26.05.2011 •

    JOHANNES SCULTETUS, DER ERSTE AKADEMISCH GEBILDETE CHIRURG IN DEUTSCHLAND

    Aus dem Haus der Stadtgeschichte - Stadtarchiv Ulm (Leitender Stadtarchivdirektor: Prof. Dr. M. Wettengel)

    von Michael Wettengel

    Zusammenfassung

    Johannes Scultetus, 1595 in Ulm unter dem Namen Schultheiß als Sohn eines Schiffmeisters geboren, wurde der erste akademisch gebildete Chirurg in Deutschland.

    Als Diener und Assistent des niederländischen Arztes Adrian van den Spieghel gelangte er 1616 nach Padua, wo Scultetus als Praeparator Anatomicus arbeitete und an der Universität Medizin studierte. 1623 wurde er mit dem Prädikat „summa cum laude“ zum Doktor der Philosophie, Medizin und Chirurgie promoviert und erhielt wenig später ein Angebot aus seiner Heimatstadt Ulm, wo er 1624 als Stadtarzt angestellt wurde. Für die damaligen Verhältnisse hatte Ulm ein sehr fortschrittliches und gutes medizinisches Versorgungssystem. Seit 1642 war er auch für die Abnahme des Examens für Bader undWundärzte zuständig. Wohl in diesem Zusammenhang begann er mit der Erarbeitung eines Lehrwerkes in lateinischer Sprache unter dem Titel „Armamentarium Chirurgicum“.

    Die Publikation seines Werkes sollte er jedoch nicht mehr erleben, da er bereits 1645 starb. Sein abgeschlossenes Buchmanuskript wurde von seinem Neffen Johannes, ebenfalls Stadtarzt und Scultetus der Jüngere genannt, 1655 in Ulm veröffentlicht. Das Buch fasst den chirurgischen Wissensstand seiner Zeit in hervorragender Weise zusammen und wurde in vielen Auflagen neu gedruckt. Es war das erste wissenschaftliche Lehrbuch der Chirurgie, das in enzyklopädisch- systematischer Form alle damals üblichen Operationsinstrumente und Operationsverfahren darstellte. 1666 wurde es in deutscher Sprache als „Wundarzneyisches Zeughaus“ veröffentlicht, weitere Übersetzungen des Standardwerks für Chirurgen folgten.

    Summary

    Johannes Scultetus, born 1595 in Ulm by the name of Schultheiß as son of a shipbuilder, would later become the first university-trained surgeon in Germany. As servant and assistant of the Dutch physician Adrian van den Spieghel, he came to Padua in 1616, where he studied medicine at the university. In 1623, he received his doctorate with a summa cum laude degree in philosophy, medicine and surgery. In the following year, he was appointed as town physician in his hometown Ulm. By the standards of the time, the Imperial city of Ulm had a very progressive and good medical system. Since 1642, Scultetus was also responsible for taking the exam for barbers and surgeons. Maybe in this context, he began to work on a textbook in Latin language under the title „Armamentarium Chirurgicum“. In 1645, Scultetus died before he could publish his already finished work. His nephew Johannes, called Scultetus the Younger, was also a physician and published the manuscript of his uncle 1655 in Ulm.

    The book excellently summarizes the surgical knowledge of his time and was reprinted in many editions. It was the first scientific textbook of surgery, which represented in a systematic and encyclopedic way all surgical instruments and techniques of the time. In 1666, it was published in German language under the title „Wundarzneyisches Zeughaus“. Further translations of this standard work for surgeons followed.

    Ulm um 1600

    Als Johannes Scultetus am 12. Oktober 1595 in Ulm geboren wurde, deutete nichts darauf hin, dass aus ihm einmal ein bedeutender Arzt werden sollte. Getauft wurde er unter dem Namen Johannes Schultheiß1 als erstes Kind des alteingesessenen Ulmer Schiffmeisters Michael Schultheiß und seiner Frau Margarete. Er entstammte damit der Schifferzunft, einem ehrbaren Handwerk, das jedoch Welten von den gelehrten Ärzten trennte. In der Gesellschaft der Frühen Neuzeit waren Standesunterschiede nicht so leicht zu überbrücken wie heute. Der Sohn eines Schiffmeisters wurde selbst ein Schiffer, der Zugang in die Gesellschaft der Gelehrten und Vornehmen war ihm verwehrt, und strenge Kleider- und Anredevorschriften machten diese Unterschiede schon äußerlich sichtbar.

