ENTWICKLUNG UND ANWENDUNG EINES ZELL-CO-KULTUR-SYSTEMS ZUR UNTERSUCHUNG DER SCHWEFELLOST-TOXIZITÄT UND POTENZIELLER THERAPEUTIKA

Development and Application of a Cell Co-Culture System to Investigate Sulfur Mustard Toxicity and Potential Antidotes

Aus dem Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr (Leiter: Oberstarzt Professor Dr. med. Horst Thiermann)

Frank Balszuweit, Georg Menacher, Harald John, Annette Schmidt, Kai Kehe, Dirk Steinritz, Franz Worek, Horst Thiermann

WMM, 58. Jahrgang (Ausgabe 9/2014; S. 306-310)

Zusammenfassung:

Schwefellost ist ein vielfach in der Vergangenheit eingesetzter chemischer Kampfstoff, der weiterhin eine deutliche Bedrohung darstellt und gegen den bislang kein kausal wirksames Antidot existiert.

Grund dafür ist die komplexe Pathophysiologie, sowohl auf molekularer und zellulärer Ebene als auch im Zusammenwirken verschiedener Zelltypen eines Gewebes. Für Krankheitsverlauf und Heilung der Haut, eines der am häufigsten von Schwefellost betroffenen Organe spielt die Interaktion von Keratinozyten und Immunzellen eine besonders wichtige Rolle. Dieser Artikel beschreibt ein am Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr (InstPharmToxBw) entwickeltes automatisiertes Verfahren zur Untersuchung der Schwefellost-Vergiftung und möglicher Therapeutika mittels in vitro Zellkultur- Modellen. Als geeigneter Arzneistoff zur Verminderung des nekrotischen Zelltodes wurde ein wasserlösliches Prodrug des Silibinin identifiziert. Co-Kultur-Experimente mit immortalisierten Keratinozyten (HaCaT1) und Immunzellen (THP-1) zeigten, dass Diclofenac nach Schwefellost-Vergiftung stark protektiv wirksam und Dexamethason überlegen ist. Ibuprofen dagegen verstärkt den durch Schwefellost induzierten Schaden und scheint ungeeignet zu sein. Weitere potenzielle Arzneistoffe befinden sich in Erprobung. Die Ergebnisse demonstrieren die wehrmedizinische Relevanz der Forschung im medizinischen C-Schutz.
Schlagworte: Schwefellost, in vitro-Testverfahren, Zellkultur, Silibinin, anti-inflammatorische Arzneimittel

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Summary

Sulfur mustard is a chemical warfare agent that was repeatedly used in the 20th century and remains reason for strong concern. No causative antidote is available due to the highly complex pathophysiology, both on the molecular and cellular level and the cell-to-cell interactions within affected tissues. Interaction between keratinocytes and immune cells is of particular importance for the course of illness and potential convalescence after sulfur mustard exposure. This manuscript describes an automated system for in vitro cell co-culture experiments to investigate sulfur mustard toxicology and to test potential antidotes. A water-soluble pro-drug of silibinin has been identified as effective to reduce acute necrosis after sulfur mustard injury. Co-culture experiments, using immortalized keratinocytes (HaCaT1) and immune cells (THP-1) have revealed strong protective effects of diclofenac which were even superior to dexamethasone. In contrast, ibuprofen strongly amplified sulfur mustard toxicity and should not be used after sulfur mustard exposure. Studies using novel candidate substances are in progress. These results underscore the relevance of medical chemical defence research to protect and restore the health of soldiers potentially affected by sulfur mustard.
Keywords: sulfur mustard, in vitro methods, cell culture, silibinin, anti-inflammatory drugs

Einführung

Schwefellost, umgangssprachlich als Senfgas bekannt, wurde bereits 1822 erstmals synthetisiert und ab 1917 im Ersten Weltkrieg als chemischer Kampfstoff eingesetzt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts kam es zu weiteren Einsätzen dieses Kampfstoffs, zuletzt in den 1980er Jahren durch das damalige irakische Regime gegen iranische Truppen und die kurdische Zivilbevölkerung. Schwefellost befand sich unter den von Syrien im Jahr 2013 deklarierten und übergebenen chemischen Kampfstoffen [1], wurde in Libyen nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes gefunden und ist mit moderatem Fachwissen und einfachen technischen Voraussetzungen zu synthetisieren. Somit geht von diesem Kampfstoff weiterhin eine Bedrohung für Soldaten der Bundeswehr und verbündeter Streitkräfte oder ggf. für eine durch Terroranschläge betroffene Zivilbevölkerung aus.

