01.12.2010 •

FRIEDE IN AFGHANISTAN: „WIR SIND OFT BESCHOSSEN WORDEN!“

Persönliche Eindrücke eines Sanitätsfeldwebels aus Baden-Württemberg

Ulm/Kunduz. Karsamstag im Feldlager Kunduz. Es ist halbacht Uhr morgens. Ich arbeite mit meinem Kompaniefeldwebel vor einem Kühlcontainer. Ein Kühlcontainer, in dem drei Zinksärge lagern. Drei gefallene Fallschirmjäger aus Seedorf sind im Laufe der Nacht von meinem Kompaniefeldwebel eingesargt worden. Ich spanne vor dem Container eine Plane als Sonnensegel.

Darunter stelle ich drei Staffeleien mit den Bildern der am Karfreitag gefallenen Kameraden auf. Davor stelle ich noch jeweils einen Kranz. Es kommt noch ein Tisch hinzu, auf dem drei Kondolenzbücher ihren Platz finden. Darin können sich die trauernden Kameraden ab zehn Uhr eintragen. Mit Fackeln sorge ich für die Nacht vor.

Ein eiskalter Schauer läuft mir über den Rücken. Ich fühle Stolz und Ehre, dass ich es bin, der als Erster von den toten Kameraden Abschied nehmen und ihnen ein schönes letztes Geleit, einen würdigen Abschied bereiten kann. Gestern hatte ich noch am Hubschrauberlandeplatz beim Ausladen und Weitertransport der Verwundeten und Toten geholfen. Amerikanischen „Blackhawks“ brachten unsere Kameraden herein. Sie mussten mehrmals fliegen, um alle Opfer des Gefechts in Isa-Khel unter Feindfeuer aufzunehmen und bei uns abzuliefern. Sie machten einen großartigen Job. Die Besatzungen der zwei Sanitätshelikopter und der Sicherungsmaschine verkürzten mit ihrem mutigen Einsatz die Zeit für die Verletzten bis zur Behandlung in unserem Rettungszentrum.

Als Rettungstrupp mit der Infanterie im Einsatz 

Ich denke an Markus, meinen Kameraden aus Ulm. Er war Rettungsassistent in meinem Rettungstrupp. Er wurde in die Heimat ausgeflogen. Gemeinsam hatten wir uns seit August letzten Jahres vorbereitet. Zusammen mit unserem Kraftfahrer Steffen vom Lazarettregiment 41 aus Horb waren wir nach Abschluss der einsatzvorbereitenden Ausbildung mit der Infanterie im Dezember ein eingespieltes Team. Am Aschermittwoch, dem 17. Februar, hatte ich den durch Granatsplitter verletzten Markus selbst an der Notaufnahme unseres Rettungszentrums im Feldlager Kunduz abgeliefert. Auch wir waren in einem Vorort von Isa-Khel mit der 2. Infanteriekompanie des Wiederaufbauteams Kunduz unterwegs gewesen. Gegen Mittag haben Markus und ich unser geschütztes Sanitätsfahrzeug Yak verlassen. Es verblieb mit Steffen am gesicherten Abstellplatz für die Fahrzeuge in der Nähe der Ortschaft. Ausgerüstet mit schusssicherer Weste, Gefechtshelm, Gewehr G36 und Rettungsrucksack begleiteten ich und Markus sowie ein zusätzlicher zweiköpfiger Rettungstrupp die Infanteristen zu Fuß. Wir marschierten in einem Graben die etwa 1000 Meter zur Kontaktaufnahme mit dem Bürgermeister ins Dorf. Zwei Schützenpanzer Marder folgten uns. Bei nasskalter Witterung und 20 Zentimeter Schnee wurde uns mit unseren rund 130 Kilo Kampfgewicht schnell warm. Die Szenerie war friedlich. Kinder holten mit Kanistern Wasser. Einige ältere Leute befanden sich im Freien. Der Bürgermeister war zum Gebet in der Moschee. Wir warteten zwei Stunden. Dann konnte sich der Chef der Infanteriekompanie endlich eine halbe Stunde mit dem afghanischen Ortsvorsteher unterhalten. Der sagte ihm klipp und klar, dass er jetzt wieder Ärger mit den Taliban bekommen würde, weil er sich mit den deutschen Soldaten unterhalten habe. Seit 2006 ist uns bekannt, dass die Taliban in Isa-Khel vertreten sind. Sie bedrohen die Bevölkerung und schüchtern sie mit Gewalttaten ein. Nach dem Gespräch verschwand der Bürgermeister in seinem Hof.