    Seine Heimatstadt Ulm war zu seinen Lebzeiten eine Reichsstadt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, eines Konglomerats von kleineren und größeren Herrschaften und Staatsgebilden. Als Stadtstaat mit eigenem Territorium war die Reichsstadt Ulm nur dem Kaiser in Wien untertan. Ihre inneren Angelegenheiten und ihre Beziehungen zu anderen Staaten regelte sie weitgehend selbst. Mit rund 21 000 Einwohnern war Ulm eine der größeren Städte des Reiches, eine Handelsmetropole mit weit gespannten Verbindungen und vielfältigen Beziehungen, vor allem nach Oberitalien. Seine beste Zeit hatte Ulm zwar schon hinter sich, doch noch immer war die Stadt wohlhabend – „Ulmer Geld regiert die Welt“ – so hieß es damals etwas vollmundig. In den 1590er Jahren, zur Zeit von Scultetus‘ Geburt, wurden große Stadelgebäude für die Vorratshaltung errichtet, die noch heute in der Stadt zu sehen sind, so der „Neue Bau“ 1593, der Salzstadel 1592 und der Neubau des Kornhauses 1594. Als Tagungsort des Schwäbischen Reichskreises und Städtebankdirektor kam Ulm eine wichtige politische Rolle zu. Doch die Zeichen der Zeit standen auf Sturm. Sehr zum Missfallen des Kaisers war Ulm 1530 zu einer evangelischen Reichsstadt geworden. Gegen alle Versuche einer Rekatholisierung hatte sich die Stadt standhaft gewehrt. Im ganzen Reich verschärften sich um 1600 die konfessionellen Gegensätze und ließen für die Zukunft wenig Gutes erwarten.

    Schul-, Wander- und Studienjahre

    Johannes Schultheiß, der sich später latinisiert Scultetus nannte, profitierte als Bürgersohn von dem exzellenten Ulmer Bildungswesen, das weithin bekannt war. Er war offenbar ein begabter Schüler und genoss eine Schulbildung, wie sie Handwerkerkindern meist nicht zuteil wurde. Er besuchte die sechs Klassen der Ulmer Lateinschule, die später in ein Gymnasium umgewandelt wurde, lernte den Katechismus, Latein und Griechisch, seit der fünften Klasse noch Rhetorik und Logik. Im letzten Schuljahr nahm er an öffentlichen Deklamationen und Disputationen teil. Er hatte Cicero, Isokrates, Lucian und Vergil gelesen, kannte die Werke des Pythagoras, Hutters „Corpus doctrinae“ und die „Chrestomatie“ des Johann Sturm. Mit dieser schulischen Bildung hätte Scultetus jederzeit ein Studium an einer Universität beginnen können. Für seinen weiteren Lebensweg in einer unruhigen Zeit bildete sie sein wichtigstes Kapital.

    Im Jahr 1608 traf Scultetus und seine Geschwister ein schwerer Schicksalsschlag. Zunächst starb sein Vater und keine dreiWochen später seine Mutter. Die berufliche Zukunft des Dreizehnjährigen war damit offen. Seine Verwandten kümmerten sich wohl eher schlecht als recht um ihn und er musste Gelegenheitsarbeiten annehmen. Es waren vermutlich die Erzählungen der Donauschiffer von den Fahrten stromabwärts, die er seit frühester Jugend gehört hatte und ihn veranlassten, mit nach Regensburg und schließlich nachWien zu fahren, wo er in einem Gasthaus arbeitete. Scultetus hatte Glück. InWien lernte er zwischen 1614 und 1616 den niederländischen Arzt Adrian van den Spieghel kennen, der zu dieser Zeit am kaiserlichen Hof zur Behandlung von Kaiserin Maria weilte, der Gemahlin von Kaiser Matthias. Van den Spieghel nahm den gebildeten und aufgeweckten jungen Scultetus als Diener und Assistent nach Padua mit, wo er am 22. Dezember 1616 als Nachfolger von Julius Casserius zum Professor der Anatomie und Chirurgie ernannt wurde. Padua war zu dieser Zeit ein europäisches Zentrum der medizinischen Wissenschaften und eine der renommiertesten internationalen Ausbildungsstätten für angehende Ärzte (2). Wer an den medizinischen Fakultäten in Padua, Bologna, Montpellier oder Paris studiert hatte, galt als besonders qualifiziert. An den oberitalienischen Universitäten entstanden die Anfänge der modernen Medizin.

