„AUS FEHLERN NICHT ZU LERNEN IST DUMM UND TÖDLICH“ – FEHLERVERMEIDUNGSSTRATEGIEN AM BEISPIEL DER CHIRURGIE*

Aus der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie (Ärztlicher Direktor: Oberstarzt Prof. Dr. B. Friemert) des Bundeswehrkrankenhauses Ulm (Chefarzt: Generalarzt Prof. Dr. Dr. E. Grunwald)



Torsten Andres, Benedikt Friemert und Gerhard Achatz

Auf Einladung von Oberstarzt Prof. Dr. med. Benedikt Friemert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie am Bundeswehrkrankenhaus Ulm, referierte am 16.11.2011 Prof. Dr. med. Hartmut Siebert, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie und der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie stellvertretender Vorsitzender des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, in einem 60-minütigen Vortrag über die Ursachen von Fehlern im operativen Bereich, über Wege zum Umgang mit Fehlern und über Fehlervermeidungsstrategien.

Es wurde deutlich, dass am Bundeswehrkrankenhaus Ulm in vielen Bereichen bereits wichtige Schritte umgesetzt wurden, um die Patientensicherheit zu steigern. Die Einführung zusätzlicher Fehlervermeidungsstrategien – hier seien exemplarisch das Team-Time-Out oder die konsequente Anwendung sogenannter Surgical Safety Checklists genannt – können die Sicherheit aber noch weiter verbessern.

Das Thema Patientensicherheit in Krankenhäusern und Systeme zur Fehlervermeidung sind in den Medien zunehmend präsenter werdende Aspekte der Medizin, die für Patienten bei der Wahl ihrer Behandler an Bedeutung gewinnen. Wurde M. Rothmund 2003 beim Chirurgenkongress in München noch als „Nestbeschmutzer“ bezeichnet, als er laut aussprach, dass mehr Menschen in deutschen Krankenhäusern sterben als auf deutschen Autobahnen, so haben sich die Bedeutung von Patientensicherheit und insbesondere der Umgang mit Fehlern im ärztlichen Handeln deutlich gewandelt und die Bedeutung interdisziplinärer Ansätze zur Fehlervermeidung zugenommen. Bei einer geschätzten Häufigkeit von 17,5 Millionen unerwünschten Ereignissen pro Jahr bei Krankenhauspatienten in Deutschland und rund 20 000 juristischen Verfahren pro Jahr, kam es im Jahr 2008 allein im Fachbereich Orthopädie zu 504 vermeidbaren unerwünschten Ereignissen, welche juristisch entschädigt wurden. Dabei stehen operativ tätige Disziplinen aufgrund der sorgfältigen Dokumentation von Operateur, Assistenten, Instrumenteuren sowie Operationsverfahren und der damit einhergehenden guten Rekonstruierbarkeit des jeweiligen Falles häufig im Fokus. Zu den „Top Ten“ der unerwünschten Ereignisse in der Chirurgie zählen dabei die Operation der falschen Seite oder des falschen Organs (25/100 000 Eingriffe), das Belassen eines Fremdkörpers im Situs (21/100 000 Eingriffe), die Wahl eines falschen Implantates, eine falsche Operationstechnik oder eine falsche postoperative Lagerung.

Biberthaler und Siebert et al. (1) identifizierten insbesondere eine mangelnde Aufklärung des Patienten und Defizite in der Bildgebung als Risikofaktoren der Fehlerentstehung. Letztlich ist jedoch immer eine polykausale Ursachenkette als ursächlich für die Entstehung unerwünschter Ereignisse zu sehen. Neben den bereits genannten Ursachen zählen dazu mangelnde Kooperation und Kommunikation des Personals, mangelnde persönliche Skills oder fehlende Sicherheitsmaßnahmen im OP wie beispielsweise ein Team-Time-Out oder Zählkontrollen. Dabei sind formal eine strukturelle (zum Beispiel Ausstattung des Krankenhauses), eine organisatorische (unter anderem Training des Personals, Checklisten) sowie eine individuelle Ebene (Übermüdung, Gewissenhaftigkeit) zu unterscheiden. Zudem sind auch die geänderten Rahmenbedingungen im ärztlichen Arbeitsalltag zu berücksichtigen. So führen die Umsetzung des Arbeitszeitgesetzes durch kürzere Arbeitszeiten und die zunehmende Spezialisierung innerhalb der medizinischen Fachgebiete zu einer steigenden Zahl an Schnittstellen und damit zu potenziellen Ursachen für unerwünschte Ereignisse.

Um der komplexen Problematik beim Entstehen von Fehlern und unerwünschten Ereignissen in der Medizin entgegenzutreten, ist die Implementierung eines umfassenden, internen klinischen Risikomanagements zur Erkennung von Fehlern und Schwachstellen im Alltag essenziell. Das Ziel jeglicher Fehlervermeidungsstrategien muss sein, aus den entstandenen Fehlern zu lernen, um diese zukünftig vermeiden zu können und von einer Kultur des Anklagens zu einer entsprechenden Sicherheitskultur zu gelangen. Dazu gehört insbesondere die Einsicht, dass es sich niemals um monokausale Ursachen handelt. Der Einzelne muss die Bereitschaft aufbringen, sich selbst und anderen Fehler einzugestehen. Ebenso zählen dazu das offene Ansprechen der Fehler, um im Team zu lernen, und das Besprechen der Problematik mit dem Geschädigten, dem Patienten.

