„Damage Control“ bei Gefäßverletzungen im Einsatz

Damage control” in vascular trauma on deployment

Aus der Klinik für Gefäßchirurgie und Endovaskuläre Chirurgie (Leitender Arzt: Oberstarzt Dr. M. Engelhardt) des Bundeswehrkrankenhauses Ulm (Chefarzt: Generalarzt Dr. A. Kalinowski)

Michael Engelhardt, Tono Böckenfeld, Tino N. Beck, Kristoffer Elias

WMM, 59. Jahrgang (Ausgabe 6-7/2015; S. 198-200)

Zusammenfassung

Mit einer Inzidenz von 10 - 12 % sind schwere Gefäßverletzungen im Einsatz deutlich häufiger als im zivilen Umfeld. Drohende Folgen sind der Tod durch Verblutung und Majoramputationen.

In diesem Beitrag werden unter Einsatzbedingungen durchführbare Maßnahmen der Blutungskontrolle und gefäßchirurgische Eingriffe zur „Damage Control“ umrissen, die zum Fertigkeitsspektrum der Einsatzchirurgie gehören müssen.

Schlüsselworte: Einsatzchirurgie, Gefäßchirurgie, Damage Control, Blutungskontrolle, Amputation

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Abb. 1: Schleuse und Ballon-Okklusions-System in der A. femoralis communis bei REBOA.

Summary

With an incidence of 10 - 12 % major vascular trauma are rather common in combat related injuries. Possible consequences are exsanguination and major amputation. This article gives a short overview about bleeding control techniques and summarizes vascular surgery procedures under the umbrella of "damage control" which should be applicable by each deployed military surgeon.

Keywords: military surgery, vascular surgery, damage control, bleeding control, amputation

Einleitung

Die Inzidenz schwerer Gefäßtraumata ist bei Verletzungen durch Waffeneinwirkung ungleich höher als bei allen anderen Verletzungsmechanismen. Während man in Deutschland bei nur etwa 1 % aller Verletzten mit einer Beteiligung von größeren Arterien und Venen rechnen muss, liegt die Inzidenz bei Terrorschlägen im zivilen Umfeld bei 10 %, in den jüngeren Kriegen im Irak und Afghanistan sogar bei 12 % [2, 7]. Die Zahl der primär überlebten und zur  Behandlung gekommenen Gefäßverletzungen hat dabei in den vergangenen zehn Jahren erheblich zugenommen, hauptsächlich dank schnellerer Evakuierung mit Hubschraubern („combat air rescue“), verbesserter Blutstillung (Tourniquet als Bestandteil der Ausrüstung) und „aggressiverer“ medikamentöser Reanimation. Deutlich mehr Verwundete mit Gefäßbeteiligung erreichen somit lebend die erste chirurgische Versorgung. Trotz dieser Erfolge bleibt der Tod durch Verblutung nach wie vor die häufigste (vermeidbare) Todesursache im Landkrieg [1, 3]. Und auch nach geglückter Reanimation bleibt die Rate an primären und sekundären Amputationen (16 %) immer noch erschreckend hoch [2].

Therapie der Gefäßverletzung im Einsatz

Bei einer schweren Gefäßverletzung wird der Verwundete durch zwei Entitäten unterschiedlicher Priorität bedroht: Hämorrhagie und Ischämie. Während eine massive Blutung zu einem sofortigen Handeln noch vor Beginn des sonst üblichen ATLS (Advanced Trauma Life Support)-Algorithmus zwingt, wird die Ischämie zwar vordringlich, jedoch in aller Regel erst nach Stabilisierung des Verwundeten und Komplettierung der Notfalldiagnostik angegangen.

Blutungskontrolle
Das Sichern einer suffizienten Blutungskontrolle hat bereits präklinisch höchste Priorität. Die meisten überlebbaren Blutungen können mit einem adäquaten Druckverband beherrscht werden. Sollte dieser zur Blutstillung nicht ausreichen oder kann ein zeitaufwändiger Druckverband nicht angelegt werden – zum Beispiel unter Beschuss, in völliger Dunkelheit oder bei einem Massenanfall von Verwundeten – ist das Tourniquet eine wertvolle Alternative.