    Padua gehörte zu jenen innovativen Universitäten, wo Anatomie und Chirurgie gelehrt und Studenten auf praktischer Anschauung beruhende Kenntnisse des menschlichen Körpers vermittelt wurden. 1595 war in Padua ein anatomisches Theater für den Anatomieunterricht errichtet worden. So berühmte Wissenschaftler wie der Engländer William Harvey, der Entdecker des Blutkreislaufs, wurden hier ausgebildet.

    Der begabte Scultetus arbeitete als Praeparator Anatomicus für Van den Spieghel und studierte nebenbei selbst bei seinem Brotherrn und bei Girolamo Fabrizio, genannt Hieronymus Fabricius ab Aquapendente Medizin und Chirurgie. In dieser Zeit latinisierte er seinen Namen in Scultetus. 1619 wurde er offiziell in die Matrikel eingetragen und am 19. August 1623 mit dem Prädikat „summa cum laude“ zum Doktor der Philosophie, Medizin und Chirurgie promoviert (3). Danach praktizierte Scultetus als Arzt und Chirurg in Venedig, zu Beginn des 17. Jahrhunderts die bedeutendste Handelsmetropole am Mittelmeer und mit 140 000 Einwohnern eine Megacity der Frühen Neuzeit, deren Oberschicht ihren sagenhaften Reichtum grandios inszenierte. Für einen guten Arzt bestanden hier beste Verdienstmöglichkeiten.

    Bereits im Frühjahr 1623, also noch vor der Promotion von Scultetus, war man in Ulm auf ihn aufmerksam geworden. Die genauen Hintergründe sind unklar, doch sicherlich spielten die kriegerischen Zeiten eine wichtige Rolle. Der Hass zwischen den Konfessionen hatte im Jahr 1618 zum Ausbruch von kriegerischen Konflikten bislang unbekannten Ausmaßes geführt, die später als Dreißigjähriger Krieg bekannt wurden. Die Reichsstadt Ulm hatte sich gerade noch rechtzeitig mit einer großen Kraftanstrengung ein gewaltiges Verteidigungssystem nach modernsten Vorbildern geleistet. Eine vollständige Stadtumwallung mit zehn mächtigen Bastionen war errichtet worden. Die Fläche der Verteidigungsanlagen war ähnlich groß wie die der gesamten bewohnten Stadt. Erbaut wurden sie von einem der renommiertesten Festungsingenieure seiner Zeit, dem Niederländer Johan van Valckenburgh. Es lag daher sicherlich nahe, dass sich die Stadt angesichts der anhaltenden Kriegszeiten und der zu erwartenden Verwundeten auch des bestmöglichen chirurgischen Sachverstands versichern wollte. Dass Scultetus aus Ulm stammte, mag zusätzlich für ihn gesprochen haben (Abb).

    Photo
    Abb: Ansicht von Ulm, Merian 1643 (Quelle: Stadtarchiv Ulm)

    Stadtarzt in der Reichsstadt Ulm

    Am 28. Mai 1623 beschloss der Rat der Stadt, mit Scultetus wegen einer Anstellung als Stadtphysicus in Ulm in Verbindung zu treten. Es schlossen sich langwierige Verhandlungen an, in denen der Rat Auskünfte über ihn einholte und offenbar über das Salär diskutiert wurde. Weit über ein Jahr zog sich dies hin, bis der Rat der Stadt am 23. August 1624 schließlich zustimmte. Solche schwierigen Anstellungsverhandlungen waren damals nicht ungewöhnlich. Im vorliegenden Fall kamen sie für Ulm zu einem positiven Abschluss. Van den Spieghel war dabei persönlich als Unterhändler für seinen Schüler aufgetreten und hatte sehr günstige Konditionen erreichen können. Scultetus wurde ein nobles Salär von 300 Gulden im Jahr zugesprochen, dazu noch ein Reisegeld von 50 Gulden. Das entsprach in etwa dem Gehalt der Ratsjuristen. Scultetus war damit ein gut bezahlter Akademiker. Darüber hinaus durften Stadtärzte frei praktizieren, also innerhalb und außerhalb des Ulmer Landgebiets Krankenbesuche machen und diese in Rechnung stellen. Auch eine ganze Reihe weiterer stadtärztlicher Dienstleistungen, wie Inspektionen und Sektionen, durften verrechnet werden.

