09.07.2014 •

ENTSCHEIDUNGSFINDUNG NACH INKORPRATION RADIOAKTIVER STOFFE

Decision making after incorporation of radioactive material

Aus dem Institut für Radiobiologie der Bundeswehr in Verbindung mit der Universität Ulm, München (Leiter: Oberstarzt Prof. Dr. med. V. Meineke)

Guennadi Goulko, Harald Dörr und Viktor Meineke

WMM, 58. Jahrgang (Ausgabe 5/2014, S. 170-172)

Zusammenfassung

Die Freisetzung radioaktiven Materials aufgrund von Unfällen oder terroristischen Aktionen kann zu einer radioaktiven Kontamination von Umwelt und Menschen sowie zur Inkorporation von Radionukliden führen - mit der Folge einer längeren Strahlenbelastung der betroffenen Personen.

In diesem Fall muss eine Entscheidung über Gegenmaßnahmen schnellstmöglich erfolgen, um die Strahlenbelastung zu reduzieren. Als Vorbereitung für ein solches Szenario wurde ein Bewertungs- und Dokumentationssystem entwickelt, welches eine schnelle Beurteilung der Folgen einer Radionuklid-Inkorporation ermöglicht. Auf der Grundlage von Referenz-Szenarien wurden Radionuklid-Verteilung, Ausscheidungsrate und daraus resultierende Strahlenexposition berechnet. Die Dokumentation der Ergebnisse in Form von Tabellen und Graphiken ermöglicht die einfache und schnelle Interpretation von Messungen hinsichtlich Radionuklidbelastung und Strahlenexposition. Basierend auf diesen Ergebnissen kann die entsprechende Gegenmaßnahme zielgerichtet geplant werden.
Schlüsselwörter: Strahlenunfall, Biokinetik, Strahlenexposition, Inkorporation, Radionuklid.

Summary

The release of radioactive material due to accidents or terroristic actions can result in a radioactive contamination of the environment and may lead to the intake and incorporation of radionuclides with the consequence of prolonged radiation exposure. In this case, a decision about countermeasures must be carried out as soon as possible to reduce the resulting radiation dose. In order to be prepared for such scenarios an assessment and documentation system has been developed to support the rapid estimation of the incorporation consequences. On the basis of reference scenarios, radionuclides distribution, excretion rates and resulting exposures have been calculated. The documentation of the results in terms of tables and graphs allows the easy and fast interpretation of measurements related to exposure and intake. Based on these results the correspondent countermeasure can be planned and applied.
Keywords: radiation accident, biokinetic, exposure, incorporation, radionuclide.

Einführung

Aufgrund der breiten Nutzung radioaktiver Stoffe in Medizin und Industrie kann ein Strahlenunfall, aber auch eine kriminelle oder terroristische Aktion, potenziell zu einer Freisetzung von Radionukliden führen. In solchen Situationen ist die Abschätzung von gesundheitlichen Risiken sowie der Prognose für die Planung medizinischer Behandlung und möglicher Gegenmaßnahmen wichtig. Deshalb ist es unerlässlich, die kurz- und langfristigen Bestrahlungen des Gesamtkörpers sowie von Einzelorganen für einzelne Personen und auch Personengruppen schnell zu berechnen.
Die Bedeutung der Dosis-Schätzungen ist am Beispiel von Fall-, Kontroll- und ökologisch-epidemiologischen Studien von strahleninduzierten Schilddrüsenkrebserkrankungen bei Kindern aus den Regionen in Russland, Ukraine und Weißrussland, die nach dem Tschernobyl-Unfall kontaminiert wurden, demonstriert worden [1 - 5].
Radioaktives Material wird in solchen Situationen überwiegend durch Inhalation oder über Haut und Wunden aufgenommen. Die Aufnahme von Radionukliden ist ebenfalls über kontaminierte Lebensmittel oder Trinkwasser möglich. Nach der Inkorporation wird das radioaktive Material in verschiedenen Geweben und Organen verteilt, angelagert, in den Stoffwechsel eingebunden und teilweise wieder aus dem Körper ausgeschieden. Die resultierende Strahlenexposition ist abhängig vom Aufnahmeweg, den physikalischen und chemischen Eigenschaften der Radionuklid-Mischung und der individuellen Physiologie.
Da die in den Organen deponierte Strahlungsenergie von inkorporierten Radionukliden nicht direkt gemessen werden kann, werden hierzu vor allem in-vivo oder in-vitro Bioassay-Messungen (d. h. Aktivitätsmessungen im Ganzkörper, bestimmten Organen oder in den Exkreten) durchgeführt. Auf diese Messergebnisse werden dann metabolische Modelle für die Beschreibung des zeitlichen Aktivitätsverlaufs im Gesamtorganismus, in verschiedenen Organen und Geweben sowie in Ausscheidungen angewendet. Somit wird es möglich, die inkorporierten Aktivitäten und letztlich die resultierende Strahlendosis zu berechnen.
Diese Berechnungen sind oft komplex und erfordern umfangreiches Expertenwissen. Um schnelle Entscheidungen vor Ort zu ermöglichen, kann ein Entscheidungsunterstützungs- und Dokumentationssystem bei diesen Interpretationen und Schätzungen helfen. Es sollte nicht nur die Expositionsschätzungen liefern, sondern darüber hinaus auch Informationen über die Durchführung  und Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen im Hinblick auf die Reduzierung der Strahlendosis. Dieses Verfahren soll einfach und ohne spezielles Fachwissen anwendbar sein. Das bedeutet jedoch, dass vereinfachte Annahmen notwendig sind und für Berechnungen Referenz-Szenarien verwendet werden können.

