01.12.2008 •

Augmentation des stark atrophischen Kieferkammes mittels autogenem Knochenblock

Durch gestiegenes Patientenalter und vermehrtem Wunsch nach implantatgetragenem festsitzendem Zahnersatz, sieht sich der implantologisch tätige Zahnarzt immer öfter pathologisch atrophierten Kieferkämmen gegenüber, die als Implantatlager ohne vorherige Rekonstruktion wenig geeignet erscheinen. Da der allgemeine Konsens herrscht, dass sich die Implantationsstelle nach den prothetischen Vorgaben und nicht nach dem Knochenangebot richten soll, wurde eine Vielzahl an Techniken entwickelt die den Wiederaufbau
verloren gegangener Hart- und Weichgewebsstrukturen ermöglicht. Der vorliegende Artikel soll die Grundlagen vermitteln und anhand einer Kasuistik eine sichere Technik darstellen. Druck der gekürzten Fassung mit freundlicher Genehmigung des Verlages Neuer Merkur, München. Der Originalartikel ist ungekürzt in “die dental praxis“, XXIV, Heft 11/12-2007, Seite 319-328 erschienen.

Einleitung

Dem dritten Altenbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2001 zur Folge, wird sich die Altersverteilung der Bevölkerung von 1950 bis 2050 bei etwa gleicher Bevölkerungszahl umkehren. So wird es im Jahr 2050 doppelt so viele über 59-Jährige Menschen geben wie unter 20-Jährige.

Die IV. Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS IV) aus dem Jahr 2005 zeigt für die Senioren im Alter von 65 bis 74 einen DMFTWert von 22,1.Der DMFT-Wert bei der Erwachsenengruppe im Alter von 35 bis 44 Jahren liegt bei 14,5. Dennoch haben nur 1,4% der Erwachsenen und 2,6 % der Senioren implantatretinierten Zahnersatz.
Dies birgt bei 14 Millionen Zahnverlusten in der Bundesrepublik Deutschland und nur rund 1 Million in 2008 (Schätzung der DGI) gesetzten Implantaten ein enormes Betätigungsfeld für den implantologisch tätigen Zahnarzt[5].
Selten kommt jedoch ein Patient in die Praxis mit dem Wunsch nach Implantaten. Vielmehr ist das Ziel seiner implantologischen Wünsche der ästhetisch und funktionell hochwertige Zahnersatz, zu dessen Abstützung und Verankerung die Implantate notwendig sind. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der geplante Zahnersatz die Position der Implantate im Sinne eines „backward planning“ vorgeben. Häufig befindet sich an der prothetisch erwünschten Implantationsstelle jedoch kein ausreichendes Hart- und Weichgewebsvolumen, sodass diese Strukturen vor der Implantation zunächst aufgebaut werden müssen.

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Grundlagen

Nach vorzeitigem Zahnverlust kommt es durch fehlende kaufunktionelle Belastung des Knochens zu einem Abbau des Alveolarkamms. Im Oberkiefer wie im Unterkiefer vollzieht sich dieser in sagittaler, transversaler und vertikaler Dimension, wobei die vertikale Resorptionsrate im Unterkiefer etwa 4- mal größer als im Oberkiefer ist. Die Richtung des horizontalen Knochenabbaus in Maxilla und Mandibula ist genau entgegengesetzt. Der Unterkiefer atrophiert zentrifugal, also nach bukkal, im Oberkiefer hingegen ist der Verlauf zentripetal nach palatinal gerichtet [25]. Das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Resorptionsvorgänge wird dabei maßgeblich von der Knochendichte, dem Knochenstoffwechsel, aber auch von vorangegangenen destruktiefen Parodontalerkrankungen, substanzfordernden Extraktionen und Osteotomien sowie durch Belastungsspitzen von schleimhautgetragenem Zahnersatz beeinflusst.
Nach Cawood und Howell unterscheidet man die unterschiedlichen Atrophiezustände in sechs Resorptionsklassen:

Klasse 1: Bezahnt

Klasse 2: Unmittelbar nach Zahnverlust

Klasse 3: Gut gerundeter Kieferkamm mit adäquater Höhe und Breite

Klasse 4: Messerscharfe Kammform mit adäquater Höhe und inadäquater Breite

Klasse 5: Flacher Kieferkamm mit inadäquater Höhe und Breite

Klasse 6: Hochatrophe Kammform mit teils negativen Kieferkämmen

Bereits ab Klasse 2 Kieferkämmen ist oft eine operative Konditionierung des Kieferkammes vor Implantatinsertion durch geeignete Maßnahmen wie bone-spreading, bone-kondensing, An- und Auflagerungsosteoplastiken in Blockform oder partikuliert notwendig.
Als zuverlässige Technik mit vorhersagbaren Ergebnissen hat sich die Augmentation des defizitären Kieferkammes mit autogenem Knochen bewährt. Autogener Knochen ist das am häufigsten und auch am erfolgreichsten verwendete Augmentationsmaterial[4, 6, 11]. Das autogene Augmentat hat die identische Antigenstruktur wie die Gewebe am Empfängerort. Neben vitalen Osteoprogenitorzellen stellt es eine Vielzahl von osteoinduktiven Faktoren zur Verfügung und dient zusätzlich als osteokonduktive Leitschiene für den neu zu bildenden Knochen. Daher wird es seit 1984 als „Goldstandard„ in der Augmentationschirurgie angesehen[1, 7, 9, 26]. Das autogene Knochentransplantat kann intraoral aus dem aufsteigenden Ast, der retromolaren Region, der Tuberositas maxillae, aus der Symphyse des Unterkiefers oder dem Unterkieferrand gewonnen werden. Werden größere Mengen benötigt, sind extraorale Spenderregionen wie der Beckenkamm erster Wahl, aber auch Rippe, Tibiakopf und Schädelkalotte stellen eine mögliche Entnahmestelle dar. Das Ausmaß der benötigten Knochenmenge hängt naturgemäß von der Größe des Defektes ab. Für die weitaus größte Anzahl der therapiebedürftigen bzw. –würdigen Defizite eignen sich kleine Knochenblöcke oder partikulierter Knochen.
Als besonders günstig in ihrem Einheil- und Resorptionsverhalten haben sich aus dem Mandibularramus gehobene Knochentransplantate herausgestellt. Diese scheinen aufgrund ihres embryologischen Ursprungs biologische Vorteile zu besitzen welche bislang nur empirisch nachweisbar sind[23], eine wissenschaftliche Erklärung hierzu steht noch aus.
Der Unterkiefer entwickelt sich embryologisch aus dem MECKEL Knorpel, dem unteren Teil des ersten Kiemenbogens und ist somit mesenchymalen Ursprungs. Im Gegensatz zur enchondralen Ossifikation extraoraler Transplantate, ist seine desmale Ossifikation durch Bildung knöchernen Gewebes ohne zwischenzeitliche Knorpelformation gekennzeichnet[ 2]. Dies hat empirisch zur Folge, dass Augmentate aus dem Ramus mandibulae eine signifikant schnellere Vaskularisierung erfahren[ 14, 27] und wahrscheinlich dadurch bedingt von allen autologen Knochentransplantaten die geringste Resorptionsrate aufweisen[6].
Dennoch ist laut MALCHIODI et al.[13] bei Verwendung von autogenem Knochen ohne weitere Maßnahmen mit einer Resorption von bis zu 50% zu rechnen. Bedeckt man den Knochenblock jedoch komplett mit xenogenem Knochenersatzmaterial (Bio-Oss®, Geistlich [D]) und deckt den augmentierten Bereich mit einer resorbierbaren Bilayer-Membran (Bio-Gide®, Geistlich [D])ab, so lässt sich die Resorptionsrate auf lediglich 7 % begrenzen[ 24].
Weitere Vorteile bei der Gewinnung intraoraler Transplantate liegen in dem einfacheren chirurgischen Zugang, der ambulanten Durchführbarkeit, der geringeren Morbidität und der Abwesenheit von sichtbaren cutanen Narben[14]. Nicht zu unterschätzen ist jedoch die Häufigkeit von Sensibilitätsstörungen nach Knochenentnahme aus dem Bereich der Symphyse. Die bessere Zugänglichkeit und die geringfügig größere osteogene Potenz des aus der Symphyse des Unterkiefers entnommen Transplantates wird durch eine deutlich häufigere Spendermorbidität erkauft. Diese äußert sich laut MISCH 1997 [14] und NKENKE et al. 2001 [15] bei 11,4 - 29,0 % in der Störung der Pulpensensibilität, nach RAGHOEBAR et al. 2001 [19] bei 19,0 - 33,3 % durch chronische Schmerzen oder Wetterfühligkeit und SINDET-PEDERSEN 1991 [22] beschreiben bei 24,0 % Hypästhesien.

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Tabelle zu Abb. 4

    Estraoral

    Posteriorer Beckenkamm
    Anteriorer Beckenkamm
    Tibia
    Schädelkalotte



     Block und/oder partikulär
     Block und/oder partikulär
     Partikulär
     Block

 

140
70
20 - 40
40

    Intraoral

    Ramus mandibula
    Symphyse
    Tuber maxillae

 

    Block
    Block und/oder partikulär
    Partikulär

 

5 - 10
5
2

 

Kontraindikationen

Bereits in der Vorbereitungsphase einer Augmentation sind Fehler möglich. In der Anamnese sollte nach Allgemeinerkrankungen, bei denen vor allem Stoffwechselstörungen (z. B. Diabetes mellitus, Osteoporose) häufig und relevant sind, und nach Medikationen (z. B. Bisphosphonate) gefragt werden. Hier empfiehlt sich der Einsatz eines Anamnesebogens, den der Patient in Ruhe ausfüllen kann. Er dient dann als Grundlage für das Gespräch. Bei ent sprechenden Nachfragen ergeben sich häufig beachtliche Diskrepanzen zu den schriftlichen Angaben.