    Darüber hinaus waren Stadtärzte von allen Steuern befreit und genossen eine ganze Reihe von Vergünstigungen, so beispielsweise regelmäßige Zuwendungen von Naturalien, wie Holz, Getreide und Früchte, zu bestimmten Gelegenheiten auch Wein, und nicht zuletzt die Erstattung des Hauszinses durch die Stadt. Die Ulmer Stadtärzte waren damit kaum schlechter gestellt als Ärzte an Fürstenhöfen. Ein Beleg für die Anziehungskraft der Stadt Ulm war im Jahr 1622 die Berufung von Dr. Georg Horst, Professor für Medizin an der Universität Gießen, der die Stelle eines Ulmer Stadtarztes einem medizinischen Lehrstuhl an einer Universität vorzog. Die reichen Handelsstädte waren in der Lage, die besten Ärzte ihrer Zeit anzuwerben (4).

    Dafür mussten die Stadtärzte allerdings auch in Seuchenzeiten die Kranken in der Stadt versorgen, die Armen oft ohne Vergütung untersuchen, Apotheken und Badestuben inspizieren, Wundchirurgen, Bader, Barbiere und Hebammen überwachen sowie die Tätigkeit von Wanderärzten und Kurpfuschern in der Stadt unterbinden. Stadtärzte hatten Residenz- und Anwesenheitspflicht und mussten beim Rat um Erlaubnis nachsuchen, wenn sie über Nacht von Ulm abwesend sein wollten.

    Seit dem 16. Jahrhundert entwickelte sich aus einem ursprünglich wohl eher informellen Zusammenschluss der Ulmer Stadtärzte das Collegium Medicum, das die Aufgaben einer obersten Medizinal- und Gesundheitsbehörde der Reichsstadt wahrnahm. Das Collegium Medicum war für die Ausbildung und Examinierung von Wundchirurgen, Badern, Barbieren und Hebammen in der Stadt ebenso zuständig wie für die Leichenschau und Obduktionen, besonders in Kriminalfällen. Es war Beschwerdeinstanz für den gesamten medizinischen Bereich, Visitationsbehörde für die Apotheken, sorgte für die medizinische Aufklärung der Bevölkerung und erstellte Gutachten und Vorlagen für den Rat der Stadt zu Fragen des Medizinalwesens und der Gesundheitsfürsorge. Die Reichsstadt Ulm gehörte damit in medizinischer und gesundheitspolitischer Hinsicht zu den besonders fortschrittlichen und gut organisierten Städten. So wurde beispielsweise in Regensburg erst knapp hundert Jahre später eine ähnliche Medizinalorganisation wie in Ulm eingerichtet. Die Ulmer Ärzte blieben die gesamte reichsstädtische Zeit hindurch gegenüber dem medizinischen Fortschritt und neuen Erfolg versprechenden Behandlungsmethoden aufgeschlossen.

    Mit der Institutionalisierung des Collegium Medicum, das zu Scultetus‘ Zeiten fünf bis sieben Personen umfasste, war eine Hierarchisierung und Formalisierung verbunden. Es entstand ein förmlicher cursus honorum, der vom einfachen Stadtphysicus bis zum Senior oder Dekan, dem Vorsitzenden des Collegiums, führte. Nicht jeder Stadtarzt wurde sofort aufgenommen. Voraussetzung für eine Aufnahme in das Collegium war ein medizinisches Studium an einer Universität, der Titel eines Doktors oder eines Medicinae Licentiatus und eine strenge Prüfung durch das Collegium Medicum. Diese konnte auch negativ ausfallen, so gelangte im Jahr 1613 die Prüfung eines Dr. Sebastian Strohmeyer zum Ergebnis, dass dessen Kenntnisse „gar schwach [seien], u[nd es] seye zu bewundern, daß ihme der Titel eines Doctoris Medicinae ertheilt worden.“( 5) Es war daher sicherlich eine besondere Auszeichnung, dass Scultetus schon zwei Monate nach seiner Ankunft in Ulm, im April 1625, ohne weitere Prüfung in das Collegium aufgenommen wurde (6).

    Allerdings ging es unter den Ulmer Stadtärzten keineswegs immer harmonisch zu, wie man dies von einer kleinen Gruppe von Akademikern eigentlich hätte erwarten können. In einer Dissertation heißt es dazu, „das Verhältnis der Mitglieder des Collegium Medicum untereinander war oft erfüllt von Streit, Neid und Missgunst. Oft waren es unbedeutende Angelegenheiten, die einen regen Schriftverkehr nach sich zogen, Klageschriften wurden eingereicht, Gutachten erstellt, Ratskonsulenten und Stadtammann mussten Stellung nehmen, schließlich wurde durch ein Ratsdekret die Angelegenheit beendet“(7). Nicht selten wurde der Rat der Stadt mit den Streitigkeiten der Stadtärzte behelligt, und es gab sogar Zerwürfnisse zwischen Ehefrauen von Ärzten, die auf diese Weise aktenkundig wurden.

