DAS BERUFLICHE SELBSTVERSTÄNDNIS IM SANITÄTSDIENST IM HISTORISCHENUND ETHISCHEN KONTEXT

Aus dem Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (Kommandeur: Oberst Dr. Hans-Hubertus Mack)



R. Vollmuth

Das „berufliche Selbstverständnis im Sanitätsdienst“ rückt angesichts der Einsatzszenarien seit einigen Jahren verstärkt in den Fokus. Allzu oft erfolgt jedoch eine Reduzierung auf die Frage, wie weit der Waffengebrauch und die Einbindung in allgemeinmilitärische Aufgaben gehen dürfen, was dem Thema insgesamt nicht gerecht wird. Im folgenden Beitrag werden deshalb verschiedene Facetten beleuchtet und in einen historischen bzw. medizinethischen Kontext gestellt, wobei dem ideellen Hintergrund des humanitären Völkerrechts besondere Bedeutung zukommt. Diese Kontextualisierung soll dazu beitragen, die anstehenden Probleme schärfer und mehrdimensionaler erfassen und die sich stellenden Fragen dezidierter formulieren zu können.

Arztbild und Arzt-Patient-­Verhältnis
Das berufliche Selbstverständnis ist nicht nur intrinsisch motiviert, sondern kommt auch an der Betrachtung extrinsischer Faktoren nicht vorbei: Eine wesentliche Grundlage für die Begründung und Umsetzung des beruflichen Selbstverständnisses ist das vorherrschende Arztbild, das einem historischen Wandel unterliegt, vor allem auch in den zurückliegenden Jahrzehnten. Waren das Arztbild und das Arzt-Patient-Verhältnis zur Zeit des Aufbaus der Bundeswehr noch eindeutig vom Paternalismus geprägt, so hat sich dieses Verhältnis unter Zugrundelegung einer gestärkten Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft und damit auch der Patientenautonomie zu einer partnerschaftlichen Beziehung gewandelt.
Auch diesen geänderten Rahmenbedingungen muss bei der Bestimmung unseres beruflichen Selbstverständnisses Rechnung getragen werden, was gerade in einem hierarchisch gegliederten System immer wieder zu kontroversen Diskussionen führt. Der Militärarzt ist eben nicht mehr derjenige, der kraft Amtes und Dienstgrades über Wohl und Wehe des Soldaten bestimmt – der Soldat hat sich nicht mehr bedingungslos den Anordnungen des Truppenarztes zu fügen. Vielmehr ist auch in Streitkräften einem Arzt-Patient-Verhältnis auf gleicher Augenhöhe Rechnung zu tragen: Der Informed Consent – die „ausdrückliche Einwilligung des Patienten in die Behandlung auf der Grundlage einer umfassenden Aufklärung“ – und das sogenannte „Shared decision making“, also die „gemeinsame Entscheidungsfindung“ von Arzt und Patient, gehören untrennbar zur Patientenautonomie, das heißt der Befähigung und dem Recht des Patienten zur Selbstbestimmung (D. Groß).
Der Status als Soldat mit den aus dem Soldatengesetz abzuleitenden Einschränkungen mancher Rechte

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 (Abb. 1) führt nicht zur Einschränkung der Patientenautonomie oder zur Verpflichtung, besondere Härten in Kauf zu nehmen. Vielmehr bedingt diese Sonderstellung in der Summe auch eine besondere Fürsorge, da es sich durch die bestehenden Beschränkungen bei Soldaten um eine sogenannte vulnerable Patientengruppe handelt.

Selbst- und Fremd­wahrnehmung
Unser eigenes Bild kann also nicht nur aus uns selbst heraus definiert werden, ist nicht von äußeren Faktoren abgekoppelt, und es wäre ein fataler Fehler, sich bei den Reflexionen über das berufliche Selbstverständnis allein auf die Selbstwahrnehmung zu beschränken. Ebenso wichtig für eine Standortbestimmung und Positionierung ist auch die Fremdwahrnehmung, also das Bild des Sanitätsoffiziers sowohl in der Truppe wie auch im zivilen Bereich

