VERLOREN IM WISSENSCHAFTSHISTORISCHEN NIEMANDSLAND

DIE GESCHICHTE DES SANITÄTSDIENSTES ALS DEDIDERAT DER FORSCHUNG

Der Sanitätsdienst bildet nicht nur heute einen wesentlichen Bestandteil der Kontingente in den Einsätzen der Bundeswehr, sondern nahm vielmehr von Anbeginn in den Einsatzszenarien eine Vorreiterrolle ein. So begann der erste Einsatz der neuen deutschen Streitkräfte in den ersten Märztagen des Jahres 1960, und es war der Sanitätsdienst, der diese humanitäre Unterstützungsmaßnahme zu leisten hatte – nach einem Erdbeben im marokkanischen Agadir. Es sollte in den folgenden Jahrzehnten noch eine ganze Reihe solcher von Sanitätskräften dominierter humanitärer Einsätze folgen.

Der erste Kontingenteinsatz der Bundeswehr, der über die Leistung humanitärer Hilfe hinausging, wenngleich noch als solche deklariert, war in den Jahren 1992/93 der Aufbau und Betrieb eines Feldlazaretts im kambodschanischen Phnom Penh im Rahmen der Friedensmission UNTAC (United Nations Transitional Authority in Cambodia) – auch hier war zunächst der Sanitätsdienst in der Pflicht, bevor andere Truppengattungen stärker in die Einsatzszenarien eingebunden wurden. Die Bedeutung eines funktionierenden Sanitätsdienstes für die Einsätze im ehemaligen Jugoslawien, in Afghanistan und in den bordgebundenen Einsätzen muss wohl nicht gesondert erläutert werden. Umso erstaunlicher ist es, dass die Aufarbeitung der Geschichte des Sanitätsdienstes der Bundeswehr und dieser seit über 50 Jahren realisierten Missionen nach wie vor ein Desiderat der militärgeschichtlichen Forschung darstellt.

Geschichte der Wehrmedizin

Systematische und umfassende wissenschaftliche Forschung benötigt ein Mindestmaß an Strukturen und institutioneller Verankerung und ist (eingebunden in die allgemeinen Entwicklungen eines Faches) stets einem Wandel unterworfen. Die Entwicklung der Militärgeschichte in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg hat dies eindrucksvoll bewiesen. Die sogenannte „Feierabendforschung“ und die Beschäftigung von interessierten, aber wissenschaftstheoretisch nicht hinreichend ausgebildeten Laien mit der Historiographie – im Falle der Geschichte der Wehrmedizin meist Sanitätsoffiziere – kann den gestellten Anforderungen nicht gerecht werden: Sie vermag weder die Fülle der Forschungsgegenstände quantitativ zu erfassen, noch ist sie in der Lage, durchgehend dem Anspruch moderner Geschichtsschreibung an die wissenschaftliche Methodik und insbesondere Quellenkritik zu entsprechen und diesbezüglich einheitliche Standards zu gewährleisten. Unbestritten liefert diese historische Arbeit wertvolle Beiträge zu Einzelfragen oder stellt (auch in Form dokumentierter Erinnerungen) wichtige Quellen bereit. Dies darf jedoch nicht über einen strukturellen Mangel an Forschungseinrichtungen mit entsprechenden Schwerpunktsetzungen sowohl in der zivilen Forschungslandschaft als auch innerhalb der Bundeswehr hinwegtäuschen.

