Die modellhafte Implementierung des Nationalen Expertenstandards „Förderung der Mundgesundheit in der Pflege“ am Bundeswehrkrankenhaus Hamburg

S. Kahl, M. Lüpke

Eine Zahnmedizinische Fachangestellte demonstriert die Durchführung der Mundinspektion am Bett
Bundeswehr/Sandra Herholt

Die Mundgesundheit ist ein wesentlicher Faktor für das Wohlbefinden unserer PatientInnen. Ihre Bedeutung für die allgemeine Gesundheit ist unstrittig. Bedingt durch verschiedene krankheits- und/oder altersbedingte Einschränkungen weisen vulnerable Gruppen wie Hochbetagte, Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderungen, häufiger Defizite in den Möglichkeiten der individuellen Mundhygiene auf. Vielfach müssen diesbezügliche Selbstpflegedefizite von Pflegenden durch die Übernahme der Zahnpflege kompensiert werden [11, ]. Diese haben jedoch nicht immer die entsprechende Ausbildung und die spezifischen Fachkenntnisse.

Aus diesem Grund hat die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) die gemeinsame Entwicklung des Expertenstandards „Förderung der Mundgesundheit in der Pflege“ mit dem Deutschen Netzwerk für Qualitätssicherung in der Pflege (DNQP) initiiert. Dieser hat u. a. durch Sicherstellung regelmäßiger Kontrollen [ 10] und Ausbildungsmaßnahmen für Pflegende die Verbesserung der Versorgungsqualität im Bereich der Mundgesundheit zum Ziel. Das Bundeswehrkrankenhaus (BwKrhs) Hamburg nahm von September 2021 bis Juni 2022 an der modellhaften Implementierung des konsentierten Standards teil. In den folgenden Ausführungen soll das, vom DNQP wissenschaftlich begleitete, Pilotprojekt dargestellt werden.

Demografisch bedingt nimmt auch im BwKrhs Hamburg der Anteil pflegebedürftiger Menschen mit Unterstützungsbedarf bei der Mund- und Zahnhygiene zu. Demgegenüber ist beobachtbar, dass die allgemeine Mund- und Zahnpflege, obwohl Teil der grundständigen Pflegeausbildung, vielfach das „Stiefkind“ pflegerischer Interventionen ist [12]. In der Pflegepraxis scheint vielerorts die Relevanz einer bedarfs- und bedürfnisorientierten Mundhygiene für Gesundheit und Lebensqualität unterschätzt zu werden. Zahlreiche Studien bezüglich vernachlässigter Mundpflegemaßnahmen in verschiedenen Pflegekontexten unterstreichen diese Annahme [9]. 

Hinzu kommt, dass ältere zu Pflegende zunehmend über eigene Zähne verfügen, als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war [ 9, 11]. Die Mund- und Zahnhygiene kann bei Vorhandensein teilweise festsitzenden, oft auch implantatgestützten, Zahnersatzes komplex und herausfordernd sein. Demgegenüber ist die Mundhygiene bei Zahnlosigkeit, einhergehend mit einer herausnehmbaren Zahnvollprothese, zumeist einfacher. Pflegefachkräfte benötigen daher an aktuelles Wissen und veränderte Bedingungen anknüpfende Kenntnisse, Fertigkeiten und persönliche Kompetenzen [11]. 

Das Projekt „Modellhafte Implementierung des Expertenstandards“

Die modellhafte Implementierung des neuen Expertenstandards hatte das Ziel, die Standardkriterien auf Praxistauglichkeit und Akzeptanz zu erproben [4]. Da die BwKrhs, im Gegensatz zu den meisten Akutkliniken, über eine Zahnmedizinische Abteilung verfügen, ist im Rahmen des Konsildienstes jederzeit die Möglichkeit einer zahnärztlichen Expertise gegeben. Nicht zuletzt aus diesem Grund bewarb sich das BwKrhs Hamburg in dem, von BZÄK und DNQP im März 2021 ausgeschriebenen Auswahlverfahren, welches erfreulicherweise im Juli des gleichen Jahres in dem Zuschlag an der Projektteilnahme mündete. Gemeinsam mit 25 anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens, darunter neun Akutkrankenhäuser, startete das BwKrhs Hamburg im September 2021 die probeweise Einführung des neuen Expertenstandards. Im Folgenden werden die einzelnen Prozessschritte der praktischen Umsetzung erläutert.