Das Tourniquet war in der Vergangenheit zu Unrecht in Verruf geraten. Die Erfahrungen der israelischen Armee haben beispielsweise gezeigt, dass in einer Serie mit 91 Tourniquets (durchschnittliche Ischämiezeit 83 ± 52 Minuten) bei insgesamt 550 Verwundeten in 78 % der Fälle eine effektive Blutungskontrolle erreicht werden konnte und kein Tod durch Verbluten auftrat [4]. Neurologische Komplikationen wurden nur bei Ischämiezeiten über 150 Minuten beobachtet. Häufigste Fehler bei der Anwendung des Tourniquets sind falsche Indikationsstellung – ein Druckverband hätte es auch getan – und eine venöse Stauung mit vermehrter Blutung bei zu zaghaft angezogenem Tourniquet.

Auf der Ebene der ersten chirurgischen Versorgung können gegebenenfalls weitere Maßnahmen zur Blutungskontrolle zum Einsatz kommen. Insbesondere in den sogenannten „Transit-Zonen“, das heißt dem Übergang von Körperstamm auf Extremitäten beziehungsweise Hals (Axilla-, Hals- oder Leistenregion), ist eine Blutungskontrolle oftmals schwierig, da ein wirkungsvoller Druckverband oder Tourniquet nicht angelegt werden können. Die manuelle Kompression oder eine extraluminale Ballonblockade mit einem Blasenkatheter können in diesen Fällen lebensrettend sein. Auf jeden Fall werden Druckverband, Tourniquet und extraluminale Ballonblockade über die Phase des operativen Abwaschens und Abdeckens hinaus belassen, bis eine definitive chirurgische Blutungskontrolle sichergestellt ist. Blutungskontrolle geht vor Sterilität!

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Abb. 2: Shuntröhrchen in A. und V. femoralis superfi cialis als „damage control“-Maßnahme.
Eine Renaissance erlebt derzeit die intraluminale Ballonblockade der Aorta, das sogenannte REBOA (Resuscitative Endoluminal Balloon-Occlusion of the Aorta)-Prinzip [6]. Erstmals von Lieutenant Colonel Carl W. Hughes im Korea-Krieg vorgestellt, geriet das Verfahren wegen unbefriedigender Ergebnisse schnell wieder in Vergessenheit. Mit der endovaskulären Ära in der Gefäßchirurgie wurde die Ballonokklusion zur Blutungskontrolle bei rupturierten Bauchaortenaneurysmata wieder populär. In der Traumatologie hat sich dieses endovaskuläre Verfahren jedoch bislang noch nicht durchsetzen können. Am Bundeswehrkrankenhaus (BwKrhs) Ulm wurde es 2015 etabliert und wird derzeit von der Klinik für Gefäßchirurgie wissenschaftlich begleitet.

Kreislaufinstabile Traumapatienten mit Verdacht auf eine massive intraabdominelle oder pelvine Blutung, welche bislang nur durch anterolaterale Thorakotomie und Crossclamping der thorakalen Aorta stabilisiert werden konnten, können mittels REBOA-Technik über einen großlumigen Zugang in der Leistenarterie supradiaphragmal oder infrarenal aortal geblockt werden. Das Verfahren ist schneller und weniger traumatisierend als die Thorakotomie und hat einen besseren Outcome quoad vitam. Abbildung 1 zeigt das Bild eines Patienten im Schockraum mit liegendem REBOA-Ballon bei Abriss der A. und V. mesenterica superior.