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Obwohl sich die Medizin nahezu 100 Jahre mit der Diagnostik und Therapie der Schwefellost-Vergiftung auseinander setzen musste, existiert bis heute kein Antidot, das eine kausale Behandlung dieser Vergiftung ermöglicht. Grund dafür ist die enorme Komplexität der durch Schwefellost verursachten Vergiftung [2]. Aus dem Agens entsteht ein reaktives Zwischenprodukt, das mit zahlreichen biologischen Makromolekülen - insbesondere Nukleinsäuren und Proteinen - reagiert und deren Funktion nachhaltig stört. DNA kann hinsichtlich ihres Informationsgehaltes verändert werden, daneben werden ihre Replikation und die Expression, also die Umsetzung der Information im Zuge der Protein-Biosynthese, empfindlich beeinträchtigt. Die Reaktion von Schwefellost bzw. seines Intermediates mit Proteinen kann deren Wirkung als Enzym stören und membranständige Rezeptor-Proteine entweder hemmen oder in lang anhaltender für die Zelle schädlicher Form aktivieren.
Bis zu einem gewissen Grade können durch Schwefellost induzierte Schäden auf molekularer Ebene kompensiert werden, z. B. durch DNA-Reparaturenzyme und die Neu-Synthese von Enzym- und Membran-Proteinen. Überschreitet die Vergiftung jedoch einen bestimmten Schweregrad, stoßen diese Mechanismen an ihre Grenzen. In Zellen mit irreversibel geschädigter DNA kann auch ohne zusätzliche Einflüsse aus der Umgebung, d. h. auf intrinsischem Weg, die Apoptose, der programmierte Zelltod ausgelöst werden. Apoptose nach Schwefellost-Vergiftung dient bis zu einem gewissen Maß dem Überleben und der teilweisen Rekonvaleszenz des Gesamt-Organismus, da auf diese Weise Zellen eliminiert werden, die in ihrer Funktion irreversibel geschädigt sind oder anderenfalls aufgrund ihrer nicht reparablen genetischen Veränderungen zum Ausgangspunkt einer Tumor-Entstehung werden könnten. Ist aber ein zu großer Anteil von Zellen in Apoptose begriffen, so äußert sich das in schwerer Verletzung bis hin zur Zerstörung des betroffenen Gewebes. Auch zelluläre Reparaturmechanismen sind in hohem Maße energieaufwendig und erfordern zudem NADH+, das nicht nur essentieller Träger des Energiestoffwechsels, sondern Baustein des für die Steuerung der DNA-Reparatur benötigten Makromoleküls poly-ADP-Ribose (PAR) ist. Somit kann nach Schwefellost-Vergiftung eine zelluläre Energiekrise in einen ggf. raschen, ungesteuerten, d. h. nekrotischen Zelltod einmünden. Auch in initial überlebenden Zellen kommt es aufgrund der Fehlfunktion von Enzymen und einer gestörten Neusynthese von Enzym- und Membranproteinen zu einer Anhäufung radikalischer Sauerstoff- und Stickstoff-Verbindungen, die sekundäre Zellschäden induzieren und zum Absterben oder zu einer gestörten Funktion der betroffenen Zellen führen können.
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Zusätzlich zu den bereits auf molekularer und zellulärer Ebene komplexen Schädigungsmechanismen kommen Interaktionen zwischen den verschiedenen Zellen und Zelltypen eines Gewebes. Hierbei ist offensichtlich die Interaktion zwischen Keratinozyten, dem dominierenden Zelltyp der Haut einerseits und Immunzellen andererseits von besonderer Bedeutung. Durch Schwefellost geschädigte Zellen, insbesondere Immunzellen, produzieren Zytokine, die bei benachbarten Zellen Entzündungsreaktionen und ebenfalls programmierten Zelltod auslösen können. Da die Apoptose in diesem Fall weitgehend unabhängig von der Schädigung der betroffenen Zelle selbst ist und durch den externen Einfluss der Zytokine bestimmt wird, spricht man von extrinsischer Apoptose [3]. Diese kann auch Zellen betreffen, die durch die initiale Einwirkung von Schwefellost nicht oder nur reversibel geschädigt wurden. Eine Begrenzung der extrinsischen Apoptose gilt daher als wichtiger Ansatzpunkt, um akute Gewebeschäden nach Schwefellost-Vergiftung zu minimieren und eine im Ansatz kausale Therapie zu ermöglichen. Darüber hinaus ist die Beseitigung von Zelltrümmern nach nekrotischem oder apoptotischem Zelltod eine wesentliche Voraussetzung für die Rekonvaleszenz. An diesem Vorgang sind Immunzellen wesentlich beteiligt, jedoch kann auch deren Funktion nach Einwirkung von Schwefellost gestört sein.
Das Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr (InstPharmToxBw) hat als Kompetenzzentrum für den medizinischen C-Schutz neben seinen Aufgaben im Rahmen von Beratung, Lehre, Spezialdiagnostik und Verifikation den Auftrag, die therapeutischen Optionen nach Exposition gegenüber chemischen Kampfstoffen zu verbessern. Dazu gehört auch Forschung und Entwicklung zur Verbesserung der Therapie nach Schwefellost-Vergiftung und zur fundierten Bewertung bereits verfügbarer symptomatischer Therapeutika. Wichtiger Schwerpunkt ist die Entwicklung und Anwendung von in-vitro Zellkultur-Modellen zum besseren Verständnis der Pathophysiologie nach Schwefellost-Vergiftung und zur systematischen Erprobung bekannter und potenzieller Therapeutika.
Versuche unter Verwendung von Zellkultur-Modellen bieten in der frühen Phase einer Arzneimittel-Entwicklung vielfältige Vorteile gegenüber Tierversuchen: Sie sind schneller und in größerer Zahl bei deutlich reduzierten Kosten durchführbar. Auf molekularer und zellulärer Ebene kann eine Kultur aus Zellen menschlichen Ursprungs eine bessere Annäherung an die klinische Situation darstellen als das bei einem Tierversuch der Fall wäre. Probenmaterial aus Zellkulturen ist leicht und standardisiert aufzuarbeiten und ermöglicht die Untersuchung zahlreicher Parameter, um Schädigungsmechanismen nach Vergiftung umfassend aufzuklären. Letztlich ist es auch aus ethischen Gründen geboten, Tierversuche wo immer möglich durch alternative Methoden zu ersetzen bzw. im Zuge einer künftigen Arzneimittelzulassung erforderliche Tierexperimente auf solche Stoffe und Dosierungen zu beschränken, die sich im in vitro Modell als aussichtsreich erwiesen haben.

