INTERDISZIPLINÄRE VERSORGUNG EINES EXPLOSIONSTRAUMAS

Explosionsverletzungen mit ausgedehnter thermischer Schädigung der Haut stellen die aufnehmende Klinik vor besondere Herausforderungen. Durch die offensichtliche Schwere der Brandverletzung, die Auflagerung oder Einsprengung von Fremdkörpern besteht die Gefahr, weitere Verletzungen zu übersehen.

Die Erhebung der Unfallanamnese ist daher unerlässlich. Ergeben sich daraus Hinweise für ein Explosionstrauma, ist der Verunfallte einer standardisierten Diagnostik im Schockraum zu unterziehen. Dabei muss gezielt nach weiteren Verletzungen gesucht werden. Apparative Untersuchungen ergänzen dabei die klinische Diagnostik. Dazu gehören eine Computertomographie des Kopfes, ggf. auch des Thorax und des Bauch-Beckenbereiches (Spiral-CT), eine Nativ-Röntgenuntersuchung in 2 Ebenen der betroffenen Skelettabschnitte sowie eine Abdomensonographie und Darstellung der Pleura.

Die Diagnostik und Notfalltherapie geschieht unter der Führung eines „Trauma- Leaders“ - meist eines Unfallchirurgen - in enger Abstimmung mit allen beteiligten Fachdisziplinen, wie Anästhesie, Plastische Chirurgie, HNO, Augenheilkunde und ggf. andere Fachabteilungen. Nach Abschluss der diagnostischen Phase übernimmt die für die Hauptverletzung zuständige Abteilung die Durchführung und Steuerung der Therapie.

Unfallereignis

Am 22.12.2010 explodierte wegen eines technischen Defektes der mit Holz befeuerte wassergeführte Kaminofen in einem Wohnhaus. Dabei kam es in den Innenräumen zu einer erheblichen Zerstörung. Eine 44-jährige Bewohnerin, die sich im Kaminzimmer aufhielt, zog sich dabei lebensgefährliche Verletzungen zu (Abb. 1).

Rettungsdienstliche Versorgung

Um 14:32 h erfolgte die Alarmierung des Rettungsdienstes in einen kleinen ländlichen Ort (ca. 500 Einwohner), der etwa 65 km von unserer Klinik entfernt liegt. Die Anfahrtsstrecke des Notarzteinsatzfahrzeuges (NEF) betrug 11 km und die des Rettungswagens (RTW) ungefähr 27 km. Nach 14 Minuten traf das Notarztteam und 10 Minuten später die Besatzung des Rettungswagens am Einsatzort ein.

Die Patientin war initial wach und ansprechbar (Glasgow Coma Scale 15). Hinweise auf eine begleitende Lungenschädigung oder Verletzung von Mittel-/Innenohr lagen nicht vor. Die Brandverletzung wurde auf 40 % verbrannte Körperoberfläche (KOF) III° und 20 % KOF II° eingeschätzt. Wegen der Mitbeteiligung des Gesichtes entschloss sich der notärztliche Kollege, neben der Flüssigkeitssubstitution von insgesamt 1000 ml HAES 6 % und ca. 3500 ml Elektrolytlösung über zwei großlumige peripher-venöse Zugänge (14 G), zur Narkoseeinleitung im RTW mit folgender Intubation (ID 8,0 mm) und Beatmung (AF 14/min., AMV 10 l/min., PEEP 10 mmHg, FiO² 1,0). Eine Kapnometrie/-graphie wurde laut vorliegendem Protokoll nicht eingesetzt. Zur Induktion der Narkose und Aufrechterhaltung wurden insgesamt 20 mg Etomidat, fraktioniert 0,75 mg Fentanyl, 15 mg Midazolam, 10 mg Vecuronium und im Verlauf 2x25 mg Ketanest S ® eingesetzt.

Um 15:24 h konnte nach erfolgter Erstversorgung vor Ort die im Verlauf unauffällige Beförderung der Patientin in unser Haus angetreten werden.

