„Die zukünftigen Herausforderungen sind nur mit einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung zu bewältigen“

Generaloberstabsarzt Dr. Ulrich Baumgärtner, Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr, im Gespräch mit dem Chefredakteur der Wehrmedizin und Wehrpharmazie, Oberfeldarzt Dr. Dr. Müllerschön, und der Verlegerin, Frau Lange
Bundeswehr/Kdo SanDstBw

WM: Sehr geehrter Herr Generalarzt, seit mehr als eineinhalb Jahren findet in Europa ein verbrecherischer Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine statt. Was bedeutet das für die sicherheitspolitische Situation in Europa? 

GenOStArzt Dr. Baumgärtner: Eine wesentliche Änderung liegt im Verlust der „Friedensdividende“. Wir sind nicht mehr nur „von Freunden umzingelt“, sondern stehen mitten in Europa einem aggressiven Gegner gegenüber. Gemeinsam mit unseren Verbündeten müssen wir – im Sinne einer Abschreckung – wieder ein glaubwürdiges Gegengewicht aufbauen und NATO-Partner unterstützen. Ein wesentlicher Beitrag ist die Stationierung einer Brigade in Litauen. Insgesamt müssen wir uns über die Konsequenzen einer möglichen Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) für Deutschland Gedanken machen. Unser Land übernimmt in einem derartigen Szenario auch eine Drehscheibenfunktion – eine Aufgabe, die nur mittels einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung erfüllt werden kann. 

WM: Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für den Sanitätsdienst der Bundeswehr? 

GenOStArzt Dr. Baumgärtner: In den vergangenen Jahren unterstützte der Sanitätsdienst das Internationale Krisenmanagement mit meist kleineren Einsatzoptionen aus dem Pool des Sanitätsdienstes im Heimatland. Zukünftig müssen wir uns darauf vorbereiten, große Truppenteile in einem scharfen Einsatz über einen längeren Zeitraum sanitätsdienstlich zu unterstützen. Die Kämpfe in der Ukraine zeigen, dass dabei möglicherweise das humanitäre Völkerrecht und die Schutzfunktion des Roten Kreuzes nicht beachtet werden und versucht wird, Fahrzeuge sowie Einrichtungen des Sanitätsdienstes gezielt auszuschalten. Für die Unterstützung der kämpfenden Truppe in einem hochmobilen Gefecht müssen wir uns vorbereiten, beispielsweise mit geschützten Sanitätsfahrzeugen und mobilen Sanitätseinrichtungen. 

Parallel dazu muss uns bewusst sein, dass im Zuge der bereits angesprochenen Drehscheibenfunktion Deutschland ein Transitland für hunderttausende Soldatinnen und Soldaten sein wird, die hier ihr Material übernehmen, sich vorbereiten, zur Front verlegen und – im Falle von Verletzungen – über unser Gebiet rücktransportiert und hier medizinisch zwischenversorgt werden müssen. Ein Aggressor wird versuchen, diese Drehscheibe zu bekämpfen, was wiederum zu Kollateralschäden und entsprechenden Verlusten in unserer Gesellschaft führen wird. Diese Herausforderungen sind nur durch einen engen Schulterschluss mit dem zivilen Gesundheitssystem zu bewältigen. 

WM: Welche Rolle soll der Sanitätsdienst der Bundeswehr zukünftig innerhalb der Streitkräfte aber auch innerhalb der NATO spielen? 

GenOStArzt Dr. Baumgärtner: Der Sanitätsdienst muss auch in der Zukunft der Garant für eine verantwortbare, gute sanitätsdienstliche Versorgung durch alle Ebenen, von der Erstversorgung bis zur Rehabilitation, sein. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr ist in Europa und der NATO hoch angesehen, unsere Partner erwarten Unterstützung. Dazu gehört u. a., dass wir Soldatinnen und Soldaten unserer Verbündeten während des Transports nach Hause in Deutschland versorgen werden. 

WM: Neben der Fokussierung auf die LV/BV bleiben weiterhin Aufträge aus dem Bereich des Internationalen Krisenmanagements (IKM) realistisch. Wie ist der Sanitätsdienst für beide Aufgaben personell und materiell aufgestellt? 