    Für unsere Zusammenhänge wichtig ist die Tatsache, dass die Verhältnisse im Kollegenkreis für Scultetus nicht einfach waren, als er nach einer von ihm für die Regelung seines Umzugs erbetenen Frist im Frühjahr 1625 in Ulm ankam. Gerade die Tatsache, dass er aus Ulm stammte und dort bekannt war, brachte ihm nicht nur Vorteile. So dürfte ihm seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen in den vornehmen Gelehrtenkreisen, in denen er nun verkehrte, negativ angerechnet worden sein (8). Dennoch gelang Scultetus erstaunlich schnell der soziale Aufstieg: Schon 1628 erwarb er ein Wohnhaus in bester Lage an der Frauenstraße, außerdem noch einen Garten an der Blau (9). 1636 heiratete er schließlich die 20 Jahre jüngere Maria Villinger, Tochter des Mohrenapothekers, die einer ebenso angesehenen wie reichen Familie entstammte.

    Beide Kinder des Ehepaares starben jedoch schon im Kleinkindalter, nachdem auch die ärztliche Kunst von Scultetus sie nicht hatte retten können. Das Ehepaar Scultetus blieb somit ohne Nachkommen. Scultetus kümmerte sich um den Sohn seines Bruders Martin, der als Flößer in Ulm tätig gewesen und bereits 1635 verstorben war. Der 1621 geborene und wie sein Onkel auf den Namen Johannes getaufte Junge durfte das Ulmer Gymnasium besuchen. Er erhielt noch von Scultetus Unterricht in Chirurgie und ging später zum Studium der Philosophie und Medizin nach Straßburg und Padua. Später Johannes Scultetus der Jüngere genannt, trat er als herzoglich württembergischer Medicus und schließlich 1653 als Stadtphysicus in Ulm in die Fußstapfen seines Onkels.

    Chirurgie im 17. Jahrhundert

    So wie er manchen privaten Kummer erdulden musste, so hatte Scultetus auch in seinem Beruf nicht immer Freude. Vor allem war es für ihn schwer hinzunehmen, dass die Ulmer Medizinalordnung den Stadtärzten ebenso wie den frei praktizierenden Ärzten untersagte, Patienten chirurgisch zu behandeln. Vielmehr waren dafür stets die zunftmäßig organisierten und handwerklich geschulten Bader und Wundärzte zuständig. Der mittelalterlichen Tradition folgend galt in Ulm die Chirurgie noch immer als untergeordnete handwerkliche Tätigkeit, die mit blutigen Eingriffen zu tun hatte, weshalb sich Gelehrte nicht damit abgeben sollten. Nur in schwierigen Fällen oder auf ausdrücklichen Wunsch der Patienten konnten die Wundärzte einen gelehrten Arzt hinzuziehen. Die Stadtärzte waren daher in der Regel Zweitbehandelnde, und dies meist von Fällen, die von den Wundärzten und Badern mit zweifelhaften Mitteln kuriert oder gar regelrecht verpfuscht worden waren.

    Oft waren die Behandlungsmethoden der Bader und Wundärzte für die Patienten gefährlicher als die Verletzungen, die damit geheilt werden sollten. Der Stadtarzt Dr. Amadeus Megerlin, Herausgeber von Scultetus‘ „Wundarzneyisches Zeughaus“ schilderte dies auf drastische Weise: „Wem wolte nicht zu Hertzen gehen, wann man so vilfältig hören und erfahren, ja etwan auch selber sehen muß, wie manch armer Patient von denen Dorff-Badern, Marckschreyern und andern verwegenen Stümplern […] so elend tractiret und erbärmlich zugerichtet, ja etwan wol gar um Leib und Leben, freventlicher Weise, gebracht wird; wie man dann deren Exempel, leider, nur mehr als zu vil hat“(10).

    In Italien war Scultetus mit einer empirisch forschenden chirurgischen Wissenschaft im Sinne einer Verbindung von Theorie und Praxis vertraut gemacht worden, sodass ihm die Ulmer Verhältnisse rückständig vorgekommen sein müssen. Es sollte noch mehr als hundert Jahre dauern, bis die wissenschaftliche Chirurgie auch in Deutschland die Bader, Feldscherer und Barbiere verdrängen konnte.