Auswahl der Projektstation und Bildung der Arbeitsgruppe

Als teilnehmende Projektstation wurde eine interdisziplinäre Station bestehend aus Hals-Nasen-Ohrenheilkunde (HNO) und Neurologie mit insgesamt 25 Betten ausgewählt.

Für das Fachgebiet der Neurologie war das Thema Mundgesundheit überwiegend für krankheitsspezifisch bedingte, kognitive und körperliche Selbstpflegedefizite relevant, während in der HNO-Abteilung der Fokus eher auf speziellen Mundpflegeerfordernissen im Rahmen tumorbedingter Operationen lag. 

Im ersten Schritt erfolgte die Bildung einer berufsübergreifenden Arbeitsgruppe: Neben Projektbegleitung (Abtleilung XXV) und Pflegefachkräften der Projektstation, bestand diese aus dem Abteilungsleiter der Abteilung XXIII, einer Zahnmedizinischen Fachangestellten sowie einer Apothekerin. Die Auswahl der Pflegenden erfolgte nach pflegefachlicher Kompetenz, pädagogischem Geschick sowie persönlicher Motivation. Dabei wurden insbesondere Zusatzqualifikationen (z. B. Logopädie und Praxisanleitung) berücksichtigt. Ebenso wurde auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen jüngeren Mitarbeitenden und langjährig berufserfahrenen Pflegefachkräften Wert gelegt. 

Die Fortbildungsphase 

Den Auftakt der ersten Projektphase bildete eine „Kick-off“- Veranstaltung, in der alle Mitarbeitenden der Modellstation über das Vorhaben informiert wurden. Zur Erfassung des Fortbildungsbedarfs wurden die Teilnehmenden vor Projektbeginn gebeten, anonym eine strukturierte Selbsteinschätzung eigener Kenntnisse und Fertigkeiten abzugeben. 

Entsprechend der Struktur des Expertenstandards wurden folgende Aspekte erhoben: Einschätzung der Mundgesundheit, Maßnahmenplanung und -durchführung, Anleitung und Beratung Betroffener sowie Überprüfung der Maßnahmen auf Wirksamkeit und Akzeptanz.

Die Teilnehmenden schätzten themenübergreifend ihren Wissensstand und Fertigkeiten gesamtheitlich als „gut“ bis „befriedigend“ ein, Fortbildungsbedarfe wurden kaum aufgezeigt.

Zur Projekteinführung wurde, unter Einbeziehung der Zahnmedizin, eine Kombination aus der Vermittlung von Grundlagenwissens zur Mundgesundheit (zahnärztlicher Präsenzvortrag), vertiefender Online-Fortbildungen (CNE. Pflegefortbildung, Thieme) und praktischen Übungen gewählt. Ergänzend wurden im Rahmen der Pflegeübergaben kurze Fallbesprechungen durchgeführt.

Konkretisierung und Implementierung

In der Konkretisierungsphase wurde zunächst eine Ist-Analyse der hausinternen Mundpflegematerialien und -methoden vorgenommen. Die Ergebnisse wurden auf der Station mit den Projektbeteiligten besprochen und nachfolgend in der Arbeitsgruppe diskutiert. 

Im Anschluss an eine zweite „Kick-off“-Veranstaltung wurden bisherige Vorgehensweisen schrittweise an das Qualitätsniveau des Expertenstandards angepasst. 

Der erste Prozessschritt der Einschätzung wurde digital, im Rahmen des ergebnisorientierten Pflegeassessments (epa-AC®) durchgeführt. Da die aktuell im Wirkverbund verfügbare elektronische Pflegebedarfseinschätzung ein differenziertes Mundassessment nicht vorsieht, wurde ein Leitfaden in Form eines Flowcharts entwickelt. Diese Methode des wissensbasierten Assessments erzielte jedoch wenig aussagekräftige Ergebnisse, sodass das Einschätzungsprocedere angepasst wurde: Nach Beantwortung der „Screening-Frage“ zu einem „potentiellen Problem im Mundbereich“ wird nun das Mundassessment nach Eilers (Oral Assessment Guide) in modifizierter Form erhoben. 