Diskussion

Unter Berücksichtigung der S3 Leitlinie zur Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung (07/2011) soll eine Kapnometrie/-graphie präklinisch bzw. innerklinisch im Rahmen der endotrachealen Intubation zur Tubuslagekontrolle und danach zur Dislokations- und Beatmungskontrolle angewendet und eine Normoventilation angestrebt werden. Etomidat als Einleitungshypnotikum sollte aufgrund der assoziierten Nebenwirkungen auf die Nebennierenfunktion vermieden werden (NB: Wir haben Etomidat von den an unserem Haus stationierten Rettungsmitteln (RTH, NEF) entfernt).

Für die präklinische Flüssigkeitssubstitution bei Erwachsenen mit isolierter Brandverletzung empfehlen wir 1 Liter einer balancierten Elektrolytlösung pro Stunde i.v.

Schockraumdiagnostik, -therapie

Um 16:24 h erfolgte die Übergabe der stabilen Patientin im Schockraum an die diensthabenden Ärzte der beteiligten Disziplinen Unfallchirurgie, Anästhesie und plastische Chirurgie. Die Sonographie, die computertomographisch durchgeführte Trauma-Spirale sowie die native Röntgendiagnostik (Thorax, Becken, Extremitäten) ergaben keinen unfallchirurgisch interventionsbedürftigen Befund, so dass die Patientin nach Abschluss der bildgebenden Verfahren plastisch-chirurgisch weiterversorgt werden konnte.

Plastisch-Chirurgische Erstversorgung

Nach Abschluss der Diagnostik wurde die Patientin – weiterhin intubiert und beatmet – im Schockraum der Brandverletztenintensivstation weiterversorgt (Abb. 2 und 3). Mit steril gefiltertem Wasser und medizinischer Seife wurden die ausgedehnten Verschmutzungen entfernt und alle Brandblasen abgetragen sowie die Körperbehaarung mit Ausnahme der Augenbrauen und Wimpern entfernt. Dabei zum Einsatz kamen Bauchtücher, Schere, Pinzette und scharfe Löffel sowie Bürsten und Einmalrasierer. Damit konnten besonders die zum Teil in die Gesichtshaut eingesprengten Schmutz- und Rußpartikel entfernt werden (Abb. 4.).

Erst nach dem plastisch-chirurgischen Debridement konnte das Ausmaß der Verletzung exakt beurteilt werden. Es wurde eine Brandverletzung von 38 % der Körperoberfläche festgestellt. Die Brandverletzungen im Bereich Kopf, Thorax, linker Oberarm, rechter Hand und beider Beine zeigten sich oberflächlich bis tief zweitgradig.

Weiterhin fanden sich Fremdkörpereinsprengungen im Gesicht, beiden Ober- und Unterlidern, des rechten Handrückens und an beiden Beinen. Platzwunden fanden sich über dem rechten Unterlid, der linken Wange, dem rechten Handrücken und an beiden Beinen, hier z. T. bis tief in das subcutane Fettgewebe reichend.

Bei der weiteren Inspektion wurden Anzeichen für eine Fremdkörperverletzung beider Augen mit V.a. Perforation gefunden. Nebenbefundlich bestand eine Adipositas sowie eine Varicosis cruris beidseits.

Notfallmäßige augenärztliche - operative - Behandlung

Bei der ersten augenärztlichen Konsiliaruntersuchung fand sich rechtsseitig ein Lidhämatom mit Schwellung, eine Bindehaut - Chemosis, ein Irisdefekt und palpatorisch ein verminderter Augendruck. Linksseitig fanden sich ebenfalls ein Lidhämatom mit Schwellung und Bindehautchemosis.

Da das Unfallkrankenhaus über keine eigene operative ophthalmologische Abteilung verfügt, wurde nach einem augenärztlichem Konsil und in Abwägung der noch ausstehenden operativen Versorgung der multiplen Hautweichteilverletzungen und Brandverletzungen entschieden, die Patientin zunächst zur Behandlung der Augenverletzungen in ein entsprechend ausgestattetes Krankenhaus zu verlegen. Der Hin- und Rücktransport der intubierten und beatmeten Patientin erfolgte mittels Notarztwagen. Bei der dortigen Versorgung wurde neben den o.g. Diagnosen eine Contusio bulbi bds. festgestellt, rechtsseitig zusätzlich ein Hämophthalmus.