„Damage Control Surgery“
Intra-operativ gilt es, möglichst rasch das Ausmaß der Gefäß-verletzung und der begleitenden Verletzungen zu erfassen. In Zusammenschau mit den weiteren Rahmenbedingungen – zum Beispiel Anzahl der Verwundeten, personelle und materielle Ressourcen, Erfahrung des Operateurs und Physiologie des Verwundeten (Azidose, Hypothermie, Koagulopathie) – muss zu Beginn der Operation die strategische Entscheidung zugunsten einer „damage control“- oder einer „definitive repair“-Operation fallen. Unter „damage control“ versteht man hierbei das geplante zweizeitige Vorgehen mit einfachen, lebensrettenden Maßnahmen („bail out procedures“) in einer ersten Operation und einer aufwändigeren, definitiven Versorgung in einem späteren Eingriff nach Stabilisierung des Patienten und Optimierung der Rahmenbedingungen. Wegen der ausgeprägten Koagulopathie des Polytraumatisierten und den - in der regelhaft weniger geübten Hand des Einsatzchirurgen – zeitaufwändigen Gefäßrekonstruktionen kommt diesem Prinzip bei Gefäßverletzungen eine besondere Bedeutung zu, welche letztlich über das Outcome entscheiden kann.

Zu den „damage control“ Maßnahmen in der Gefäßchirurgie zählen die Ligatur, der temporäre intravasale Shunt und, in jüngster Zeit, endovaskuläre Verfahren. Auf letztere wird hier nicht eingegangen, da diese Techniken in den Auslandseinsätzen des Sanitätsdienstes derzeit noch nicht zur Verfügung stehen.

Ligatur
Fast alle Venen – mit Ausnahme der Pfortader – und viele Arterien können ohne oder zumindest mit tolerierbarem Schaden ligiert werden. Die Ligatur ist dabei in der „damage control“-Situation kein Eingeständnis eines operativen Unvermögens. Richtig eingesetzt ist sie vielmehr Ausdruck korrekter Lagebeurteilung und besonnenen Handelns im Sinne des Verwundeten.

Temporärer Shunt
Die klassische „damage control“-Technik der Gefäßchirurgie ist jedoch der temporäre intravasale Shunt (Abbildung 2). Über ein kommerziell erhältliches oder improvisiertes Kunststoffröhrchen (zum Beispiel Infusionsleitung, nasogastraler Tubus, Trachealtubus, Thoraxdrainage etc.), welches ins Gefäßlumen eingelegt und durch Tourniquet-Gefäßzügel gesichert ist, wird die Blutung kontrolliert und die Perfusion aufrecht erhalten. Vor Überbrückung mit dem Shunt müssen beide Gefäßstümpfe ausreichend dargestellt werden und der Ein- beziehungsweise Ausstrom mit einem Fogarty-Katheter thrombektomiert werden. Eine systemische Antikoagulation verbietet sich beim Polytraumatisierten zumeist. Zumindest nach peripher sollten jedoch 1 000 IE Heparin gegeben werden, um eine erneute Thrombosierung der Ausstrombahn zu verhindern. Insbesondere unter Einsatzbedingungen muss auf eine sichere Fixierung des Shunts geachtet werden, um fatale Dislokationen auf dem Transport zu vermeiden. Zur Vermeidung eines frühzeitigen Shuntverschlusses sollten die Ausstrombahn frei sein, ausreichend kaliberstarke Shuntröhrchen verwendet, -Loop-Shunts und ein Abknicken vermieden und Verletzungen größerer Venen ebenfalls „geshunted“ werden, um den venösen Abstrom zu optimieren.

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Abb. 3: Teilnehmer und Tutor beim Kurs „Competence in Emergency Vascular Surgery for Non-Vascular Surgeons“ am BwKrhs Ulm.