Unter Beschuss 

Wir machten uns gegen halbdrei auf den Rückweg zu den Fahrzeugen. Wir waren noch keine fünf Schritte gegangen als plötzlich eine Panzerfaustgranate (Rocket Propelled Grenade = RPG) in der Luft explodierte. Maschinengewehrfeuer und Schüsse aus Handwaffen waren zu hören. Die beiden sichernden Schützenpanzer eröffneten sofort das Feuer mit ihren Bordmaschinenkanonen. Wir suchten im nächsten matschigen Graben Deckung. Da die Infanterie mit ihren Waffen nicht ausreichend wirken konnte, entschied sich der Kompaniechef zum Verlassen der Ortschaft. Gedeckt bewegten wir uns im Graben zurück. Plötzlich ein Knall. Die dritte RPG schlug drei Meter vor mir an der Böschung in der Nähe von Markus ein. Eine warme Druckwelle warf ihn und die vor mir befindlichen zwei Rettungsassistenten nach hinten um. Ich schmiss mich hin und peilte die Lage. "Meine Hand, meine Hand!", schrie Markus als er auf dem Rücken im Graben lag. Er war dann aber recht ruhig. Ich arbeitete mich zu seinem Kopf vor. Ich untersuchte seinen Kopf und seine Brust auf Verletzungen. Die anderen Zwei kümmerten sich um Arme und Beine. Er hatte drei Splitterverletzungen: An der rechten Hand, am linken und am rechten Unterarm. Wir haben die Verletzungen dann mit Verbänden innerhalb von Sekunden versorgt. Schon rief ein Infanterist: "Da kommt die Nächste". Ich warf mich nach vorne über Markus, um ihn Deckung zu geben. Wir meldeten dem Chef, dass wir einen Verwundeten hätten. Er ließ einen Yak ins Dorf nachziehen.

Mit Vollgas zur Rettungsstation

Wir schnappten Markus. Er war noch gehfähig. Wir hetzten mit ihm zu unserem Fahrzeug. Ich legte ihn innen auf die Trage. Die Anderen schlossen von außen die Türen. Steffen fuhr nun unter schwierigsten Bedingungen mit einem Affenzahn rückwärts aus der Ortschaft heraus. An der Verwundetensammelstelle meldete ich dem Beweglichen Arzttrupp die Art der Verletzung und die bereits getroffenen Maßnahmen. Obwohl die Verletzungen keinen sofortigen Abtransport nötig machten, entschied der Einsatzoffizier der Infanteriekompanie, dass wir unter dem Schutz zweier Allschutzfahrzeuge Dingo ins Feldlager fahren sollten. Mit 82 km/h rasten wir dahin. Während der Fahrt legte ich Markus einen Zugang. Ich verabreichte ihm aufgrund großen Schmerzen in seiner verletzten Hand ein Schmerzmedikament. Er schlief ein. Angekommen im Feldlager übergab ich meinen verwundeten Kameraden an das Personal unserer Rettungsstation. Den aufnehmenden Arzt im Schockraum kannte ich von gemeinsamen Rettungsdiensteinsätzen in Ulm. Die hatten gar nicht mitgekriegt, dass der gemeldete Verletzte ein Sanitäter war. Als sie merkten, dass es einer von uns war, herrschte zunächst Totenstille. Nach der Aufnahme brachte ich noch die Ausrüstung von Markus aus dem Fahrzeug nach drinnen. Dabei stellte ich fest, dass ein weiterer Granatsplitter von oben in seinen Gefechtshelm eingedrungen war. Er hätte ihm wohl das Leben gekostet, wenn ihn sein Helm nicht so gut geschützt hätte.