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Im Fall einer Schwefellost-Exposition gehört die menschliche Haut aufgrund ihrer großen Oberfläche zu den am häufigsten betroffenen Organen. Keratinozyten sind der häufigste Zelltyp der Haut und sichern durch ihre kontinuierliche Proliferation und das Verhornen bestehender Zellen die Regeneration und die Aufrechterhaltung der Schutz- und Barrierefunktion der Haut. Die immortalisierte Zelllinie HaCaT hat sich dabei als Modell für native Keratinozyten etabliert [4]. Wie bereits erwähnt, kann die Interaktion mit Immunzellen von entscheidender Bedeutung für den Krankheitsverlauf nach Schwefellost-Vergiftung sein. Dabei können Immunzellen den Zell- und Gewebeschaden sowohl verstärken, etwa durch Steigerung der Inflammation und extrinsischen Apoptose, als auch durch Beseitigung nekrotischer und apoptotischer Zelltrümmer zu einem milderen Verlauf und weitgehender Rekonvaleszenz beitragen. Ein etabliertes Modell für Immunzellen mit monozytären Eigenschaften ist die Zelllinie THP-1 [5]. Obwohl sie ursprünglich aus dem Blut eines Leukämie-Patienten isoliert wurde, weist sie zahlreiche Eigenschaften nativer Monozyten auf, darunter auch die Fähigkeit zur Phagozytose.