Die Shunts wurden von den amerikanischen Militärchirurgen im Rahmen der massiven Kämpfe im Irak und in Afghanistan als ideale „damage control“-Technik wiederentdeckt [5, 7]. Zuverlässige, schnelle, hubschraubergestützte Verlegungen der US-Armee von Role 1 und 2 zu rückwärtigen, höheren Versorgungseinrichtungen der Role 3 erlaubten kurze Shuntzeiten ohne Shunt-assoziierte Komplikationen. In einer Serie aus dem Balad-Vascular-Registry (Air Force Theater Hospital, Balad/Irak) mit 163 Gefäßverletzungen erreichten 30 das Feldhospital mit liegenden Shunts, welche alle in frontnahen Einrichtungen gelegt worden waren. In 28 Fällen lag die Shunt-Zeit bei unter zwei Stunden. Es wurden keine Shunt-assoziierten Komplikationen beobachtet und der primäre Extremitätenerhalt lag bei 93 %.

Fasziotomie
Keine gefäßchirurgische „damage control“-Maßnahme im engeren Sinn, aber eine einfache chirurgische Maßnahme zum Extremitätenerhalt stellt die Fasziotomie dar. Die Indikation zur Faszienspaltung sollte großzügig gestellt werden. Insbesondere, wenn der Patient nicht antworten kann oder mit wechselnden verantwortlichen Ärzten weiterverlegt werden soll. Das sich rasch entwickelnde Kompartmentsyndrom an den Extremitäten wird auf dem Transportweg leicht übersehen. Die Fasziotomie umfasst immer langstreckig alle Kompartimente der betroffenen Extremität.

Fazit

Schwere Gefäßverletzungen sind relativ häufig in Kriegs- und Krisenszenarien und stellen immer eine erhebliche Herausforderung für den Einsatzchirurgen dar. Das zielgerichtete Vorgehen von Anfang an ist Grundvoraussetzung für ein gutes Behandlungsergebnis. Kenntnisse in gefäßchirurgischen „damage control“-Maßnahmen ebenso wie Fertigkeiten bei arteriellen und venösen Rekonstruktionen sind daher unabdingbar für alle Einsatzchirurgen. In speziellen Kursen am „Zentrum für Gefäßmedizin der Bundeswehr“ in Ulm werden diese Kenntnisse in Form von praktischen Kursen an Einsatzchirurgen des Sanitätsdienstes und an Chirurgen aus anderen NATO-Staaten und befreundeter Nationen regelmäßig an lebensnahen Modellen der Vascular International School vermittelt (Abbildung 3).

Literatur

  1. Blood C G; Puyana J C; Pitlyk P J et al.: An assessment of the potential for reducing future combat deaths through medical technologies and training. J Trauma 2002; 53(6): 1160-1165
  2. Fox C J; Gillespie D L; O’Donnell S D, Rasmussen T E, Goff, J M: Contemporary management of wartime vascular trauma. J Vasc Surg 2002; 41(4): 638-644
  3. Holcomb J B; McMullin N R; Pearse L; Caruso, J et al.: Cause of death in U.S. Special Operations Forces in the global war on terrorism: 2001-2004. Ann Surg 2007; 245(6): 986-991
  4. Lakstein D; Blumenfeld A, Sokolov T, Lin G et al.: Tourniquets for hemorrhage control on the battlefield: a 4-year accumulated experience. J Trauma 2003; 54(5 Suppl): 221-225
  5. Rasmussen T E; Clouse W D; Jenkins D H; Peck M A et al.: The use of temporary shunts as a damage control adjunct in the management of wartime vascular injury. J Trauma 2006; 61(1): 8-12
  6. Stannard A; Eliason J L; Rasmussen T E: Resuscitative endovascular balloon occlusion oft he aorta (REBOA) as an adjunct for hemorrhagic shock. J Trauma 2011; 71(6): 1869-1872
  7. Tallar J; Kamdar J P; Greene J A; Morgan R A et al.: Temporary vascular shunts as initial treatment of proximal extremity vascular injuries during combat operations: the new standard of care at Echelon II facilities? J Trauma 2008; 65(3): 595-603

Bildquelle:
Abb. 1: Oberstarzt PrivDoz Dr. Helm, Ulm
Abb. 2 und 3: Oberstarzt Dr. Engelhardt, Ulm

Datum: 04.08.2015

Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2015/6-7

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