Zurück zu unserer Infanteriekompanie 

Steffen und ich machten unser Fahrzeug wieder einsatzbereit. Wir meldeten uns bei unserem Einsatzoffizier, der meinen Trupp nicht wieder nach draußen schicken wollte. Er ließ Steffen vor die Tür warten und fragte mich, ob ich in der Lage wäre weiter zumachen. Ich sagte ihm nur: "Dafür bin ich trainiert. Lass mich raus. Die brauchen mich. In zwei Tagen sind wir wieder herinnen. Dann sehen wir weiter." Er ließ mich gehen. Bei unserer Betreuungseinrichtung nahm ich sechs Coladosen mit. Jeweils drei wanderten als Dank zu den Kameraden in die Dingos. Gemeinsam machten wir uns wieder auf den Rückweg zu unserer 2. Infanteriekompanie. Seit diesem Moment waren Steffen und ich der "Rettungstrupp, leicht" von Kunduz.

Kameradschaft und Liebe

Wir konnten uns von Markus noch persönlich verabschieden, bevor er nach Deutschland ausgeflogen wurde. Merkwürdig, er wollte gar nicht gehen. Er hatte das Gefühl, dass er uns im Stich lassen würde. Ich machte ihm deutlich, dass das nicht der Fall wäre und er sich jetzt erst einmal um sich selbst und seine Frau kümmern sollte. Steffen und ich waren damit nur noch zu zweit. Wir machten nun nahezu alles zusammen. Wir waren einfach ein geniales Team. Heute denke ich, wir haben Dusel gehabt, dass wir heil rausgekommen sind - auch wenn Verwundung und Tod zur Uniform gehören. Gegenüber den Afghanen habe ich keine negativen Gefühle. Dachte ich mir nach dem ersten Beschuss noch, "wenn ich jetzt einen vor die Flinte kriege, dann ist er weg", sah ich es sehr schnell gelassener. Was soll ein normaler Bauer denn machen, wenn seine Familie von den Taliban bedroht und ihm als Zwangsrekrutiertem eine Kalaschnikow in die Hand gedrückt wird, die er auf deutsche Soldaten abfeuern soll? Eines ist aber auch klar: "Wer auf mich schießt, muss damit rechnen, dass ich zurückschieße!" Ich freue mich auf den Rückflug in ein paar Tagen. Ich freue mich auf meine Eltern, meine zwei Schwestern und meinen Bruder. Ganz besonders freue ich mich auf meine Freundin Kathrin. Hat es doch erst an Silvester zwischen uns richtig gefunkt. "Du kommst zurück", hat sie mir gesagt. Ich werde sie in die Arme schließen und mit ihr unsere Verlobung gleich nach dem Einsatz feiern. Die Trauerfeier in Kunduz für die am Karfreitag in Isa-Khel gefallenen Kameraden ist vorbei. Ich lasse es mir jedoch nicht nehmen, in der Nacht auf Ostersonntag die abgebrannten Fackeln vor dem Kühlcontainer zu wechseln.

Oberfeldwebel Jan Friede

Der 27-jährige, gebürtige Esslinger ist seit Oktober 2005 beim Sanitätszentrum Ulm und war von Januar bis April diesen Jahres freiwillig als Rettungstruppführer in Kunduz im Einsatz. Seinen ersten Afghanistaneinsatz absolvierte er als Rettungsassistent auf einem "Beweglichen Arzttrupp" in Mazar-e-Sharif von November 2007 bis Januar 2008. Er ist seit 2001 Soldat und seit 2008 Berufssoldat. In Münster hat er sich zum "Organisatorischen Leiter Rettungsdienst" zivil weiterbilden lassen. Er ist zur Zeit im dritten Semester eines Fernstudiums zum "Rettungsdienstmanager". Im Sommer plant er mit Onkel und Cousine eine Bergtour auf den Kilimandscharo.

Datum: 01.12.2010

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2010/3

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