Um den „Goldstandard“ des Zähneputzens zur Förderung und Erhaltung der Mundgesundheit fachgerecht umsetzen zu können [2], wurden, mit Unterstützung der Apotheke, die Basisartikel zur Mundhygiene erweitert. Nun können alle klinischen Bereiche weiche Zahnbürsten, fluoridhaltige Zahnpasten sowie Zwischenraumzahnbürsten in verschiedenen Größen anfordern. Ergänzend kommen indikationsbezogen Schaumstoffstäbchen zur Anwendung. Damit verfügt das BwKrhs Hamburg über eine angemessene, den Empfehlungen des Expertenstandards entsprechende, Materialausstattung.

In der Praxisphase traten die divergenten Pflegeerfordernisse zwischen beiden Fachdisziplinen deutlicher hervor. Die neurologischen Patienten benötigten überwiegend umfassende Hilfestellung bzw. die vollständige Übernahme der Mundhygiene, während der Schwerpunkt bei den HNO-Patienten insbesondere auf der postoperativen Anleitung, Beratung und Schulung lag. Für letztere Patientengruppe wurde, mit dem Ziel der Erreichung größtmöglicher Selbständigkeit, ein pflegerisches Anleitungskonzept entwickelt. Der eingangs beschriebene, mit einer hohen Fachlichkeit einhergehende, Qualifikationsmix auf der Station erwies sich insbesondere an dieser Stelle als großer Vorteil. Die Einholung einer zahnmedizinischen Expertise war ebenfalls jederzeit möglich, stieß jedoch u. a. aufgrund kurzer Liegezeiten an Grenzen. 

Evaluation und Audit

Den Projektabschluss bildete das mittels bereitgestellter Erhebungsinstrumente (DNQP) durchgeführte Audit. Im ersten Teil wurden Einzelfallanalysen von Dokumentation, Befragungen betreuender Pflegefachkräfte sowie PatientInnen- und/oder Angehörigenbefragungen durchgeführt. Das primäre Ziel war weniger die Erzielung möglichst hoher Zielerreichungsgrade.

Das Augenmerk lag vielmehr auf der Überprüfung der Umsetzbarkeit sowie der Einübung der Prozesse. Die Umsetzung aller Standardebenen war bei den ElektivpatientInnen im HNO-Bereich beinah durchgängig nachvollziehbar. Hier wirkten sich gut durchstrukturierte Arbeitsprozesse sowie bereits im Vorfeld standardisierte Abläufe positiv aus. Auch die häufig vernachlässigte Standardebene der „Anleitung und Beratung“ wurde hier gut umgesetzt. 

Bei den neurologischen PatientInnen mit akuten Problemen im Mundbereich lagen Einschätzung, Maßnahmenplanung und -durchführung ebenfalls überwiegend vor. Jedoch wurden Partizipation und individuelle Bedürfnisse der Betroffenen etwas weniger stringent berücksichtigt als in der erstgenannten Gruppe.

In weiteren Evaluationsabschnitten erfolgte u. a. die erneute Selbsteinschätzung des Wissensstandes der Pflegenden. Diese zeichnete im Vergleich zur Initialbefragung nun ein differenzierteres Bild: Eigene Defizite wurden erkannt und benannt, auch wurde ein größeres Interesse an vertiefenden Fortbildungsthemen gezeigt. Die Haltung der Pflegenden gegenüber dem Thema Mundpflege hatte sich deutlich zum Positiven verändert. Insgesamt darf die Umsetzung des Expertenstandards als gelungen betrachtet werden. 