Operative Behandlung der Weichteilverletzung

Nach der Rückverlegung der Patientin in das Zentrum für Schwerbrandverletzte erfolgte die noch ausstehende operative Versorgung. Die Platzwunden im Gesicht wurden von restlichen Schmutzpartikeln gesäubert, die Naht erfolgte mit nicht resorbierbarem 5-0er Nahtmaterial (Fadenzug im Gesicht am 5. postoperativen Tag). Die weiteren Verletzungen der Extremitäten wurden ebenfalls debridiert und nach Exzision der Wundränder über Redon-Drainagen mit Einzelknopfnähten zweischichtig verschlossen. Die kombinierte thermisch-mechanische Verletzung der rechten Hand wurde am Unfalltag debridiert, die kontusionierten Hautränder exzidiert und der Wundgrund exploriert. Dabei fanden sich keine freiliegenden Strecksehnen oder tiefere Fremdkörpereinsprengungen. Der Defekt wurde mit Epigard temporär gedeckt. Nach Abschwellung und Konsolidierung der Weichteilverhältnisse konnte der Wundverschluss mit Sekundärnaht am 7. Tag erfolgen (Abb. 5 und 6).

Vor Verlegung auf die Brandverletzten-Intensivstation wurden die ausgedehnten Brandverletzungen mit Polihexanid-Salbentüllverbänden versorgt.

Intensivmedizinische Behandlung, Verlauf

Die Aufnahme auf unsere Intensivbehandlungsstation für Schwerbrandverletzte erfolgte in den frühen Morgenstunden des 23.12.2010. Bei weiterhin stabilen Kreislaufverhältnissen konnte die Patientin am Nachmittag des gleichen Tages nach Erreichen der Normothermie bei guter Lungenfunktion und ausreichender Kooperation problemlos extubiert werden. Ein HNO-Konsil ergab keinen Hinweis auf eine Trommelfellschädigung. Eine Minderung des Hörvermögens konnte im Verlauf nicht festgestellt werden.

Zunächst stand die Volumen- und Flüssigkeitssubstitution im Sinne der Schockbehandlung im Vordergrund. Eine einmalig aufgetretene Tachyarrhythmia absoluta konvertierte spontan nach Kalium- und Volumensubstitution in einen stabilen Sinusrhythmus. Der Verlauf gestaltete sich bei stabilen Kreislaufverhältnissen, guter Lungenfunktion und adaptierter Schmerztherapie unauffällig, so dass frühzeitig damit begonnen wurde die Patientin zu mobilisieren.

Im Verlauf wurden regelmäßig augenärztliche Kontrolluntersuchungen durchgeführt. Zum Zeitpunkt der Verlegung von der Intensivstation (07.01.2011) war das Sehvermögen auf beiden Augen eingeschränkt. Die erforderlichen Verbandwechsel konnten mit s.c./oral anzuwendenden Analgetika durchgeführt werden.

Plastisch-chirurgische Versorgung der Brandverletzungen

Nach Stabilisierung des Allgemeinzustandes und sicherer Demarkierung der z.T. nachgebrannten tief 2°- bis 3°-Brandverletzungen von 14 % der Körperoberfläche wurde die tangentiale Nekrektomie und Spalthautdeckung 3 Wochen nach Verletzung durchgeführt. Nach weiteren 19 Tagen mussten kleinere Restdefekte mit Spalthaut gedeckt werden. Während der operativen Behandlungsphase wurden insgesamt 4 Erythrozytenkonzentrate und 2 Fresh-Frozen-Plasmen verabreicht.

Verlauf auf peripherer Station

Die am Aufnahmetag begonnene Physiotherapie wurde nur temporär und lokal für die Einheilungszeit der Hauttransplantate unterbrochen. Frühzeitig erfolgte eine zusätzliche ergotherapeutische Übungsbehandlung. Nach stabiler Einheilung der Spalthauttransplantate wurden Kompressionsbandagen für die betroffenen Areale ausgemessen und angepasst. Die Unfallverletzte und ihre Angehörigen wurden bereits auf der Intensivbehandlungsstation seelsorgerisch betreut. Mit Alpträumen, vermehrter Schreckhaftigkeit und Angstzuständen traten bereits frühzeitig Zeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung auf. Zusätzlich zu der seelsorgerisch - psychologischen Gesprächstherapie erfolgte nach neurologisch-psychiatrischer Untersuchung und Empfehlung eine unterstützende Medikation mit Cipralex®. Die Patientin war durch die Augenverletzung im Sehvermögen deutlich eingeschränkt und bedurfte somit zusätzlicher Unterstützung.