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 (Abb. 2). Gerade die Interaktionen mit den zivilen Fach- und Standesorganisationen, in die Heilberufe eingebunden sind, waren auch historisch von Bedeutung. So verfolgen etwa die Ärztekammern die Vorgänge im militärischen Bereich intensiv mit und nehmen teilweise aktiv Einfluss; das Verhältnis zur zivilen Kollegenschaft ist für die Berufsausübung, die Gewinnung von Nachwuchs und Reservisten eminent wichtig. Ein Beispiel hierfür sind die durchaus erfolgreichen Forderungen der zivilen Standesorganisationen im Hinblick auf die Ausgestaltung des Sanitätsdienstes und dessen Einbindung in die Führungsstrukturen des BMVg in den Anfangsjahren der Bundeswehr.
Die Bejahung des Sanitätsdienstes und die Unterstützung berechtigter Interessen gegenüber der politischen Führung auf der einen Seite bedingten andererseits auch konkrete Erwartungen und Forderungen der verfassten Ärzteschaft über die Stellung und den Status der Ärzte in der Bundeswehr sowie im Hinblick auf die Ausgestaltung des Arztseins in den Streitkräften. Dies zeigt eine Verlautbarung von Hans Ludwig Borck, dem Vorsitzenden des Ausschusses „Sanitätsdienst“ der Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern, aus dem Jahre 1955:
„Ihm [dem Vorstand der Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern] will scheinen, daß die Planungen zu sehr am Hergebrachten kleben und daß das Militärische zu sehr den Vorrang vor dem Ärztlichen hat. Der Vorstand glaubt vielmehr, daß ein modernes [...] Wehrmachtssanitätswesen es erfordert, daß in ihm den ärztlichen Gesichtspunkten bis zur Grenze des Möglichen der Vorrang vor dem Militärischen gegeben werden sollte.“
Im Bericht der „Weise-Kommission“ aus dem Jahr 2011 wird festgestellt: „Insgesamt orientiert sich der Sanitätsdienst zu stark an berufsständischen Kriterien. Die militärischen Erfordernisse bedürfen einer stärkeren Gewichtung.“ Derartige Auffassungen sind vollkommen ahistorisch, zeugen von Unkenntnis der berufs- und standesrechtlichen Vorgaben und werden zu Recht von der Führung des Sanitätsdienstes zurückgewiesen. Eine Abkehr von allgemein anerkannten Prinzipien und Beziehungsgeflechten bedeutet auf längere Sicht eine Herauslösung aus dem zivilen Umfeld, eine Abkopplung vom allgemeinen Arztbild und damit einen Vertrauens- und Akzeptanzverlust auf allen Ebenen.