Die zivile Forschungslandschaft

Um ein annähernd realistisches Bild von der Forschungssituation zur Geschichte der Wehrmedizin im zivilen Bereich zu erhalten, wurden die Internetauftritte der deutschen Institute für Geschichte und/oder Ethik der Medizin gesichtet und im Hinblick auf einschlägige Forschungsschwerpunkte, Publikationen und Hochschulschriften ausgewertet. Dabei hat sich gezeigt, dass die Geschichte der Wehrmedizin im engeren Sinne (das heißt im Gegensatz zum Bereich „Medizin und Krieg“, der thematisch weiter greift und etwa die Kriegsbeschädigtenfürsorge, die Auswirkungen von Kriegen auf die Zivilbevölkerung und andere Interaktionen umfasst) in der zivilen Medizingeschichtsschreibung eine im Vergleich zu anderen Forschungsgebieten marginale Rolle spielt. Ganz besonders gilt dies für die Aufarbeitung der Geschichte der Wehrmedizin und des Sanitätsdienstes für den Zeitraum nach dem Zweiten Weltkrieg. Spezifische Forschungseinrichtungen sind nicht existent. An den meisten Instituten werden und wurden entsprechende Gegenstände nicht oder nur im Rahmen vereinzelter Publikationen oder Qualifikationsarbeiten thematisiert. Nur wenige Medizinhistoriker arbeiten intensiver auf dem Gebiet oder definieren für sich entsprechende Forschungsschwerpunkte, und lediglich an zwei Instituten – Heidelberg und Erlangen – wird der Bereich „Medizin und Krieg“ als einer von mehreren Schwerpunkten des Instituts explizit ausgewiesen: Beide Lehrstuhlinhaber können übrigens auf Tätigkeiten am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in den 1980er Jahren zurückblicken. Von einer systematischen Forschung auf dem Gebiet der Wehrmedizingeschichte kann aber insgesamt gesehen keine Rede sein. – Parallelen zur Militärgeschichte, die in der universitären Geschichtswissenschaft jahrzehntelang kaum beachtet oder gar tabuisiert wurde, sind unverkennbar.

Ähnlich gestaltet sich die Situation bei den wissenschaftlichen Fachgesellschaften: In der „Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften“ findet sich keine selbständige Fachgesellschaft mit einer wehrmedizinhistorischen Schwerpunktsetzung. Lediglich im „Arbeitskreis Geschichte der Wehrmedizin“ (seit 2010 umbenannt in „AK Geschichte und Ethik der Wehrmedizin“) der „Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V.“ fanden entsprechende Anstrengungen in der Wissensvermittlung ihren Niederschlag. Die 2008 erst gegründete „Gesellschaft für Geschichte der Wehrmedizin e. V.“ hat sich zum Ziel gesetzt, die Wissenschaft und Forschung auf dem Gebiet der Geschichte der Wehrmedizin zu fördern und insbesondere die Wehrgeschichtliche Lehrsammlung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr zu unterstützen. Die Möglichkeiten eigenständiger Forschung stoßen indes auch hier an enge Grenzen.

Ähnlich zu bewerten ist die Situation auch auf der Seite der Militärgeschichte: So sind wehrmedizinhistorische Fragestellungen im „Arbeitskreis Militärgeschichte e. V.“ sowie am Lehrstuhl für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt der Universität Potsdam allenfalls als Randerscheinung zu sehen.

Geschichte der Wehrmedizin in der Bundeswehr

Gleichermaßen desillusionierend fällt das Ergebnis bei der Untersuchung der Situation innerhalb der Bundeswehr aus: Der Sanitätsdienst der Bundeswehr verfügt ausschließlich über die Wehrgeschichtliche Lehrsammlung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr in der Sanitätsakademie der Bundeswehr, die aber als Lehrsammlung ohne hauptamtliche personelle Ausstattung keinen substanziellen Forschungsbeitrag leisten kann.