GenOStArzt Dr. Baumgärtner: Für Aufgaben des IKM sind wir personell und materiell gut aufgestellt. Bei LV/BV kommt es darauf an, einsatzfähige Truppenteile mit den zugehörigen sanitätsdienstlichen Anteilen jederzeit verfügbar zu haben und bei Bedarf auch aktivieren zu können. Der Sanitätsdienst ist im Hinblick auf seine Fähigkeiten aktuell nicht hinreichend für Unterstützungsaufgaben der LV/BV ausgestattet. Wir brauchen eine personelle, materielle und strukturelle Anpassung, aber auch modifizierte gesetzliche Normierungen, um den Anforderungen der LV/BV vollumfänglich gerecht zu werden.

WM: Was können Sie uns zur geplanten strategischen Ausrichtung des Sanitätsdienst 2031 sagen? Welche Konzepte gibt es? 

GenOStArzt Dr. Baumgärtner: Nachdem wir in den vergangenen Jahren durch Untersuchungen die Fähigkeitslücken für die zukünftigen Herausforderungen im Rahmen von LV/BV herausgearbeitet und sich daran Überlegungen zur notwendigen Struktur, Umfang sowie Ausstattungen des Sanitätsdienstes angeschlossen haben, können die dabei gewonnenen Ergebnisse sukzessive in die entsprechenden Planungen eingebracht werden.

Der Sanitätsdienst muss in der Lage sein, hochmobil eine Division im Gefecht personell und materiell zu unterstützen. Dabei ist eine Zusammenarbeit mit diesen Truppenteilen bereits im Grundbetrieb – z. B. während der Ausbildung oder auf Übungen – im Sinne der Kohäsion wichtig. Dazu erfolgen strukturelle Anpassungen auf der Ebene 1 (der truppenärztlichen Versorgung) und auf der Ebene der Sanitätstruppe. An den Standorten der Division 25 soll zukünftig ein Ansprechpartner sowohl für die sanitätsdienstliche Unterstützung als auch die truppenärztliche Versorgung, die Begutachtung und die Beratung der Kommandeure vor Ort zuständig sein. Es werden Sanitätszentren gebildet, die eben beide Bereiche (den grünen und auch den weißen) abdecken.

Zusätzlich werden Sanitätsbataillone die Kohäsion mit den einzelnen Brigaden des Heeres pflegen, während die Sanitätsregimenter unmittelbar mit den jeweiligen Divisionen zusammenarbeiten. Ziel ist eine deutlich verbesserte Kohäsion über alle Ebenen (Bataillone – Brigaden – Divisionen), was natürlich nur mit einem deutlichen personellen aber auch materiellen Aufwuchs realisiert werden kann.

Generaloberstabsarzt Dr. Ulrich Baumgärtner
Generaloberstabsarzt Dr. Ulrich Baumgärtner
Quelle: Bundeswehr /Markus Dittrich

WM: Wie sieht die zukünftige Strategie im Hinblick auf mobile Sanitätseinrichtungen aus?

GenOStArzt Dr. Baumgärtner: Wir müssen weg von der statischen Versorgung bei Aufgaben des IKM und hin zu einer hochmobilen Unterstützung von beweglichen Gefechten der gepanzerten Truppe. Statt wie bisher schwer verlegefähige Elemente der Modularen Sanitätseinrichtung zu nutzen, braucht der Sanitätsdienst kleine, hochbewegliche und idealtypisch auch geschützte Elemente der Ebene 2. Diese Fähigkeiten müssen teils zur Unterstützung der gepanzerten Truppenteile neu entwickelt werden. Der Ukrainekrieg zeigt, wie wichtig es ist, über geschützte Sanitätsfahrzeuge zu verfügen, um die Verwundeten direkt an der Front aufnehmen zu können. 

WM: Mit welchen Maßnahmen wird versucht, gezielt benötigtes „grünes“ und „weißes“ Material schnell zu beschaffen oder zu entwickeln? 