Die Waffe in der Hand des Nichtkombattanten
Eine zentrale Problematik ist die Frage nach den Grenzen des Waffeneinsatzes durch Sanitätspersonal angesichts der Erfahrungen in Afghanistan. Die Gefährdungslage im Einsatzland hat dazu geführt, dass auch das Sanitätspersonal intensiv und gut infanteristisch ausgebildet wird. Dies ist ebenso sinnvoll wie notwendig, um sich selbst zu schützen und nicht zur Belastung für die kämpfende Truppe zu werden. Allerdings dürfen die Angehörigen des Sanitätsdienstes keinesfalls in eine Doppelfunktion hineingedrängt, gar als eine Art „stille Reserve“ bei personellen Engpässen in kombattanten Bereichen betrachtet werden. Es wird sich zwar nie ganz ausschließen lassen, dass es situativ zu Grenzsituationen kommt, die dann im Hinblick auf die ethische und rechtliche Vertretbarkeit des Handelns individuell abgewogen werden müssen. Strukturelle personelle Probleme und Engpässe dürfen aber nicht auf die Ebene der Betroffenen im Einsatz abgeschichtet werden, sondern sind durch die militärische Führung und die Politik zu lösen, etwa durch die Änderung der Einsatzgrundsätze oder eine Anpassung der Mandatsobergrenzen.
Dies ist vor allem aus den Vorgaben und Wesensmerkmalen des humanitären Völkerrechts abzuleiten, das die Sonderrolle des Sanitätspersonals als Nichtkombattanten begründet: Aus historischer Sicht steht im humanitären Völkerrecht insbesondere der Leitgedanke der Neutralität im Vordergrund: In der noch knapp gehaltenen ersten Genfer Konvention von 1864 bildet die Neutralität der Einrichtungen und des Sanitätspersonals, aber auch anderer Helfer und der Verwundeten mit der daraus resultierenden Schutzwürdigkeit das wesentliche und zentrale Kernelement.
Weiteren Aufschluss darüber, wie weit dieser Grundsatz der Neutralität zu verstehen war, gibt etwa die Kriegs-Sanitätsordnung [!] des Jahres 1907, die sich auf das Genfer Abkommen von 1906 stützt. Hier sind unter anderem diejenigen Tätigkeitsbereiche definiert, die mit der Schutzwürdigkeit im Einklang stehen, und es wird apodiktisch ausgeführt:
„Der den Sanitätsformationen und -anstalten gebührende Schutz hört auf, wenn sie dazu verwendet werden, dem Feinde zu schaden.“
In den Sanitätsvorschriften des Zweiten Weltkriegs wurden die im Kern identischen Regelungen der Genfer Konvention von 1929 anerkannt. Auch hier wird die Schutzwürdigkeit explizit daran gebunden, dass das betreffende Personal „ausschließlich im Sanitätsdienst verwendet wird.“ In den heute gültigen Genfer Abkommen aus dem Jahr 1949 sowie in den Zusatzprotokollen von 1977 wurde diese Sonderrolle bekräftigt und verifiziert.
Um es noch einmal zusammenzufassen: Die Genfer Konvention (die ihren Niederschlag in den jeweiligen Sanitätsvorschriften fand) definiert in ihrer Geschichte sehr präzise diejenigen Tätigkeiten, die auf dem Prinzip absoluter Neutralität die Schutzwürdigkeit des Sanitätspersonals gewährleisten. Es handelt sich um

  • das Aufsuchen,
  • die Bergung,
  • die Beförderung,
  • die Behandlung von Verwundeten und Kranken bzw. die Verhütung von Krankheiten sowie
  • die Verwaltung von Sanitätseinheiten und -einrichtungen.

Im Umkehrschluss wird die Schutzwürdigkeit des Sanitätspersonals bei allen weitergehenden Tätigkeiten im Kriegsalltag verwirkt, da hierdurch diese Neutralität aufgegeben wird.
Zuweilen wird die Frage aufgeworfen, inwieweit diese Regelungen heute noch Bestand haben oder ob sie nicht vielmehr Relikte einer vergangenen Zeit darstellen. Auch hier hilft die Einordnung in den historischen Kontext: Die weitreichende Kategorisierung des Sanitätspersonals als Teilnehmer an der „Wohltat der Neutralität“ erfolgte schon in einer Zeit, in der gar das „ius ad bellum“, also das „Recht zum Krieg“, noch Geltung besaß, der Krieg an sich also nicht völkerrechtswidrig war, sondern als legitimes Mittel souveräner Staaten angesehen wurde. Dies sollte sich erst 1928 mit dem Briand-Kellogg-Pakt (dem sogenannten Kriegsächtungspakt) ändern, der den Krieg als Instrument der Durchsetzung staatlicher Interessen verwarf.
Es handelt sich bei den Genfer Konventionen also um ein Regelwerk, das über anderthalb Jahrhunderte gewachsen ist, positive Impulse für weitere Regelungen des Kriegswesens und zur Humanisierung bewaffneter Konflikte gesetzt hat und sich auch in zwei außerordentlich leidvollen Weltkriegen im Großen und Ganzen bewährt hat. Eine Aufweichung oder ein Antasten gerade dieser Sonderrolle wäre historisch gesehen dann zu erwägen, wenn kein diesbezüglicher Regelungs- oder Handlungsbedarf mehr bestünde. Sie ist aber – unabhängig von der formaljuristischen Gültigkeit und der Anwendbarkeit im Einzelfall – geradezu fatal, wenn (wie in Afghanistan) deutlich wird, dass im Gegenteil selbst bei Existenz entsprechender Regularien eine zunehmende Verrohung und Enthumanisierung droht.
Auch in den Anfängen des humanitären Völkerrechts war es zunächst nur eine begrenzte Zahl von Staaten, die der Genfer Konvention zugestimmt hatte. In der Folgezeit gelang es aber, den Kreis beträchtlich zu erweitern und die Übereinkunft auf eine breite Basis zu stellen, anstatt die Unmachbarkeit zu erklären und diese Errungenschaft wieder aufzugeben. Eine historische Lehre besteht darin, angesichts global veränderter Konfliktformen die Bemühungen um eine Fortschreibung des humanitären Völkerrechts zu intensivieren, um so zum einen den mittlerweile veralteten Kriegsbegriff neu zu definieren, zum andern auch nichtstaatliche Konfliktparteien auf die völkerrechtlichen Prinzipien zu verpflichten, anstatt unsere selbst gestellten und verfochtenen ethischen Ansprüche zu konterkarieren und den Status des Sanitätspersonals der Bundeswehr vor die Regelungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurückzuwerfen.
Anders ausgedrückt: Nicht eine „normative Kraft des Faktischen“ muss handlungsbestimmend sein, sondern vielmehr die Normgebung im Sinne des Kant‘schen kategorischen Imperativs