Ambulante Nachbehandlung plastisch-chirurgisch

Nach 17 Tagen auf der Brandverletzten-Intensivstation und weiteren 49 Tagen auf der peripheren Station für Brandverletzte konnte die Patientin in die ambulante Nachbehandlung entlassen werden. Zur Verlaufskontrolle fanden bislang 5 Vorstellungen in der BV– Sprechstunde statt (Abb. 7 und 8).

Augenärztliche Nachbehandlung

Rechtsseitig verblieb durch den Explosionsunfall eine posttraumatische Linsentrübung (Katarakt) mit hinteren Synechien sowie eine Hornhautnarbe, der Visus vor der Linsenimplantation betrug rechts 0,16. Die Phacoemulsifikation mit Linsenimplantation erfolgte 5 Monate nach Verletzung, damit konnte ein Visus von 1,0 erreicht werden. Am linken Auge verblieb nach erlittener Contusio bulbi und Z.n. Fremdkörpereinsprengungen in Binde- und Hornhaut eine postraumatische Linsentrübung, der Visus betrug 0,4. 6 Monate nach Trauma wurde eine Phacoemulsifikation mit Linsenimplantation durchgeführt. Damit konnte ein Visus von 0,5 erzielt werden.

Behandlungsergebnis

Das Tragen der Kompressionsbandagen konnte bereits 9 Monate nach Verletzung bei vollständiger Narbenausreifung schrittweise beendet werden. Das Narbenbild ist unter der Berücksichtigung von Ausdehnung und Tiefe der Brandverletzung als gut zu bezeichnen. Funktionelle unfallbedingte Einschränkungen der Extremitäten bestehen nicht. Die bei der ambulanten Nachuntersuchung geklagten Beschwerden im Extremitätenbereich sind auf das Narbenbild und den Verletzungsfolgezustand zurückzuführen (Abb. 9 und 10). Als wesentliche und dauerhafte Einschränkung ist eine Hornhautnarbe sowie ein Irisdefekt beidseits verblieben mit einer Visusminderung des linken Auges. Das Sehvermögen konnte durch eine beidseitige Linsenimplantation aber deutlich verbessert werden. Nach einer Frontzahnschädigung ist die zahnärztliche Behandlung noch nicht abgeschlossen, das ästhetische Ergebnis aber schon gut. Die Bewältigung des psychischen Traumas mit noch auftretenden Panikattacken ist noch nicht abgeschlossen. Hier bestehen offensichtlich Engpässe in der ambulanten psychotherapeutischen Trauma - Nachsorge. Die Patientin ist sich bewusst, eine lebensbedrohliche Verletzung überlebt zu haben und ist mit dem erzielten Ausheilungsbild sehr zufrieden (Abb. 11 und 12).

Fazit

Explosionsverletzungen bedürfen einer interdisziplinären Diagnostik und Therapie in einer geeigneten Einrichtung, üblicherweise in einem Traumazentrum. Auch bei Vorliegen einer Brandverletzung muss wie bei jedem anderen Polytrauma - Verdacht eine Schockraum - Diagnostik durchgeführt werden. Hierbei ist ein besonderes Augenmerk auf das Vorhandensein von (zentralen) Lungenkontusionen und Mittel- / Innenohrschädigungen zu legen, die als Folge der Druckwelle entstehen können. Daran schließt sich eine nach Dringlichkeit abgestufte Versorgung der Verletzungen in enger Absprache zwischen den beteiligten Fachabteilungen an.

In diesem Fall ist die erlittene Augenverletzung neben den Folgen der großflächigen Brandverletzung und der multiplen Weichteilverletzungen die das Behandlungsergebnis am meisten beeinträchtigende Verletzung. Ein geeigneter Augenschutz (Schutzbrille) hätte die Verletzungsfolgen sicherlich minimieren können, ist bei plötzlichen Unfällen im privaten zivilen Sektor aber nicht verfügbar. Umso bedeutsamer ist der Augenschutz im zivilen und militärischen Bereich bei bestehendem oder zu erwartendem Verletzungsrisiko.

Datum: 06.02.2012

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2011/4

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