    Scultetus forderte von den Wundchirurgen, dass sie sich des Rates der akademisch gebildeten Chirurgen in allen schwierigen Fragen versichern und nicht ohne Sachverstand die Patienten behandeln sollten. Wiederholt schilderte er in seinem Buch falsche Behandlungsmethoden von Pfuschern und stümperhaften Wundchirurgen sowie deren fatale Folgen, wobei er nicht an heftiger Kritik sparte. So sei im September 1637 eine gewisse Maria Lutz von bayerischen Soldaten „sehr übel tractiret und geschlagen“ worden. Mit Schwellungen und Blutergüssen am Kopf wurde sie von „einem ungeschickt- und unerfahnen Bader“, einem „Empyricus und Simpler“ so schlecht behandelt, dass sie „jämmerlich gequälet wurde, und das daher, weil dieser ungeschickte Tropf gleich Anfangs solche Artzeneyen übergelegt, und wider die Geschwulst gebrauchet, welche die Eitterung befürderen und zeittigen“ (11).

    Wenn dann Scultetus zu einem fehlbehandelten Patienten gerufen wurde und diesen dennoch heilen konnte, musste er feststellen, dass seine chirurgischen Leistungen in der Medizinalordnung nicht vorgesehen waren. Er weigerte sich jedoch, seine Leistungen nach denselben Ansätzen wie handwerkliche Wundchirurgen abzurechnen, sondern verlangte eine für einen gelehrten Chirurgen angemessene Honorierung. Scultetus geriet dadurch immer wieder in Konflikt mit dem Rat der Stadt, der ihm überhöhte Honorarforderungen vorwarf (12). Davon ließ sich Scultetus jedoch nicht einschüchtern. Er wich nicht von seiner Linie ab und widerstand immer wieder Vorstellungen des Rates. Scultetus war offensichtlich ein temperamentvoller, unbequemer und hartnäckiger Charakter. Nicht umsonst forderte ihn ein Gedicht bei seiner Hochzeit auf, als Ehemann „sanft und gütig“ zu sein (13).

    Kriegschirurgie im Dreißigjährigen Krieg

    Als Stadtphysicus und Chirurg im Dreißigjährigen Krieg hatte Scultetus alle Hände voll zu tun. Nach der Niederlage der verbündeten protestantischen Armeen in der Schlacht bei Nördlingen 1634 war Ulm unmittelbar von den Kampfhandlungen betroffen. Rund 16 000 Flüchtlinge aus dem Umland und auch verwundete Soldaten suchten Schutz in der Stadt, die von kaiserlichen Truppen belagert wurde. Selbst die riesigen Kornspeicher in Ulm reichten nicht mehr aus, um alle Menschen ausreichend zu ernähren, und zu allem Überfluss brach auch noch die Pest aus, der Tausende zum Opfer fielen. Dennoch hielt die Stadt feindlichen Belagerungen stand und der Prager Frieden von 1635 brachte für einige Zeit Entspannung, aber ein Ende des Krieges folgte daraus noch nicht. Nun griff Frankreich mit Macht in das Kriegsgeschehen ein, das noch 13 Jahre andauern sollte und die Stadt Ulm immer wieder bedrohte. Dank ihrer Befestigungsanlagen und der klugen Diplomatie des Rates blieb die Reichsstadt trotz Seuchengefahren ein Hort der relativen Sicherheit inmitten von Chaos und Kriegsverheerungen.

    Die Kriegschirurgie bildete ein prägendes Tätigkeitsfeld von Scultetus, und Beispiele von Verletzungen und Verwundungen aus kriegerischen Zusammenhängen finden sich häufig in seinem Buch. Den Krieg selbst verurteilte er in sehr eindeutiger Weise. Scultetus bezeichnete ihn 1645 als den „leydigsten Grund-verderblichen Teutschen Krieg“, „in welchem zu beeden Theilen, gantze Bäche voll theuren und dapfferen Blutes vergossen, und dannenhero viel frommen Hertzen, zu bitter- und heissen Thränen hohe- und mehr dann gnugsame Ursach ge[b]en worden“(14). Ungewöhnlich ist, dass hier nicht nur Humanität und christliches Mitleid, sondern auch Patriotismus anklingt. Scultetus scheint die Tatsache, dass Deutsche gegen Deutsche kämpften, für besonders verwerflich gehalten zu haben.