GenOStArzt Dr. Baumgärtner: Bei einem hohen Prozentsatz des sanitätsdienstlichen Materials handelt es sich um handelsübliches Gerät, dass – um „up to date“ zu bleiben – regelmäßig schnell ersetzt werden muss. Mit den derzeitigen Vorgaben des Customer Product Management (CPM), dessen Fokus auf spezifisches militärisches Gerät ausgerichtet ist, ist dies nur schwer zu realisieren. Daher soll handelsübliches (weißes) Gerät zukünftig in einer engen Zusammenarbeit zwischen dem Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr und dem Bundesamt für Infrastruktur, Umwelt und Dienstleistungen der Bundeswehr beschafft und der althergebrachte CPM-Weg nur noch für die Beschaffung von „grünem“ Material durch das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) genutzt werden. Daraus ergeben sich zwei positive Aspekte: Wir können handelsübliches Gerät mit einem deutlich entschlackten Verfahren, unter Einbeziehung unserer Fachleute und unsere Fachexpertise, direkt schnell beschaffen. Und durch die Entlastung des BAAINBw kann sich diese Behörde stärker auf die Entwicklung und die Beschaffung von militärischem Gerät und Material, das es im zivilen Markt nicht gibt, konzentrieren.  

WM: Die Digitalisierung wird zukünftig immer mehr an Bedeutung gewinnen. Wie ist der Sanitätsdienst hier aufgestellt? Wann wird es die elektronische Gesundheitsakte geben? 

GenOStArzt Dr. Baumgärtner: Die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung ist ein absolutes Muss. Wenn wir in der Lage sein wollen, zukünftig weiterhin gemeinsam mit dem zivilen Gesundheitssystem und unseren NATO-Verbündeten in der Medizin agieren und uns austauschen zu können, kommen wir an der Digitalisierung der Gesundheitsversorgung der Bundeswehr und der Entwicklung einer elektronischen Gesundheitsakte nicht herum. Deswegen bin ich froh, dass vieles daraufhin deutet, dass wir in den nächsten Jahren tatsächlich eine Chance haben können, die Digitalisierung voranzubringen und zumindest eine elektronische Gesundheitsakte – zumindest in Teilen – innerhalb der nächsten drei bis vier Jahren zu realisieren. 

WM: Drohnen werden mittlerweile für militärische Einsatzzwecke in unterschiedlichsten Bereichen getestet, beispielsweise für den Verwundetentransport oder dem Transport für Blutkonserven. Welche Überlegungen finden dazu innerhalb des Sanitätsdienstes statt? 

GenOStArzt Dr. Baumgärtner: Die mittlerweile deutlich gestiegene Bedeutung von Drohnen auf dem Schlachtfeld zeigt der Krieg in der Ukraine. Daher glaube ich, dass diese Technologie in der Zukunft möglicherweise auch für den Sanitätsdienst sehr attraktive Nutzungsmöglichkeiten bietet. Bis allerdings ein lebender und schwerverletzter Mensch durch eine Drohne vom Schlachtfeld evakuiert wird, müssen noch viele Fragen geklärt werden. Hier muss ein Schritt nach dem anderen erfolgen. Zunächst sollten Test zu Materialtransporten (Sanitätsmaterial aber auch Blutkonserven) in das Frontgebiet erfolgreich absolviert und Fragen zum zusätzlichen Schutz (sowohl baulich als auch im Hinblick auf das Schutzzeichen) geklärt werden. 

WM: Ist der derzeitige Systemverbund der Bundeswehrkrankenhäuser (BwKrhs) ausreichend, um zukünftigen Herausforderungen zu bewältigen oder muss das Konzept überdacht werden? Müssen verstärkt zivile Kooperationsprojekte angeschoben werden? 