Bleibt als Hoffnungsträger die Einrichtung, die Militärgeschichte in ihrer ganzen Bandbreite institutionell repräsentiert, das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA), dessen Bedeutung für die Historiographie des Sanitätsdienstes ebenfalls betrachtet wurde. Beredtes Zeugnis gibt das Gesamtverzeichnis der Veröffentlichungen des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (hier aus dem Jahr 2010). Dieses Verzeichnis zeigt zum einen in beeindruckender Weise die Vielfalt und das weite Spektrum der wissenschaftlichen Tätigkeit im MGFA und seiner Mitarbeiter. Es reicht von sehr speziellen Einzelfragen, ergobiographischen Abhandlungen, militär- und sicherheitspolitischen sowie militärtheoretischen Themen, über die Bereitstellung von Quellen und historischen Nachdrucken, bis hin zu Gesamtschauen und systematischen Darstellungen einzelner Organisationsbereiche und Teilstreitkräfte. Zum anderen jedoch macht sich auch hier Ernüchterung breit: Von den weit mehr als 600 Titeln, die das Verzeichnis umfasst, stellen gerade einmal vier Bücher sanitätsdienstliche Themen in den Mittelpunkt: eine Arbeit zum Königlich Bayerischen Militär-Sanitäts-Orden, ein Sammelband zum Sanitätswesen im Zweiten Weltkrieg, eine Studie zum Heeresveterinärwesen im Zweiten Weltkrieg und als einziges Werk mit Bundeswehr-Bezug eine von Ernst Rebentisch besorgte und 1995 erschienene grundlegende Quellensammlung zur frühen Geschichte des Sanitäts- und Gesundheitswesens der Bundeswehr. Und auch der kursorische Blick in Sammelbände zur Geschichte der Bundeswehr zeigt, dass der Sanitätsdienst deutlich unterrepräsentiert ist.

Ein weiterer Indikator sind die verschiedenen Beiräte des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes: In keinem dieser hochrangig und mit renommierten Fachleuten besetzten Gremien ist ein wehrmedizinhistorisch ausgewiesener oder mit einschlägigen Problemund Fragestellungen vertrauter Medizin- oder Militärhistoriker vertreten. Das heißt, entsprechende inhaltliche Anregungen oder Akzentuierungen sind auch von dieser Seite der externen Expertise und Qualitätssicherung nicht zu erwarten.

Somit vermag auch das Militärgeschichtliche Forschungsamt keinen Ausweg aus dem Dilemma zu geben. Bereits 1976 formulierten die Verfasser des Grundsatzpapiers „Zielsetzung und Methode der Militärgeschichtsschreibung“ die „Notwendigkeit, Militärgeschichte in Kooperation mit anderen Disziplinen zu betreiben, wenn auch beispielhafte Lösungen vielfach noch ausstehen“. Auch heute, mehr als 35 Jahre später, ist dieser Satz für die Wehrmedizingeschichte immer noch als Auftrag zu verstehen. Medizinhistoriker sind im MGFA nicht beschäftigt beziehungsweise vorgesehen, wodurch spezifisch sanitätsdienstliche und (wehr-)medizinhistorische Fragestellungen mit ihren Einordnungen und Bewertungen kaum thematisiert oder bearbeitet werden und somit ein wesentlicher Bestandteil der Armeen und militärischer Strukturen in der Historiographie a priori ausgeblendet wird.

Und dies nicht nur in der Forschung, sondern als Konsequenz aus diesem Desiderat auch in Teilen der historischen Bildung und der Traditionspflege. Denn natürlich bedarf auch der Sanitätsdienst für den Auftrag zur historischen Bildung sowie zur Traditionspflege in der Bundeswehr einer spezifischen Ausgestaltung – und hier ist im Übrigen auch der Sanitätsdienst selbst gefordert, wie etwa in der „Weisung zur Intensivierung der historischen Bildung in den Streitkräften“ postuliert wird: „Teilstreitkraftspezifische Schwerpunkte, Inhalte, Umfang sowie Ort und Art der Durchführung der historischen Bildung sind durch die Führungsstäbe festzulegen.“

Dass im Sanitätsdienst ein anderes Spektrum an Fragestellungen abgebildet werden muss als etwa in der Kampftruppe, liegt dabei auf der Hand, wie auch Hans-Hubertus Mack in einem Beitrag über die historische Bildung in der Bundeswehr feststellt: „Historische Bildung ist also nicht nur eine Sache des Angebots, sondern bedarf ebenso einer entsprechenden Aufbereitung für die jeweilige Zielgruppe.“

Die Inhalte wehrmedizinhistorischer Forschung

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit soll im Folgenden dargestellt werden, welche spezifischen Problemfelder und historisch-ethischen Implikationen sich dem Medizinhistoriker – neben der Ereignis-, Organisations-, Institutions- und Operationsgeschichte, die sich grundsätzlich kaum von der Historiographie anderer Bereiche unterscheidet – bei der Aufarbeitung der Geschichte des Sanitätsdienstes der Bundeswehr stellen und bei der Einbeziehung des Sanitätsdienstes in das Forschungsprojekt „Einsatzarmee Bundeswehr“ neu – oder erstmals – beleuchtet werden müssen.