Als wichtigste allgemeinmedizinische Kontraindikationen gelten z. Z.:

• Herabgesetzte Immunabwehr, erkrankungsbedingt oder durch Medikamente (z. B. Cortisontherapie, Zytostatika)

• Kürzlich erfolgte Radiatio des fraglichen Gebietes

• Medikamente, die den Knochenstoffwechsel stören, z. B. Bisphosphonate
(Bisphosphonate werden u.a. bei Plasmozytomen, ossären Matastasierungen solider Tumoren, Osteoporose und anderen Knochenstoffwechselstörungen eingesetzt. Sie wirken durch Hemmung der Osteoklastenfunktion dem Knochenabbau entgegen. Der so verlangsamte Knochenstoffwechsel behindert aber die Einheilung von Implantaten, Transplantaten, aber auch sonst jegliche Heilvorgänge im Kieferknochen. Da auch bei anderen dento-alveolär-chirurgischen Eingriffen die große Gefahr der Osteonekrose besteht, sollte auf Eingriffe am Kieferknochen verzichtet werden bzw. durch Fachkliniken erfolgen. Nach bisheriger Erfahrung sind intravenös verabreichte Bisphosphonate hierbei besonders problematisch. Auch nach Absetzen der Medikamente ist mit einer extrem langen Nachwirkdauer zu rechnen[8].)

• Nicht eingestellter Diabetes mellitus

• Schwere Erkrankung von Herz, Leber, Niere oder des Blutes

• generalisierte Erkrankungen des Bindegewebes oder des Knochens (z.B. rheumatische Erkrankungen)

• Erhöhte Blutungsneigung

• Schwere psychische Erkrankungen; Drogenabhängigkeit

• Nikotinabusus
(Bei Starken Rauchern (> 10 Zig./d) haben sich augmentative Maßnahmen jeglicher Art in den Händen des Verfassers nicht bewährt und werden daher bei fehlender Compliance zur Rauchentwöhnung bzw. Reduzierung (< 10 Zig./d) wegen fehlender Erfolgsaussicht abgelehnt. Dies deckt sich mit Daten aus der Übersichtsarbeit von Ramseier et al. Implantologie 2007[20], in der bei Implantationen im Zusammenhang mit Augmentationen bei Rauchern eine Misserfolgsrate von bis zu 22 % beschrieben wird.)

Kasuistik

Patient 43 Jahre, männlich, Nichtraucher mit unauffälliger Allgemeinanamnese stellte sich am 20.01.2006 erstmalig zur Routineuntersuchung vor. Diese ergab neben einem Gesamtsanierungsbedarf unter anderem auch die Nichterhaltungswürdigkeit des Brückenpfeilers 45. Nach intensiver Aufklärung über Therapieoptionen und Erstellen eines Behandlungsplanes, erfolgte nach zwei Initialsitzungen zur Mundhygienemotivation zunächst die konservierende und parodontologische Vorbehandlung. Am 09.10.2006 wurden die Zähne 18, 45 und 48 in Lokalanästhesie entfernt. Der Operationssitus offenbarte eine knöcherne Dehiszenz des Zahnes 45 bis zum Apex und einen in vestibulo-oraler Richtung stark atrophierten Kieferkamm regio 46.
Am 29.01.2007 erfolgte daher die Rekonstruktion des Kieferkammes. Zur Verbreiterung der keratinisierten Gingiva wurde am 02.07.2007 aus dem Gaumen regio 13-16 ein freies Schleimhauttransplantat entnommen. Nach Bilden eines apikal verschobenen Mukosalappens regio 45-46, wurde die Osteosyntheseschraube entfernt und das Transplantat dort mit 6-0 monofiler Naht (6-0 Prolene®, Ethikon [B]) gut fixiert.
Die Entnahmestelle am Gaumen wurde mit einem Kollagenvlies (Kollagen-resorb®, Resorba CliniCare [G]) abgedeckt, eine Stabilisierung erfolgte mit Ethylen-2-Cyanoacrylat (Epiglu®, Meyer-Haake [H]) und zwei überkreuzten Umschlingungsnähte (5-0 Prolene®, Ethikon [B]). Zusätzlich trug der Patient eine Tiefgezogene Verbandplatte für drei Tage, so konnten nach zehn Tagen die Nähte bei reizloser Wundheilung entfernt werden. Am 12.09.2007 erfolgte die Wiedereröffnung des rekonstruierten Kieferkammes und die Implantation.

Datum: 01.12.2008

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2008/4

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