Materialien und Methoden

Dosis-Berechnungen erfolgen auf der Grundlage der Aktivitäten, die in verschiedenen Teilen des Körpers oder in den Exkreten gemessen werden. Das allgemeine Verfahren (siehe Abbildung 1) für die quantitative Interpretation der Messung erfolgt nach  mathematischen Modellen, der Biokinetik des inkorporierten Materials und der Berechnung der aufgenommenen Aktivität. Die Strahlendosis einzelner Körperorgane errechnet sich dann durch standardisierte Dosiskoeffizienten, die die Dosis pro Aufnahmeeinheit darstellen. Die für dieses Verfahren notwendigen minimalen Eingangsinformationen sind Angaben über die chemische Verbindung der aufgenommen Isotope, den Aufnahmeweg (z. B. Inhalation, Ingestion, Haut und Wunde) und der zeitlichen Differenz zwischen Radionuklid-Aufnahme und Messung. Weitere persönliche Informationen (z. B. Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, etc.) können wertvoll sein, um die Zuverlässigkeit der resultierenden Schätzung zu verbessern. Neben einer speziellen fachlichen Expertise benötigt der beschriebene Prozess zusätzlich auch viel Zeit. In einem realen Strahlenunfallszenario ist eine schnelle Vor-Ort-Entscheidung notwendig, ohne dass ggf. die spezielle fachliche Expertise verfügbar ist. Daher wurden standardisierte und vereinfachende Verfahren entwickelt, um von Tabellen und Grafiken vorzubereiten, die dann schnell und ohne spezielle Expertise verwendet werden können.
Für die Herstellung dieser Werkzeuge (Tabellen und Diagramme) wurden biokinetische und dosimetrische Modelle die International Commission on Radiation Protection (ICRP) benutzt [6 - 8].
Die praktischen Berechnungen wurden mit dem IMBA-Code1 [9] durchgeführt. Dieser Code wurde zur theoretischen Beschreibung von Retention und Ausscheidung basierend auf den ICRP Modellen und ICRP metabolischen Parametern benutzt. Dies war für alle oben gennannten Aufnahmewege, die ausgewählten relevanten Radionuklide und Messmethoden, die verschiedenen Radionuklide sowie verschiedene Zeiten zwischen Aufnahme und Messung geeignet. Kriterien für die Auswahl der betrachteten Radionuklide waren die Verfügbarkeit von Material und die Radiotoxizität. Von IMBA verwendete Dosiskoeffizienten wurden auch den ICRP Publikationen entnommen. Sie ermöglichen die Berechnung von Strahlendosen zu allen relevanten Organen und Geweben durch die einfache Multiplikation mit der Radionuklid-Aufnahme.