Ein Themenfeld ergibt sich aus dem oft beschworenen Spannungsfeld Arzt – Offizier, wobei der Blick der Forschung konsequenterweise auf alle Heilberufe und Angehörigen des Sanitätsdienstes ausgeweitet werden muss, also auf die Personen, denen durch ihren Auftrag und das humanitäre Völkerrecht eine Sonder- und Doppelrolle als Soldat einer kriegführenden Partei einerseits und als Nichtkombattant andererseits zukommt. Ein besonders spannendes Forschungsgebiet stellt in diesem Zusammenhang die Fremdund Selbstwahrnehmung wie auch das Selbstverständnis der Sanitätsoffiziere und des Sanitätspersonals mit seinen historisch gewachsenen ethischen Verpflichtungen und Selbstverpflichtungen im Wandel der Zeit dar, insbesondere vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Einsätze, internationaler vertraglicher Verpflichtungen und des humanitären Völkerrechts. Dies sei an einem Beispiel erläutert:

Im Rahmen der Peacekeeping Mission UNTAC 1992/93 in Kambodscha lautete der Auftrag für den multinationalen Sanitätsdienst unter anderem, dass Zivilbevölkerung in den UNTAC- Sanitätseinrichtungen „auf der Grundlage der entsprechenden UN-Regularien im Sinne lebensrettender oder lebenserhaltender Maßnahmen“ behandelt werden sollte. Wie der damalige Chief Medical Officer Oberstarzt Dr. Peter Fraps berichtete, zeigte sich im Laufe des Einsatzes, „dass ein nicht geringer Anteil der Sanitätsoffiziere und auch des sonstigen Sanitätspersonals den Auftrag des deutschen VN-Kontingentes tatsächlich in erster Linie als ‚humanitäre Unterstützungsmaßnahme’ für die kambodschanische Zivilbevölkerung verstand“ und die Hilfeleistung entgegen den Weisungen auch auf andere als die beschriebenen vitalen Indikationen ausweitete. Der eigentliche Auftrag – die Versorgung der UNTAC-Angehörigen – schien nur noch von „sekundärer Bedeutung“. Maßnahmen zur Gegensteuerung seitens der UNTAC-Führung blieben ungehört, zumal auch die Führung in Deutschland sich auf den humanitären Auftrag – als der dieser UN-Einsatz vom Parlament gebilligt und der Öffentlichkeit vermittelt worden war – berief. So schreibt Fraps: „Die mehrfachen Aufforderungen an die Ärzteschaft, eine vernünftige Basis für humanitäre Hilfsmaßnahmen zu finden, wurden als Befehle zur Missachtung ärztlicher Ethik interpretiert und konstant boykottiert.“ Auch fand die vermeintliche Behinderung des humanitären Auftrags ein reges Medieninteresse. Dies alles führte dazu, dass das deutsche Sanitätskontingent Gefahr lief, von den Vereinten Nationen abgelöst zu werden, was letztlich eine „Kursänderung“ bewirkte.

Im Afghanistankonflikt hingegen steht das Sanitätspersonal vor nahezu konträren Problemen: Als Vorsichtsmaßnahme gegen gezielten Beschuss von Sanitätsfahrzeugen muss das Rote Kreuz abgedeckt werden. – Das Sanitätspersonal droht in der Auseinandersetzung mit einem Gegner, der außerhalb des humanitären Völkerrechts steht, immer stärker in allgemeine militärische Aufgaben (wie etwa Sicherungsaufgaben) eingebunden zu werden, deren Vereinbarkeit mit dem auf absoluter Neutralität basierenden Status als Nichtkombattanten fortwährend zu hinterfragen und gleichermaßen militärisch, rechtlich sowie ethisch zu bewerten ist.