Hier besteht innerhalb der Ärzteschaft häufig große Unsicherheit bezüglich der Rechtslage. So kommt auch nach aktuellen Veröffentlichungen eine Entschuldigung beim Patienten einem Schuldanerkenntnis gleich. Letzteres könnte vom Haftpflichtversicherer mit Sanktionen geahndet werden, wodurch eventuell auch das Renommee des betroffenen Krankenhauses mit der Folge ausbleibender Patienten leiden könnte. Dennoch vertritt das Aktionsbündnis Patientensicherheit die Ansicht, ein offensives, das heißt durch Entschuldigung und Empathie geprägtes Gespräch mit dem Patienten zu suchen. Hierzu schreibt das Aktionsbündnis auch in einer Informationsbroschüre, dass der Ausdruck von Bedauern und eine wahrheitsgemäße Erklärung über Tatsachen und Erläuterungen der medizinischen Sachverhalte rechtlich keinem Anerkenntnis der Schuld gleich kommt und damit nicht zum Verlust des Versicherungsschutzes führt. Insbesondere der Ausdruck von Bedauern anstatt von Rechtfertigungen und die Versicherung dem Patienten gegenüber, dass alle Maßnahmen zur Klärung des Fehlers unternommen werden, sind hier von großer Bedeutung. In diesem Zusammenhang schätzen Schlichtungsstellen und Patientenfürsprecher, dass sich mit einem solchen Vorgehen der laufenden und aufrichtigen Information des Patienten 20 bis 30 % der Klagen vermeiden ließen.

Zur Fehlererkennung sind von Fehlerregistern über Berichte der ärztlichen Schlichtungsstelle bis zu anonymen Fehlermeldesystemen diverse Möglichkeiten zur Information und zur Entwicklung individueller Fehlervermeidungsstrategien verfügbar. Besonders wichtig ist es, vorgeschlagene Strategien und Handlungsempfehlungen, wie sie unter anderem auch vom Aktionsbündnis Patientensicherheit herausgegeben werden, an die jeweils häuslichen Verhältnisse zu adaptieren. Prof. Dr. Siebert sieht hier die bereits erwähnte Kommunikation im Schadensfall, die Einführung von Surgical Safety Checklists, Qualitätszirkel und Human Ressources Management-Schulungen mit Human Factor Training im Simulator als entscheidende Punkte. Die genannten Surgical Safety Checklists beinhalten die präoperative Überprüfung (unter anderem Aufklärung und Identifikation des Patienten und Markierung der zu operierenden Seite in der Schleuse), das Team-Time-Out vor Beginn der Operation (unter anderem Vorstellung der Teammitglieder), eine für alle OP-Mitglieder wahrnehmbare Zählkontrolle und das Benennen operativer Schwierigkeiten und der Nachbehandlung durch den Chirurgen. Entscheidend ist hier eine Top-Down-Umsetzung ausgehend von den entsprechenden Ärztlichen Direktoren und Chefärzten beziehungsweise Leitern der Funktionsbereiche.

Nicht zuletzt zu berücksichtigen sind auch ökonomische Faktoren aufgrund eines möglicherweise erhöhten Personalaufwandes sowie der Verlängerung von OP-Zeiten. Prof. Dr. Siebert berichtete an dieser Stelle nach eigener Evaluation von einem zeitlichen Mehraufwand von circa 60 Minuten pro Tag bei drei Operationssälen. Zur Steigerung beziehungsweise zur Förderung der Akzeptanz soll, wie in einigen zivilen Kliniken schon geschehen, die Einführung eines Belohnungssystems mit zum Beispiel einem zusätzlichen Urlaubstag erwogen werden. Wie effizient diese Maßnahme sein kann, zeigt eine Untersuchung in den Niederlanden. Dort sank die Rate unerwünschter Ereignisse von 1,5 auf 0,8 % (= - 47 %), nachdem man Sicherheitsmaßnahmen flächendeckend eingeführt und konsequent umgesetzt hatte.

In einem spannenden und abwechslungsreichen Vortrag, der nicht zuletzt auch durch die Berichte eigener Erfahrungen und Fehler des Referenten seine Authentizität erlangte, konnte Prof. Dr. Siebert für das Thema Patientensicherheit im Krankenhaus sensibilisieren. Er machte dabei deutlich, wie bedeutsam zusätzliche, an die klinikinternen Verhältnisse angepasste Sicherheitssysteme neben Partnerschaften zur Patientensicherheit wie die „Aktion saubere Hände“ oder bestehende Critical Incidence Reporting Systeme (CIRS) sind, die überwiegend durch Patienten und deren Angehörige genutzt werden. An dieser Stelle zeigte sich auch, dass das Bundeswehrkrankenhaus Ulm beispielsweise durch die präoperative Identifikation des Patienten, die Frage an den Patienten nach der durchzuführenden Operation und gegebenenfalls der zu operierenden Seite sowie mit der chirurgischen Komplikationssprechstunde bereits richtige und notwendige Schritte eingeleitet hat. Es wäre jedoch sinnvoll und wünschenswert, weitere Fehlervermeidungsstrategien, insbesondere an Schnittpunkten und -stellen, wie zum Beispiel ein Team-Time-Out, oder interdisziplinäre Besprechungen, die auch die OP-Gruppe und Krankenpflege mit einschließen, einzuführen. Abschließend bedankte sich Oberstarzt Prof. Dr. Friemert herzlich für den informativen Vortrag und betonte nochmals die Bedeutung klinikadaptierter Systeme zur Erhöhung der Patientensicherheit.

* Basierend auf einem Vortrag von Prof. Dr. H. Siebert im Rahmen einer Fortbildungsveranstaltung am Bundeswehrkrankenhaus Ulm.

Literatur 

  1. Biberthaler P, Seifert J, Post M, Smektala R, Ottmann K, Braun A, Siebert H, Stengel D: Identification of risk factors for subsequent legal claims in orthopedic and trauma surgery. Unfallchirurg 2011; 114(9): 768-75.

Datum: 31.08.2012

Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2012/5-6

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