Ergebnisse und Diskussion

Die Ergebnisse der beschrieben Arbeit werden mit Hilfe von Tabellen und Grafiken eine schnelle und einfache Schätzung von Expositionen und ihrer Zeit-Abhängigkeit aufgrund von gemessenen Aktivitäten im Körper oder in den Exkreten ermöglichen.
Diese Daten stehen zur Verfügung für

  • die Nuklide 137Cs, 90Sr, 241Am, 60Co, 131I, 210Po, 192Ir,
  • verschiedene chemische Verbindungen und aerodynamische Durchmesser (zur Inhalation),
  • die Aufnahmewege: Inhalation, Ingestion, Haut, Wunde,
  • die Messungen der Ganzkörper-Aktivität, Organ-Aktivitäten, Urin- und Fäkalien- Ausscheidungsrate, und
  • eine Vielzahl (nuklidspezifisch) von Zeitintervallen zwischen Inkorporation und Zeitpunkt der Messung.

Die Tabellen und Grafiken ermöglichen die Berechnung von Zufuhr, Organdosis (für kritische Organe) und effektiver Dosis als Funktion der Zeit seit Aufnahme. Beispiele für solche Diagramme sind in Abbildungen 2, 3 und 4 für das Radionuklid 241Am gezeigt. Die Bilder sind hauptsächlich für eine schnellere Bewertung bestimmt, während die Tabellen ein genaueres Ergebnis liefern. Das System beinhaltet zusätzlich die vorhandenen Kenntnisse über Dekorporations-Maßnahmen und hilft dabei, die Effektivität solcher Gegenmaßnahmen abzuschätzen [10].
Für Fälle, die eine höhere Zuverlässigkeit der Dosisberechnungen erfordern, wird der IMBA Code benutzt. Die Benutzung dieser Software erfordert ein hohes Maß an Fachwissen und Erfahrungen, bietet aber auch die Möglichkeit einer stärker detaillierten und personifizierten Berechnung (Alter, Geschlecht, etc.) und berücksichtigt weitere Details über das Fallszenario.
Die nächsten Schritte bei der Weiterentwicklung des Systems zur Unterstützung der Entscheidungen nach Inkorporation radioaktiver Stoffe konzentrieren sich auf die Berechnungen für andere relevante Radionuklide (andere Szenarien), sowie auf die Quantifizierung des potenziellen Nutzens (Dosisreduktion) von Dekorporation-Maßnahmen.

1 Integrated Modules for Bioassay Analysis; Software zur Berechnung innerer Strahlenbelastung.

Literatur

  1. Goulko G, Tronko M, Bogdanova T, Kenigsberg J, Henrichs K, Kayro I, Zvonova I,  Buglova E, Shpak V, Lassmann M, Reiners C. Risk analysis of thyroid cancer incidence after exposure in childhood in the most contaminated areas of Ukraine, Belarus, and Russia in comparison with other studies. Int. J. Low Radiation 2(3/4):188-206; 2006
  2. Cardis E, Kesminiene A, Ivanov V, Malakhova I, Shibata Y, Khrouch V, Drozdovitch V, Maceika E, Zvonova I, Vlasov O, Bouville A, Goulko G, Hoshi M, Abrosimov A, Anoshko Ya, Astakhova L, Chekin S, Demidchik E, Galanti R, Ito M., Korobova E, Lushnikov E, Maksiutov M, Masyakin V, Nerovnia A, Parshin V, Piliptsevich N, Pinchera A, Polyakov S, Shabeka N, Suonio E, Tenet V, Tsyb A, Yamashita S, Williams D. Risk of thyroid cancer after exposure to 131I in childhood. Journal of the National Cancer Institute 97 (10): 724-732; 2005.
  3. Likhtarev IA, Goulko GM, Kairo IA, Los IP, Henrichs K, Paretzke HG. Thyroid exposures resulting from the Chernobyl accident in the Ukraine. Part 1: Dose estimates for the population of Kiev. Health Phys 66:137-146; 1994.
  4. Goulko GM, Chumak VV, Chepurny NI, Henrichs K, Jacob P, Kairo IA, Likhtarev IA, Repin VS, Sobolev BG, Voigt G. Estimation of 131I thyroid doses for the evacuees from Pripjat. Radiat Environ Biophys 35:81-87;  1996.
  5. Drozdovitch VV, Goulko GM, Minenko VF, Paretzke HG, Voigt G, Kenigsberg YaI. Thyroid dose reconstruction for the population of Belarus after the Chernobyl accident. Radiat Environ Biophys 36: 17-23; 1997.

Datum: 09.07.2014

Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2014/5

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