    „Armamentarium Chirurgicum“ – ein Kompendium der Chirurgie

    Inzwischen war Scultetus in der Rangfolge des Collegium Medicum weit aufgerückt. Seit 1642 war er gemeinsam mit dem Dekan, Dr. Augustin Thonner, für die Abnahme des Examens für Bader und Wundärzte zuständig (15). Dabei hat sich Scultetus nochmals eingehend mit dem Ausbildungsstand und den theoretischen Kenntnissen der angehenden Wundärzte befasst. Vermutlich reifte in diesem Zusammenhang sein Entschluss, ein Lehrwerk zu verfassen, das in lateinischer Sprache unter dem Titel „Armamentarium Chirurgicum“, also „chirurgische Waffenkammer“ abgefasst wurde.

    Das Buch richtete sich an akademisch gebildete Ärzte, vornehmlich wohl gerade an solche, die selbst mit der Ausbildung oder Examinierung von Wundärzten befasst waren. Es diente darüber hinaus Medizinstudenten für das Studium, aber auch für die Praxis der Chirurgie. Sicherlich wandte sich Scultetus nicht an Bader oder andere handwerkliche Wundärzte; hier sorgte schon die lateinische Sprache für eine Abgrenzung. Ihm ging es vielmehr darum, den Beruf des Chirurgen als wissenschaftliche Profession zu qualifizieren. Die Publikation seines Werkes sollte er jedoch nicht mehr erleben. Als Scultetus zu einem Krankenbesuch am herzoglichen Hof in Stuttgart weilte, erlitt er am 1. Dezember 1645 einen Schlaganfall und starb. Unter großer öffentlicher Anteilnahme wurde er in Ulm bestattet.

    Sein abgeschlossenes Buchmanuskript hinterließ er seinem Neffen Johannes, der nach seiner Bestallung zum Stadtphysicus die erste Auflage des „Armamentarium Chirurgicum“ seines Onkels 1655 bei dem Drucker Balthasar Kühn in Ulm veröffentlichte.

    Das Buch enthält mehr als 40 großformatige, repräsentative Tafeln, auf denen insbesondere Zeichnungen von chirurgischen Instrumenten abgebildet sind. Der Band umfasst zwei Teile, dessen ersterer zunächst einen Überblick gibt über die damals gebräuchlichen chirurgischen Instrumente, Apparate und Verbände und deren Anwendungsgebiete. Es folgen systematische Beschreibungen chirurgischer Behandlungsmethoden am menschlichen Körper, angefangen vom Kopf bis hinunter zu den Füßen, die ebenfalls durch Zeichnungen anschaulich dargestellt werden. Im zweiten Teil folgen hundert praktische Fallbeispiele von Behandlungen, sogenannte „Observationes“, die fast durchweg aus der chirurgischen Praxis von Scultetus stammten. Bemerkenswert ist dabei, dass Scultetus auch seine eigenen Misserfolge bei der Behandlung von Patienten nicht verschwiegen hat. Das Buch fasste den chirurgischenWissensstand seiner Zeit in hervorragender Weise zusammen. Scultetus‘ Operationsbeschreibungen waren so exakt, dass sie gut nachvollzogen werden konnten. Es war das erste wissenschaftliche Lehrbuch der Chirurgie, das in enzyklopädisch- systematischer Form alle damals üblichen Operationsinstrumente und Operationsverfahren darstellte.

    Das Buch wurde in vielen Auflagen neu gedruckt; schon bald nach der Erstauflage erschienen in Den Haag und Venedig Nachdrucke. Bereits Scultetus der Jüngere begann mit einer Übersetzung des Werkes in die deutsche Sprache, um es in Kreisen der nichtakademischen Kriegs- und Wundchirurgen bekannt zu machen und damit für eine weite Verbreitung zu sorgen. Auch er erlebte die Veröffentlichung nicht mehr. Schon 1663 starb Scultetus der Jüngere mit nur 42 Jahren am Fleckfieber, das er sich während einer Epidemie in Ulm zugezogen hatte. Sein Freund und Kollege Amadeus Megerlin, Arzt in Heidenheim, brachte die Übersetzung zu Ende und veröffentlichte das „Wundarzneyische Zeughaus“ 1666 in Frankfurt. Über Generationen hinweg blieb es das Standardwerk für Chirurgen und wurde ins Niederländische, Englische und Französische übersetzt.

    Von Scultetus selbst ist kein Porträt erhalten, noch nicht einmal eine Beschreibung seines Äußeren. Hätte nicht sein Werk überdauert, so wüssten wir heute kaum noch etwas von einer bedeutenden Persönlichkeit der frühen chirurgischen Wissenschaft, dem ersten akademisch gebildeten Chirurgen in Deutschland, der hier in Ulm gelebt und gewirkt hat. Für eine medizinische Einrichtung in Ulm gibt es kaum eine passendere und ehrenvollere Benennung als die nach Johannes Scultetus.