Das Sanitätspersonal bewegt sich also, dies zeigen die beiden Beispiele, in einem hochbrisanten Spannungsfeld, das von der Einbindung in zivile Standesstrukturen, ethischen Vorgaben, dem humanitären Völkerrecht und anderen Parametern beeinflusst wird und einem historischen Wandel unterliegt – Themen, die auch im Interesse einer geistigen und ethischen Orientierung in den Einsätzen dringend untersucht werden müssen.

Auch die Interaktionen mit den zivilen Fachund Standesorganisationen, in die Heilberufe – anders als etwa Angehörige der Kampftruppe, die schlichtweg über keine zivile Entsprechung verfügen – eingebunden sind, bedürfen der Aufarbeitung. So verfolgen beispielsweise die Ärztekammern die Vorgänge im militärischen Bereich intensiv mit und nehmen als Standesvertretungen teilweise aktiv Einfluss. Desgleichen sind das Verhältnis zur zivilen Kollegenschaft und die Entwicklungen im zivilen Gesundheitswesen für die Berufsausübung, die Gewinnung von Nachwuchs und Reservisten (auch für die Einsätze) und andere Interessenfelder des Sanitätsdienstes eminent wichtig.

Wesentlich sind auch Fragestellungen, die die fachlichen Inhalte betreffen. Dazu zählen medizinische Entwicklungen und Fortschritte, deren Einführung in der Bundeswehr, ihr Einfluss auf Strukturen, Ausrüstung und Sanitätstaktik sowie auf die Aus-, Fort- und Weiterbildung; ferner ethische Konflikte, wie etwa die Überschreitung der fachlich zulässigen Kompetenzen in Extremsituationen oder die „Sichtung“ als klassische Dilemmasituationen in der Wehrmedizin.

Ein weiteres Themenfeld – im Sinne einer Militärgeschichte (und Medizingeschichte) von unten – liegt in der Erforschung der Patientengeschichte, also beispielsweise der Patientensicht auf den Sanitätsdienst und die sanitätsdienstliche Versorgung, oder der Frage des Umgangs von Betroffenen und Co-Betroffenen mit Verletzungen, der Konfrontation mit dem Tod und entsprechenden Bewältigungsstrategien. Natürlich beinhaltet die Patientengeschichte auch die Sicht auf den Patienten oder allgemeiner: den Blick auf den Soldaten als potenziellen Patienten. Auch hier soll, anhand der Belastungsfähigkeit von Soldaten im Einsatz, aufgezeigt werden, welche Bedeutung der historische und anthropologische Kontext im Umkehrschluss für die Medizin hat.

So ist mit dem neuen Aufgabenspektrum und der Einsatzorientierung der Bundeswehr der Soldat als Individuum auch im Hinblick auf die Einsatzbereitschaft noch stärker in den Mittelpunkt gerückt. Der Soldat ist nicht mehr wie während des Kalten Krieges in einem politisch-militärischen Abschreckungsgleichgewicht abstrakter Teil einer Verteidigungsmacht, sondern nun gleichermaßen als Ausführender und als Betroffener zum Bestandteil konkreter Einsatzszenarien geworden. Sowohl die individuelle Leistungs- wie auch die Belastungsfähigkeit erhalten zunehmend mehr Gewicht im und für den militärischen Alltag.

Ebenso wie die Anthropologie als „Wissenschaft vom Menschen“ die unterschiedlichsten Blickwinkel einnimmt, würde bei der Betrachtung dieser Leistungs- und Belastungsfähigkeit von Soldaten eine Reduktion allein auf körperlich-biologische oder medizinische Merkmale zu kurz greifen. Vielmehr sind noch andere Parameter von Bedeutung und durch das Zusammenwirken unterschiedlichster Faktoren und deren Einwirken auf den Soldaten ergibt sich eine Gemengelage, die konkrete Auswirkungen auf die Belastungsfähigkeit sowie die innere und äußere Einsatzbereitschaft des Individuums hat: So können etwa Veränderungen der Lebensumstände im Wandel der Zeiten das Maß an Leidensfähigkeit mitbestimmen, wie sie auch das Ausmaß und die Ausdrucksform der physischen und psychischen Reaktionen beeinflussen. – Die Stellung und Bedeutung des Individuums in der Gemeinschaft sowie der diesbezügliche gesellschaftliche Konsens sind ganz wesentlich für die Frage nach der Bedeutung und Berücksichtigung von Einzelschicksalen und der Zumutbarkeit von Leid. – Der Gesundheitsbzw. Krankheitsbegriff und nicht zuletzt rechtliche Normen beeinflussen Kriterien der Tauglichkeit und Verwendungsfähigkeit, um nur einige wenige Aspekte anzureißen.