Methoden

In einem ersten Schritt werden 96-Well-Platten mit einer standardisierten Zahl an HaCaT-Zellen je Well ausgesät. Während einer 24-stündigen Inkubation können diese Zellen auf der Platte adhärieren und beginnen erneut mit der Zellteilung. Um eine Co-Kultur mit Immunzellen anzuzüchten, werden am zweiten Tag des Experiments THP-1-Zellen hinzugegeben. Die Methode wurde ursprünglich an der Universität Trier entwickelt [6] und am InstPharmToxBw auf die Fragestellungen des medizinischen C-Schutzes angepasst. Innerhalb von 24 Stunden adhäriert ein Teil der THP-1 auf den Keratinozyten, verliert die zuvor charakteristische kugelige Gestalt, bildet Fortsätze aus und weist so zumindest die Morphologie von dendritischen Zellen aus. Weitere 24 Stunden später werden die Zellen gegenüber definierten Konzentrationen von Schwefellost exponiert, während einer Kontrollgruppe lediglich frisches Zellkultur-Medium zugesetzt wird. Um die suspendierten oder nur schwach adhärierten THP-1 Zellen nicht zu entfernen, wird sowohl vor der Exposition als auch im folgenden Schritt auf ein Absaugen des Zellkultur-Mediums verzichtet. Schwefellost ist nach einer Stunde nahezu vollständig hydrolysiert bzw. an die Zellen oder das im Medium befindliche Serumprotein gebunden. Die Zellen können jetzt mit definierten Konzentrationen von Arzneistoffen behandelt werden, während eine scheinbehandelte Gruppe lediglich frisches Zellkultur-Medium erhält. Die Inkubation wird nach Applikation des Arzneistoffes für weitere 24 Stunden fortgeführt.
Anschließend werden evtl. suspendierte THP-1-Zellen durch Zentrifugation auf den Boden der Multi-Well-Platten überführt, die Zellkultur-Überstände werden asserviert, die noch integeren Zellen gewaschen und durch eine 30-minütige Behandlung mit 0,1 % Triton X-100 in phosphatgepufferter Kochsalz-Lösung (PBS) lysiert. In den Zellkultur-Überständen wird das Enzym Adenylat-Kinase (AK) quantifiziert. Mittels ELISA können pro-inflammatorische Zytokine, insbesondere Interleukin-6 und -8 bestimmt werden. Mono-Nukleosomen, die im Zuge der Apoptose gebildet wurden, werden im Lysat mit dem Cell Death Detection ELISA plus bestimmt. Zusätzlich wird AK auch im Lysat bestimmt. Das Verhältnis der AK im Überstand zur Gesamt-AK ist ein verlässliches Maß für den Anteil desintegrierter, nekrotischer Zellen. Zudem dient die gesamte AK bzw. im Lysat gefundene AK auch als Referenzgröße, um die gefundenen Mengen an pro-inflammatorischen Zytokinen bzw. Apoptose-Markern unabhängig von Variationen der Zellzahl bewerten zu können. Die analytische Methodik wurde ausführlich beschrieben von Heinrich et al. [7] und Balszuweit et al. [8].
Sowohl Aussaat, Exposition und Behandlung der Zellkulturen als auch deren Analyse erfolgten mittels automatischer, hochdurchsatzfähiger Pipettier-Systeme, die zuvor in umfangreichen Experimenten validiert wurden. Damit sind eine hoch präzise, reproduzierbare Durchführung der Experimente und eine Erhebung großer, statistisch gut auswertbarer Datenmengen in kurzer Zeit möglich. Abbildung 1 zeigt die Durchführung eines ELISA zur Bestimmung pro-inflammatorischer Zytokine.