    Literatur:

    1. Vortrag anlässlich der Einweihung des Scultetus-Forums im Bundeswehrkrankenhaus Ulm am 18. September 2010.
    2. Vollmar J: Einleitung, in: Johannes Scultetusund sein Werk, Biographie und Glossar. Beiheft zu Johannes Scultetus: Wundartzneyisches Zeug-Hauss. Faksimile- Nachdruck der Ausgabe von 1666. Hrsg. von der Firma L. Merckle KG, Blaubeuren, in Verbindung mit dem Stadtarchiv Ulm (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm, Bd. 14), Stuttgart 1974; 7. 
    3. Seiz A: Johannes Scultetus und sein Werk, in: Johannes Scultetus und sein Werk, Biographie und Glossar, Beiheft zu Johannes Scultetus: Wund-artzneyisches Zeug- Hauss. Faksimile-Nachdruck der Ausgabe von 1666 (wie Anm. 2); 14. Zu Scultetus‘ Leben und Werk vgl. Staas C: „Mit meinem gar bequemen Säglein“: Die Aufzeichnungen des Ulmer Stadtarztes Johannes Scultetus gewähren faszinierende Einblicke in die chirurgische Alltagspraxis des frühen 17. Jahrhunderts. in: Die Geburt der modernen Medizin : Wie Europas Heilkunst ein neues Bild vom Menschen entwarf. Hamburg 2008; 56- 60; Specker HE: Unfallchirurgie aus historischer Sicht am Beispiel des Johannes Scultetus. in: Hierholzer G. (Hrsg.): Unfallchirurgie. Aufgabenstellung in der Chirurgie. Berlin 1988; 9-20; Wiegandt O: Der Ulmer Stadtarzt Scultetus. in: Blätter für württembergische Familienkunde, 1940; 8 (5): 58-62; Seiz A: Ein bedeutender Ulmer Stadtphysikus: Johannes Scultetus d. Ä. und sein „Armamentarium Chirurgicum“. in: Ulmer Forum H. 31, Herbst 1974; 4-9; Jörg Vollmar J, Seiz-Hauser A: Scultetus und Ulm (Scultetus-Gesellschaft e.V. Ulm). Ulm 1975; Gurlt E: Johannes Scultetus. in: Allgemeine Deutsche Biographie, 1891; 33: 499. http://de.wikipedia. org/wiki/Johannes_Scultetus_(Arzt).
    4. Klemm H: Die rechtliche und sociale Stellung der Ärzte in der Reichsstadt Ulm. in: Ulm und Oberschwaben 1929; 26: 3-23.
    5. StadtA Ulm Ratsprotokolle 1613, Nr. 63 fol. 310b; Grob A: Das Collegium Medicum zu Ulm, Diss. med. Ulm 2007; 70.
    6. Vgl. Seiz A: Johannes Scultetus und sein Werk (wie Anm. 3), 15f.; Grob A: Das Collegium Medicum zu Ulm (wie Anm. 5), 43.
    7. Grob A:Das Collegium Medicum zu Ul (wie Anm. 4), 55.
    8. Vgl. Specker HE: Unfallchirurgie aus historischer Sicht (wie Anm. 3), 11.
    9. Seiz A: Johannes Scultetus und sein Werk (wie Anm. 3), 21.
    10. Megerlin A: Vorrede An den Kunst-liebenden Leser, in: Johannes Scultetus: Wundartzneyisches Zeug-Hauss (wie Anm. 2), Teil 1, 1-2, hier S. 2.
    11. Johannes Scultetus: Wund-artzneyisches Zeug-Hauss (wie Anm. 2), Teil 2, 48.
    12. Vgl. Specker HE: Notfallchirurgie aus historischer Sicht (wie Anm. 3), 11; Seiz A: Johannes Scultetus und sein Werk (wie Anm. 3), 18 f.
    13. Seiz A: Johannes Scultetus und sein Werk (wie Anm. 3), 22.
    14. Johannes Scultetus: Wund-artzneyisches Zeug-Hauss (wie Anm. 2), Teil 2, 26f.
    15. Vgl. StadtA Ulm Ratsprotokolle 1642, Oktober 3, fol. 392; Seiz A: Johannes Scultetus und sein Werk (wie Anm. 3)

    Weitere Literatur beim Verfasser erhältlich.

    Nach einem Vortrag, gehalten am 2010 anlässlich der Gründung der Scultetus-Akademie am Bundeswehrkrankenhaus ULM.

    Datum: 26.05.2011

    Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2011/2-3

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