Die Geschichte des Sanitätsdienstes der Bundeswehr stellt also – dies als kurzes Zwischenfazit – kein eng umschriebenes Forschungsfeld dar, sondern ist als mehrdimensionales Mosaik zu verstehen, das sich aus einer Vielzahl an interdisziplinären Elementen unterschiedlicher Tiefe und Reichweite zusammensetzt.

Quellenlage

Die Quellenlage zur Geschichte des Sanitätsdienstes ist derzeit nur schwer zu bewerten. Neben den üblichen amtlichen Quellen und Dokumenten stehen für die Wehrmedizingeschichte weitere vielversprechende Quellen und Überreste unterschiedlicher Provenienz zur Verfügung, die einer systematischen Sichtung und Erschließung bedürfen. Beispiele sind die Protokolle des Wehrmedizinischen Beirats oder die Archivalien und Quellen wissenschaftlicher Fachgesellschaften, Interessenverbände und der zivilen Standesorganisationen. Von enormem Wert sind gerade für die jüngere Geschichte Zeitzeugenberichte, wie es wohl auch eine der schwierigsten Aufgaben sein wird, in privatem Besitz befindliche Quellen zu identifizieren, zu sichern und der Forschung zugänglich zu machen.

Hierzu ein Beispiel: So ist die Quellenlage zum Einsatz in Kambodscha grundsätzlich vorzüglich, da der damalige Chief Medical Officer der UNTAC, der spätere Generalstabsarzt Dr. Fraps, über die ganze Einsatzdauer von 18 Monaten diese Funktion bekleidete und den gesamten Schriftverkehr von etwa 20 000 Dokumenten, ein persönliches Tagebuch, ferner Dias, Fotos, Pressemeldungen und viele andere Quellen gesichert hat. Dieses private Archiv umfasst etwa 100 Aktenordner, wurde mittlerweile durch Archivalien zu weiteren Einsätzen und zum Bereich Peace- Keeping ergänzt und reicht zeitlich bis in die Gegenwart.

Einschlägig und sowohl in der sanitätsdienstlichen und medizinisch-fachlichen historischen Betrachtung wie auch standes- und mentalitätsgeschichtlich von hohem Wert sind medizinische Fachorgane, insbesondere natürlich die wehrmedizinischen Zeitschriften, Einzelstudien sowie Sammelwerke und Kongressbände mit ihren Berichten, Analysen, Kasuistiken und wissenschaftlichen Arbeiten zu den unterschiedlichsten Themengebieten. Es zeigt sich an diesen wenigen Schlaglichtern, dass auch auf diesem Gebiet der Quellenkunde reichlich Pionierarbeit zu leisten ist.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass es um die systematische wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Wehrmedizin und ganz speziell der Geschichte des Sanitätsdienstes der Bundeswehr und in den Einsätzen in der Tat schlecht bestellt ist. Dabei handelt es sich nicht nur um einen „gefühlten“, sondern um einen tatsächlichen, strukturellen Mangel. Obwohl es an ebenso relevanten wie dringlich zu bearbeitenden Forschungsfeldern und Themengebieten nicht mangelt und auch eine große Quellenfülle auf eine Erschließung wartet, hat weder die institutionalisierte Medizingeschichte noch die Militärgeschichtsschreibung dieses Gebiet fest im Blick – es ist bislang gewissermaßen verloren im wissenschaftshistorischen Niemandsland.

Datum: 01.10.2012

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2012/3

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