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 (Abb. 3). – Der Schutz unserer Freiheit und unserer freiheitlich-demokratischen Werte- und Grundordnung darf nicht unter Aufgabe dieser eigenen Prinzipien erfolgen, das heißt der Zweck heiligt nicht die Mittel.

Ärztliche Ethik
Das Selbstverständnis des Sanitätspersonals wie auch die Frage nach der Statthaftigkeit des erweiterten Waffengebrauchs sind auch medizinethisch zu begründen: So beruhen alle ethischen Verpflichtungen in der Medizin letztlich auf der Achtung des Arztes und des ihn unterstützenden Personals vor dem Menschen, das heißt vor der menschlichen Würde und dem menschlichen Leben.
Dies kommt auch in den bekannten Ärzte-Eiden zum Ausdruck: Jede Form von Missachtung der Menschenwürde und des menschlichen Lebens konfligiert als unärztlich und unvereinbar mit dem Auftrag des Arztes, Leben zu bewahren. Wie auch in anderen ethischen Grundfragen der Medizin (etwa Schwangerschaftsabbruch oder Sterbehilfe) entsteht der Konflikt letztlich immer aus der Frage, ob der Arzt als ‚Wahrer des menschlichen Lebens‘ durch jedwede Beteiligung an der Zerstörung oder Gefährdung von Leben seine ärztliche Legitimation und das Vertrauen seiner Patienten verwirkt.
Dies ist auch standesrechtlich festgelegt, ein Konfliktpotential, auf das hier nur am Rande hingewiesen werden kann: Von besonderer Bedeutung sind dabei die berufsethisch motivierten ärztlichen Aufgaben und Pflichten, wonach die Erhaltung von Leben und das Wohl der Patienten eindeutig über alle anderen Interessen und Anweisungen gestellt werden, sowie das „Unvereinbarkeitsgebot“ im Hinblick auf Tätigkeiten, die „mit den ethischen Grundsätzen des ärztlichen Berufs“ kollidieren

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 (Abb. 4).
Wer also – unabhängig von der völkerrechtlichen Einordnung – als Kombattant an militärischen Handlungen teil hat und Leben vernichtet, wird dies mit seiner Stellung als Arzt weder ethisch noch rechtlich vereinbaren können.

Fazit
Allein diese wenigen angerissenen Beispiele zeigen, dass eine Intensivierung der Vermittlung völkerrechtlicher Grundlagen, historischer Zusammenhänge und medizinethischer Bewältigungsstrategien nicht nur für die Sanitätsoffiziere, sondern für das gesamte Sanitätspersonal eine wichtige Aufgabe der Zukunft darstellt. Nur auf der Basis eines klar definierten und durch Wissen gefestigten eigenen Selbstverständnisses sind wir imstande – und in der Pflicht –, auch den anderen Organisationsbereichen und Teilstreitkräften unsere Positionen und deren Grundlagen zu vermitteln sowie Fehldeutungen und eine negativ wirkende Gruppendynamik zu durchbrechen.

Datum: 04.12.2013

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2013/3

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