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Ergebnisse und Diskussion

Bereits in den Experimenten mit HaCaT-Monokulturen konnte gezeigt werden, dass Silibinin, verabreicht als wasserlösliches Pro-Drug Silibinin-bissuccinat, eine deutliche und signifikante Wirkung gegen den nekrotischen Zelltod in der akuten Phase nach Schwefellost-Vergiftung aufweist (Abb. 2, [8]). Silibinin ist hinsichtlich seiner protektiven Wirkung den über lange Zeit diskutierten Thiol-Verbindungen wie N-Acetylcystein deutlich überlegen. Eine protektive Wirkung des Silibinins konnte nach Einwirkung akut toxischer Schwefellost-Konzentrationen (100 bis 300 µM Schwefellost) und mit einer aus der therapeutischen Anwendung des Silibinin nach Knollenblätterpilz-Vergiftung als realistisch und gut verträglich bekannten Konzentration (50 bis 100 µM Silibinin) gezeigt werden. Die Aufnahme des Pro- Drugs Silibinin-bissuccinat in die Zellen und die metabolische Unsetzung zum freien Silibinin konnte mittels Liquid-Chromatographie- Massenspektometrie/Massenspektometrie (LC-MS/MS) nachgewiesen werden.
Aus der Literatur sind zahlreiche, sich ergänzende protektive Wirkungen des Silibinin bekannt, darunter die Stabilisierung von Zellmembranen, Steigerung der Protein-Biosynthese und Reduktion von zellulärem Stress durch radikalische Verbindungen. Die Vielfalt der protektiven Effekte zeigte sich in den Zellkultur- Experimenten als geeignet, um den ebenfalls komplexen Schädigungsmechanismen der Schwefellost-Vergiftung mit einer als Monotherapie verabreichten Substanz entgegen zu wirken. Vorbehaltlich einer Bestätigung dieser Ergebnisse in gesetzlich vorgeschriebenen tierexperimentellen Studien könnte für den bereits zugelassenen Wirkstoff Silibinin-bissuccinat die Indikations-Erweiterung zur Anwendung nach Schwefellost- Vergiftung angestrebt werden.
Experimente zur Entwicklung des Co-Kultur-Modells aus Keratinozyten und Immunzellen (HaCaT und THP-1) zeigten, dass bereits 2 % THP-1-Zellen, die von der Vergiftung durch Schwefellost mit betroffen sind, zu einer hoch signifikanten Steigerung der Nekrose (Abb. 3), Apoptose und Inflammation führen. Eine weitere Erhöhung des Anteils der THP-1 bewirkt im Vergleich zu der 2 %igen Co-Kultur keine signifikanten Änderungen mehr.
2 % THP-1 entsprechen dem Anteil der immunkompetenten Langerhans-Zellen in der menschlichen Haut. Diese Co-Kultur stellt somit eine gute Annäherung an die Situation in vivo dar und macht deutlich, dass die Interaktion zwischen Keratinozyten und Immunzellen berücksichtigt werden muss, insbesondere bei der Erprobung von Arzneistoffen, die Inflammation und Apoptose beeinflussen. Das Modell wurde als Standard eingesetzt zur Erprobung potenzieller und bekannter Arzneistoffe, die nach Schwefellost-Vergiftung gegeben werden könnten.
Ein besonderes Augenmerk richtete sich dabei auf die zugelassenen Arzneistoffe Dexamethason (als Vertreter der Glucocorticoide) und die nicht-steroidalen Antiphlogistika Ibuprofen und Diclofenac. Da starke Entzündungsreaktionen zu den Leitsymptomen nach Schwefellost-Vergiftung gehören, gehört der Einsatz anti-inflammatorisch wirkender Arzneistoffe zu den mit hoher Wahrscheinlichkeit angewandten therapeutischen Maßnahmen. Allerdings existieren bislang keine systematisch erhobenen Daten zur Wirksamkeit und Verträglichkeit nach Schwefellost- Vergiftung. Dexamethason senkte in HaCaT-Monokulturen die Nekrose, Apoptose und Inflammation signifikant. In Co-Kulturen war die Wirkung schwächer ausgeprägt, erreichte zwar noch die statistische Signifikanz, doch erscheint die klinische Relevanz zweifelhaft. Ibuprofen verstärkte in Mono- und Co-Kulturen die toxischen Effekte von Schwefellost (Abb. 4) und muss daher nach Schwefellost-Exposition als problematisch angesehen werden. Diclofenac, das in Ha- CaT-Monokulturen nur schwach protektiv gewirkt hatte, erwies sich in Co-Kulturen als hoch protektiv (Abb. 5) und überlegen gegenüber Dexamethason.

Schlussfolgerungen

Diese Ergebnisse zeigen, dass mit Hilfe des Co-Kultur-Modells von Keratinozyten und Immunzellen rasch und systematisch Daten erhoben werden können, die im Falle einer Exposition gegenüber Schwefellost von hoher wehrmedizinischer Relevanz sind. Im konkreten Fall bestätigte sich, dass Forschungsarbeiten des medizinischen C-Schutz nicht nur der Identifikation der am besten geeigneten Therapeutika dienen, sondern auch zur rechtzeitigen Erkennung und Vermeidung schwerer Nebenwirkungen von sonst als sicher bekannten Arzneistoffen wie Ibuprofen notwendig sind. Arbeiten zur Erprobung neuer potenzieller Arzneistoffe werden zurzeit durchgeführt, um aussichtsreiche Kandidaten-Substanzen für eine präklinische Entwicklung zu identifizieren. Da der Nachweis der Wirksamkeit von Antidoten für den Medizinischen C-Schutz nur durch Kombination von in vitro- sowie tierexperimentellen in vivo Studien erbracht werden kann, kommt Zellkultur-Experimenten mit Zelllinien menschlichen Ursprungs nicht nur zur initialen Identifikation geeigneter Wirkstoffe, sondern auch zur Extrapolation tierexperimenteller Daten auf den Menschen eine besondere Bedeutung zu.