GenOStArzt Dr. Baumgärtner: Die zukünftigen Herausforderungen sind nur in einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung zu bewältigen. Dazu brauchen wir ein deutlich engeres Netzwerk zwischen den BwKrhs sowie den Berufsgenossenschafts-, den Universitätskliniken und den Traumazentren. Wichtige Voraussetzung sind dabei zusätzliche Anpassungen gesetzlicher Rahmenbedingungen, Stichwort Gesundheits-Vorsorge- und Sicherstellungsgesetz, und bilaterale Vereinbarungen (beispielsweise zu Kooperationen oder der Steuerung von Patienten und Verwundeten) mit zivilen Krankenhäusern. Gleichzeitig müssen die BwKrhs auch zukünftig in der Lage sein, ihren Auftrag insgesamt wahrzunehmen. Neben der Versorgung von Patienten sorgen sie dafür, dass der Sanitätsdienst über ausreichend qualifiziertes und in Übung gehaltenes Personal verfügt, das im Grundbetrieb zwar vor Ort arbeitet, im Rahmen von LV/BV allerdings in den Sanitätseinrichtungen im Einsatzgebiet arbeitet. Die dafür notwendigen spezifischen Anforderungen können nicht ohne Weiteres im Rahmen einer zivilen Aus- oder Weiterbildung im zivilen Gesundheitswesen erlernt werden. Deswegen haben die BwKrhs auf diesem Gebiet ein Alleinstellungsmerkmal. In der aktuellen Debatte zur Neuordnung der Krankenhauslandschaft muss es uns gelingen, diese besondere Aufgabe der BwKrhs weiterhin abzusichern, damit wir weiterhin die Truppe unterstützen können. Ich erlebe – das freut mich sehr – eine breite Unterstützung und viel Verständnis für diese Thematik. 

WM: Die Bundeswehr und der Sanitätsdienst sollen personell aufwachsen. Wie verläuft der Aufwuchs bisher und welche Rolle spielen dabei Reservistinnen und Reservisten?

GenOStArzt Dr. Baumgärtner: Viele Fähigkeiten sind derzeit im Sanitätsdienst zu gering ausgebracht. Zur Verbesserung dieser Situation benötigen wir einen Aufwuchs der Ressourcen, um die Truppe weiterhin unterstützen zu können. Dabei geht es vor allem um die Verbesserung unserer Möglichkeiten der Unterstützung im Kampfgebiet, also der Ebene 1-Versorgung. Dort haben wir einen eklatanten Mangel an Personal. Gleichzeitig geht es uns darum, Bereiche zu stärken, die wir in der Vergangenheit vor dem Hintergrund des IKM vernachlässigt oder sogar reduziert haben. Da geht es z. B. um die Frage der logistischen Unterstützungsfähigkeit von sanitätsdienstlichen Einrichtungen in einem beweglich geführten Gefecht. Das Bundesministerium der Verteidigung hat zugestimmt, dem Sanitätsdienst in einem ersten Schritt zunächst 2 000 Dienstposten zur Verfügung zu stellen, wovon die ersten 500 bereits planerisch besetzt sind. Es ist mir klar, dass dieser Aufwuchs nicht dazu führt, dass übermorgen das entsprechende Personal ausgebildet an den Standorten zur Verfügung steht, sondern es drei bis vier Jahre dauert, bis neu gewonnene Kameradinnen und Kameraden ausgebildet und einsatzfähig zur Verfügung stehen. Hier benötigen wir entsprechend Geduld. Dieser Aufwuchs braucht Zeit. 

Reservistinnen und Reservisten spielen seit jeher eine wichtige Rolle. Ich erinnere mich an viele gute und wichtige Unterstützungsleistungen im Rahmen der Coronapandemie. Das Problem ist allerdings, und da müssen wir uns im Klaren sein, dass das Gesundheitssystem in Deutschland unter einem eklatanten (Fach-)Personalmangel leidet, der sich im Laufe der nächsten Jahre noch verstärken wird. Das vorhandene Fachpersonal wird also im zivilen Bereich dringend gebraucht, gerade dann, wenn das Gesundheitssystem durch die Drehscheibenfunktion Deutschlands tendenziell deutlich mehr ausgelastet und möglicherweise überlastet ist. Unsere Reservistinnen und Reservisten würden bei Einberufung deshalb eine nicht zu schließende Lücke im zivilen sanitätsdienstlichen Umfeld reißen. Wir benötigen daher auf diesem Gebiet deutlich mehr Transparenz und ein klares Lagebild. Uns muss klar sein, dass wir beim Einsatz im Kampfgebiet weitgehend autark auf eigenes aktives Personal zurückgreifen müssen, da unsere Reservisten ihren Teil zur Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung in den zivilen Strukturen beitragen müssen. Auch hier benötigen wir in Deutschland ein kluges System der Vernetzung, der gegenseitigen Aushilfe und der Verbreiterung der personellen Möglichkeiten. Ich betone erneut, dass all diese Herausforderungen nur gesamtgesellschaftlich gemeistert werden können. 

WM: Herr Generalarzt, wir bedanken uns für das Gespräch! 


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