Ergebnisprotokoll I: Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf bei der...
Ergebnisprotokoll I: Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf bei der Mundpflege
Quelle: Petra Blumenberg, bearbeitet von Siegrun Kahl

Fazit und Ausblick 

Die Besonderheit dieses Projekts war die interprofessionelle und interdisziplinäre Ausrichtung. Insbesondere, die von einer Zahnmedizinischen Fachangestellten und einer Zahnärztin angeleiteten, Praxisübungen eröffneten den teilnehmenden Pflegefachkräften eine neue Perspektive auf das Thema. Hier wurde deutlich, dass eben nicht „jeder Zähne putzen kann“!

Das neue Pflegeberufegesetz 2020 regelt erstmals die ausschließliche Pflegeprozesssteuerung durch Pflegefachpersonen und stellt die Erhebung individueller Pflegebedarfe, Maßnahmenplanung und Koordination unter Vorbehalt [1, 5, 6]. Im Gegenzug sind Umsetzung und Zielerreichung dieses Expertenstandards ohne interprofessionelle Zusammenarbeit und zahnärztliche Expertise nicht denkbar [ 11]. Dem Gesamtkontext entsprechend müssen alle Beteiligten daher ihr eigenes Handeln interprofessionell abstimmen und kommunizieren [11].

Mit dem Pflegeberufegesetz ergeben sich perspektivisch weitere interprofessionelle Handlungsfelder. Die oben beschriebene Herangehensweise gemeinsamer Fortbildungen im direkten Arbeitsumfeld könnte eine Möglichkeit zur Nutzung von Synergieeffekten auf interprofessioneller Ebene sein, um künftigen Herausforderungen zu begegnen.


Literaturverzeichnis

[ 1] Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Pflegeberufe (Pflegeberufe-Ausbildungs- und -Prüfungsverordnung – PflAPrV) vom 02.10.2018 i. d. g. F.

[ 2 ] Petra Blumenberg, Mundpflege – der neue Expertenstandard im Überblick, Die Schwester Der Pfleger 59 (2021), Heft 11, S. 4–7

[ 3] Petra Blumenberg, Der Expertenstandard in der Praxis – Modellhafte Implementierung, Die Schwester Der Pfleger, 61 (2021), Heft 3, S. 26–31

[ 4] Andreas Büscher und Petra Blumenberg, Nationale Expertenstandards in der Pflege – Standortbestimmung und künftige Herausforderungen, in: Peter Hensen und Maren Stamer (Hrsg.), Professionsbezogene Qualitätsentwicklung im interdisziplinären Gesundheitswesen. Gestaltungsansätze, Handlungsfelder und Querschnittsbereiche, Wiesbaden 2018, S. 93–117

[ 5] Andreas Büscher, Bianca Jendrzej, Bernhard Krautz und Thomas Weiß, Pflegeprozess selbstbewusst verantworten – Vorbehaltsaufgaben in der Praxis, Die Schwester Der Pfleger 61 (2023), Heft 4, S. 19–24

[ 6] Gesetz über die Pflegeberufe (Pflegeberufegesetz – PflBG) vom 17.07.2017 i. d. g. F.

[ 7] Hrsg.: Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) Januar (2023). „Expertenstandard Förderung der Mundgesundheit in der Pflege“ 

[ 8] Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege, Methodisches Vorgehen zur Entwicklung, Einführung und Aktualisierung von Expertenstandards in der Pflege und zur Entwicklung von Indikatoren zur Pflegequalität auf Basis von Expertenstandards, Osnabrück 2019 

[ 9] Elmar Ludwig, Mundgesundheit in der Pflege – Pflegewissenschaftler und Zahnärzte erarbeiten neuen Expertenstandard, Zahnmedizinische Mitteilungen 111 (2021), Nr. 11, S. 42–45 

[ 10] Elmar Ludwig, Die Zusammenarbeit zwischen Pflege und Zahnmedizin stärken, Die Schwester Der Pfleger 59 (2021), Heft 11, S. 13

[ 11] Erika Sirsch, Elmar Ludwig, Kathrin Müller, Petra Blumenberg, Ina Nitschke und Andreas Büscher, Förderung der Mundgesundheit in der Pflege – ein interprofessioneller Expertenstandard, Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 55 (2022), Nr. 3, S. 204–209

[ 12] Franz Sitzmann, Wenn die Mikroben die Etage wechseln, Intensivpflege 17 (2009), S. 17–23


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