1 HaCaT = Human adult low Calcium high Temperature keratinocytes

Literatur

  1. Mitteilung der OPCW vom 26.02.2014: http://www.opcw.org/ news/article/consignment-of-sulfur-mustard-delivered-to-latakia- and-removed-from-syria/
  2. Kehe K, Balszuweit F, Steinritz D, Thiermann H: Molecular toxicology of sulfur mustard-induced cutaneous inflammation and blistering, Toxicology 2009; 263(1): 12-19.
  3. Rosenthal DS, Velena A, Chou, FP Schlegel et al.: , Expression of dominant-negative Fas-associated death domain blocks human keratinocyte apoptosis and vesication induced by sulfur mustard, The Journal of biological chemistry 2003; 278: 8531-8540.
  4. Boukamp P, Petrussevska RT, Breitkreutz D, Hornung J, Markham A, Fusenig NE: Normal keratinization in a spontaneously immortalized aneuploid human keratinocyte cell line, The Journal of cell biology 1998; 106: 761-771.
  5. Tsuchiya S, Yamabe M, Yamaguchi Y, Kobayashi Y, Konno T, TadaK:, Establishment and characterization of a human acute monocytic leukemia cell line (THP-1), International journal of cancer. Journal international du cancer 1980, 26: 171-176.
  6. Hennen J, Aeby P, Goebel C et al.: Cross talk between keratinocytes and dendritic cells: impact on the prediction of sensitization, Toxicol Sci 2001, 123: 501-510.
  7. Heinrich A, Balszuweit F, Thiermann H, Kehe K: Rapid simultaneous determination of apoptosis, necrosis, and viability in sulfur mustard exposed HaCaT cell cultures, Toxicol Lett 2009; 191: 260-267.
  8. Balszuweit F, John H, Schmidt A, Kehe K, Thiermann H, Steinritz D: Silibinin as a potential therapeutic for sulfur mustard injuries, Chem Biol Interact 2013, 206 : 496-504.

Bildquelle: Abb. 1: InstPharmToxBw

Abb. 1: Automatisiertes Pipettier-Systems am InstPharmToxBw zur Durchführung und Analyse von Zellkulturexperimenten

Abb. 2: Silibinin reduziert die Schwefellost induzierte Nekrose: Silibinin, verabreicht als Pro-Drug Silibinin-bissucinat, senkt dosisabhängig und signifikant die Nekrose in HaCaT-Zellen nach Vergiftung mit akut toxischen Schwefellost-Konzentrationen. 50 - 100 µM Silibinin bewirken eine zuverlässigen Protektion. Signifikante protektive Effekte werden noch nach schwerer Vergiftung (300 µM Schwefellost) erreicht. Horizontale Balken markieren signifikante Änderungen (p < 0,05), Fehlerbalken repräsentieren Standardabweichungen.

Abb. 3: Einfluss von Immunzellen auf die Schwefellost-induzierte Nekrose: Die Nekrose nach Schwefellost-Vergiftung ist in Co-Kulturen von THP-1- und HaCaT-Zellen gegenüber einer HaCaT-Monokultur verstärkt. 2 % THP-1 Zellen, die dem physiologischen Anteil von dermalen Immunzellen entsprechen, bewirken eine hoch signifikante Veränderung. Eine weitere Erhöhung der Konzentration an THP-1 bewirkt keine zusätzlichen Veränderungen. Fehlerbalken repräsentieren Standardabweichungen.

Abb. 4: Zusätzlicher zellulärer Schaden in Schwefellost-vergifteten Zellen durch Ibuprofen: Nach Vergiftung mit 100 bis 300 µM Schwefellost verstärkt Ibuprofen dosisabhängig die Apoptose in Co-Kulturen von 2 % THP-1 und HaCaT. Konzentrationen von 300-600 µM Ibuprofen, die sonst als sicher gelten, bewirken bereits zusätzliche Schädigung. Nicht vergiftete Co-Kulturen (Kontrollen) werden nicht beeinflusst. Horizontale Balken markieren signifikante Änderungen.

Abb. 5: Protektiver Effekt von Diclofenac in Schwefellost-vergifteten Zellen: Nach Vergiftung mit 100 bis 300 µM Schwefellost reduziert Diclofenac die Apoptose in Co-Kulturen von 2 % THP-1 und HaCaT. Klinisch relevante Konzentrationen von 60-90 µM Diclofenac bewirken einen signifikanten Schutz. Horizontale Balken markieren signifikante Änderungen (p < 0,05), Fehlerbalken repräsentieren Standardabweichungen.

 

Datum: 23.09.2014

Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2014/9

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