswehrkrankenhäuser Hamburg, Koblenz und Ulm gegeben. Auf NATO-Ebene Role 4 sind hier umfassende Wiederherstellungen der anatomisch sehr komplexen Strukturen des Kopfes und Halses bis hin zu 3D-Rekonstruktionen möglich. Da der Zeitpunkt der chirurgischen Frakturversorgung jedoch entscheidend ist für das spätere Ergebnis, sollte überdacht werden, das Fachgebiet Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie ebenfalls auf NATO-Ebene Role 3 einzubringen.

Am Bundeswehrkrankenhaus Hamburg selbst wurde nach Gründung 1958 als Lazarett im Jahre 1974 die Abteilung Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie unter Frau Oberstarzt Dr. Dr. Hammer geschaffen. Seitdem ist am Hause eine moderne, dem jeweilig aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entsprechende, traumatologische Versorgung im Kopf-Hals-Bereich etabliert.
Zur kontinuierlichen Aus- und Fortbildung des medizinischen Personals dieser Fachabteilungen sind zivil-militärische Kooperationen und die Einbindung in Rettungsnetze zwingend erforderlich. Am Bundeswehrkrankenhaus Hamburg führte die Anbindung der Abteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie an das überregionale Traumanetzwerk Hamburg zu einer deutlichen Zunahme der Fallzahl, aber auch zu einer Zunahme der Fallkomplexität, was voraussetzend für eine einsatznahe Qualifikation des Personals ist.
In der schon zitierten Arbeit von Lew et al. wurden bei rund 37 % der im Irak und in Afghanistan verwundeten Soldaten Frakturen des Unterkiefers festgestellt, 19 % hatten Oberkieferfrakturen und zu 11 % lagen Orbitafrakturen vor. Während es bei der Betrachtung des Anteils der Unterkiefer- und Oberkieferfrakturen am Gesamtfrakturaufkommen keine wesentliche Diskrepanz zum Spektrum der Abteilung VIIb gibt, liegt jedoch die Rate der versorgten Orbitafrakturen fast doppelt so hoch. Dies dürfte zu einem großen Anteil an der im Verhältnis zum Einsatz veränderten Altersstruktur der Patienten und an den jeweiligen Frakturmechanismen liegen (Explosive Devices versus Stürze älterer Personen, bei denen das Gesicht nicht durch eine Schutzbrille oder einen Helm geschützt ist).
Wie auf den Nato Ebenen Role 2 und 3 bedingt eine schnelle und zielgerichtete Therapie eine enge Zusammenarbeit aller beteiligten medizinischen Fachgebiete inklusive der Zahnmedizin. In Kasuistik I war durch die enge Zusammenarbeit mit den Fachabteilungen Anästhesie/Rettungsmedizin und Radiologie eine schnelle operative Versorgung möglich. Fachübergreifend wird eine interdisziplinäre Traumatherapie durch die  Kooperation mit Neurochirurgie, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Augenheilkunde und Zahnmedizin (Fachzahnärztliches Zentrum) im Kopfzentrum des Bundeswehrkrankenhauses Hamburg durchgeführt.
Obgleich das Komplikationsmanagement von intern, aber auch von extern aufgetretenen  Komplikationen bei der Betrachtung der Frakturversorgung relativ wenig Beachtung findet, dient es doch als ein Qualitätsmerkmal. Revisionsoperationen von in Fehlstellung verheilten Frakturen wie bei Kasuistik II sind meist als schwierig anzusehen, da durch unvollständige Heilungsprozesse, Resorptionen und Infektionen die ursprünglichen anatomischen Strukturen und Grenzen verschwimmen. Sie sollten nach exakter Planung von fachkundigen Chirurgen durchgeführt werden, aber selbst dann gestalten sich die Verläufe oft protrahiert.
Die moderne Frakturversorgung am Gesichtsschädel durch Osteosyntheseplatten wurde maßgeblich durch die bahnbrechenden Arbeiten der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen Luhr und Michelet in den Jahren 1968 - 1973 beeinflusst. Erstmals wurde durch sie eine stabile interne Fixation möglich. Luhr entwickelte 1968 die erste Kompressionsosteosyntheseplatte für den Unterkiefer und somit auch für den maxillofazialen Bereich [4]. Michelet et al. verfolgten einen anderen Weg und versorgten als erstes Unterkieferfrakturen mit Miniplatten und monokortikal verankerten Schrauben, wodurch nun ein komplett intraorales Vorgehen ermöglicht wurde [5]. Champy entwickelte daraus das erste klinisch praktikable System [6].
Titan ist heutzutage der Goldstandard für Osteosynthese- und Rekonstruktionsmaterialien im Kopf-Hals-Bereich. Über eine Kooperation der Abteilung für MKG-Chirurgie des Bundeswehrkrankenhauses Hamburg mit dem Labor für Biomechanik des Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhauses Hamburg wird derzeit ein neuartiges winkelstabiles Miniplattenosteosynthesesystem für die Versorgung von Unterkieferfrakturen getestet. Im Fokus neuerer Entwicklungen stehen resorbierbare Biomaterialien. Über Polymere und Copolymere der Milchsäure sind aktuell biodegradierbare Osteosynthesematerialien am Markt, die jedoch im Vergleich zu Titan schwerer zu verarbeiten und instabiler sind. Neueste Forschungen gehen daher in Richtung biodegradierbarer Osteosyntheseplatten und -schrauben aus Magnesium, über die eine Kombination der mechanischen Vorteile von Metallplatten mit dem Vorzug der Resorption verknüpft werden soll [7].
Als Resümee resultiert aufgrund der Häufung von Verletzungsmustern im Kopf-Hals-Bereich für die Bundeswehr ein steigender Bedarf an Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen. Seit 2004 wird dieser zukunftsorientiert auch aus den Reihen der Sanitätsoffiziersanwärter gedeckt; grundlegende Voraussetzungen wurden durch die Änderung des SanOA-Erlasses geschaffen. Die Ausbildung ist jedoch durch das notwendige Doppelstudium sehr lang, was derzeit noch immer durch Quereinsteiger kompensiert werden muss.

Datum: 28.08.2013

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2013/2

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